Es passiert gerade etwas Merkwürdiges in den deutschen Medien. Während Virologen und Epidemiologen noch das Mutationspotential des Coronavirus erforschen, haben es das Virus und der Journalismus Hand in Hand vollbracht, allein aufgrund der Suggestionskraft des ersteren und der Deutungsmacht des letzteren den juristisch-politischen Handlungsrahmen zu mutieren und an seiner Stelle eine mediale Parallelwirklichkeit aufzubauen.
In dieser Parallelwirklichkeit, die – treu nach Platons Höhlengleichnis – unweigerlich auch die Wahrnehmung des durchschnittlichen Medienkonsumenten geworden ist, gibt es eine politische Instanz, die für all die Umwälzungen des Alltags in Zeiten der Krise zentraler Akteur, Zuschreibungsobjekt und – bei Änderungswünschen – Sehnsuchtsort ist: „Die Bundesregierung“. Wann immer von Groß- oder Kleinmanövern der Politik in Sachen Seuchenbekämpfung die Rede ist, von getroffenen Entscheidungen, von neuen Vorschlägen, von Kurshalten oder Kursänderung: „Die Bundesregierung“ war oder ist am Zug. Gleich ob man den bisherigen, gegenwärtigen oder künftigen Einschränkungen mehr oder weniger zustimmt oder von ihnen mehr oder weniger entsetzt ist: Es ist „die Bundesregierung“, auf die Lob oder Kritik projiziert werden.
Man muß wahrlich kein Experte sein, um zu wissen, daß in der wirklichen Welt die Bundesregierung keinerlei Entscheidungen trifft über die gegenwärtigen pandemiebedingten Einschränkungen des Alltags- und Wirtschaftslebens. Schon in den Nebensätzen derselben Berichterstattung wird man manchmal aufgeklärt, daß die „Entscheidungen der Bundesregierung“ von den Landesregierungen „umgesetzt“ werden, wobei diese – so manche Berichte weiter – gewisse Spielräume hätten. Ausgehend von solchen Nachrichten kann man sich zumindest vorarbeiten zur Erkenntnis, daß nach gegenwärtiger Gesetzeslage die Bundesregierung keinerlei Befugnisse auf diesen Gebieten hat, vielmehr die „Stunde der Exekutive“ die Stunde der Regierungen der Länder ist (§ 32 IfSG). Dies mag für viele – insbesondere für Journalisten – kontraintuitiv sein, zumal wenn man Beispiele aus dem Ausland vor Augen hat (in Frankreich wurden ähnliche – allerdings ungleich härtere – Maßnahmen buchstäblich in der Ich-Form durch den Präsidenten verfügt). Wer es gewohnt ist, die deutschen Länder als so etwas wie nachgeordneten Verwaltungseinheiten zu sehen, wird von dieser Rechtslage mehr überrascht sein, als wer sie als die originären Staaten, die sie verfassungsrechtlich auch sind, wahrnimmt. Daß das einschlägige Gesetz – hier das Infektionsschutzgesetz – Bundesrecht ist, aber von der Landesexekutive angewandt wird (nicht nur im rein technischen Sinne ausgeführt, sondern auch politisch ausgefüllt wird), ist keine Besonderheit, sondern – schon seit der Bundesgründung 1866/1871 – ein Strukturmerkmal des deutschen Föderalismus. Als zu Beginn der Coronavirus-Krise das Infektionsschutzgesetz geändert wurde – durch das Gesetz zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite vom 27.03.2020 (BGBl. I S. 587) – stand die Idee zur Diskussion, für großräumige Exekutivmaßnahmen eine Zuständigkeit der Bundesregierung oder eines Bundesministeriums einzuführen. Dieser Vorschlag konnte sich nicht durchsetzen. Lediglich für bestimmte punktuelle Teilbereiche (wie grenzüberschreitender Verkehr und arbeits- und sozialrechtliche Abweichungsmöglichkeiten im Gesundheitsbereich) wurde eine Sonderermächtigung für das Bundesministerium für Gesundheit geschaffen (§ 5 Abs. 2 IfSG). Ob eine darüber hinausgehende Verlagerung von Kompetenzen auf den Bund für den hier interessierenden Bereich der allgemeinen Seuchenbekämpfung verfassungsrechtlich möglich und, bejahendenfalls, auch sachgerecht gewesen wäre, soll hier nicht Thema sein. Ebensowenig die Frage, warum bei dieser Gesetzesänderung nicht die materielle Reichweite der Eingriffsmöglichkeiten im Hinblick auf die Wesentlichkeitstheorie rechtssicherer ausformuliert wurde.
Die Frage ist vielmehr, wieso die Medien der Illusion Vorschub leisteten und leisten, der Bund wäre der zentrale Akteur in der die Öffentlichkeit am meisten beschäftigenden Frage der Einschränkungen des öffentlichen Lebens. Kaum eine Meldung oder Meinungsäußerung kommt ohne diese Prämisse aus – ein paar Beispiele:
Tagesschau, 21.04.2020:
„Nicht alles, was die Regierung in Sachen Corona beschließt, läßt sich auf dem Verordnungswege klären. Deshalb plant die Koalition in der kommenden Woche ein weiteres Gesetzespaket auf den Weg zu bringen.“
„Das Coronavirus sei in einem Labor gezüchtet worden, die Krise von Politikern seit langem geplant, oder die Maßnahmen der Bundesregierung schlicht überzogene Panikmache: Solche und ähnliche Mythen …“
Umfrage auf Zeit Online:
„Hat die Bundesregierung richtig auf die Corona-Krise reagiert?“
„Der Widerstand gegen die Corona-Maßnahmen der Bundesregierung wächst.“
„Die Bundesregierung arbeitet unentwegt an einer Lösung der Corona-Krise – und dann kommen ein paar Richter und fallen ihr in den Rücken, indem sie Maßnahmen des Lockdown aufheben. Dabei haben diese Richter eine Sache nicht verstanden.“
Es kann nicht ausbleiben, daß solche Meldungen zur Selbstverständlichkeit werden und man etwa einen Newsletter eines Möbelhauses bekommt, in dem es heißt:
Liebe Kundinnen und Kunden, täglich verfolgen wir die aktuellen Entwicklungen zu COVID-19 und die damit einhergehenden Beschlüsse der Bundesregierung. …
Natürlich hat es zunächst damit zu tun, daß der Bund tatsächlich in die Entscheidungen, die letztlich von den Kabinetten der Länder getroffen werden, eingebunden ist. Es ist zwar nicht „die Bundesregierung“ im engeren verfassungsrechtlichen Sinne (also Bundeskanzlerin und Bundesminister), sondern nur die Bundeskanzlerin, die im etablierten Format der Abstimmungsgespräche zwischen den Regierungschefs der Länder und des Bundes teilnimmt, aber auf solche Feinheiten kommt es wirklich nicht an. Es heißt aber, diese Gespräche, ein typischer Ausdruck des deutschen sogenannten kooperativen Föderalismus (der demokratietheoretisch nicht unproblematisch ist; aber auch das soll hier nicht das Thema sein), maßlos zu überschätzen, wenn aus ihnen in der Darstellung – quasi am Ende einer Stillen-Post-Kette – Beschlüsse oder Maßnahme „der Bundesregierung“ werden. Die Bundeskanzlerin selbst hat klargestellt, daß diese Konsultationen nicht dafür gedacht sind, die Handlungsautonomie der Länder zu ersetzen. In einer Regierungserklärung vom 23.04.2020 betonte sie, „dass sie die Hoheit der Länder bei Entscheidungen zur Infektionsbekämpfung ‚aus voller Überzeugung‘ achte“. Es war interessanterweise im Zusammenhang mit dieser Äußerung, daß die Medien erstmals merklich aus dem Takt gebracht wurden. Die vollständige Meldung war, daß Merkel in dieser Regierungserklärung das Vorgehen einzelner Bundesländer bei der Öffnung der Beschränkungen in der Corona-Krise „scharf kritisierte“. Das paßte ersichtlich nicht zusammen mit dem Narrativ, daß „die Bundesregierung“ oder zumindest Merkel im Rahmen dieser Gespräche Maßnahmen trifft und die Rolle der eingebundenen Ministerpräsidenten in etwa die von Landräten ist, die Entscheidungen in die Fläche zu tragen. Diese Irritation war aber nur von kurzer Dauer; bald darauf war das Narrativ wieder überwiegend intakt.
Man wird sich die Rolle Merkels bei diesen Konsultationen mehr als die einer Moderatorin vorstellen dürfen, die eben dadurch ihre Ziele erreichen kann, auch wenn sie nichts entscheidet. Eben „kooperativer Föderalismus“. Daß sie als eigentlich Unzuständige überhaupt beteiligt ist und auch eigene Vorstellungen einbringt, eine eigene Politik vorantreibt, ist dabei unproblematisch. Der Bund hat andernorts bei der Bewältigung der Krise mehr als genug Aufgaben und ein koordiniertes Vorgehen anzustreben leuchtet ein (zweifelnd hingegen hinsichtlich der Zulässigkeit dieses Formats: Kalscheuer, „Es gibt keinen Deutschen Rat!“, beck-blog, 17.04.2020).
Warum aber die Medien an der so offensichtlichen Falschdarstellung, ja Falschmeldung von den „Beschlüssen der Bundesregierung“ (oder auch nur Beschlüssen der Bundeskanzlerin) beharrlich festhalten, ist damit nicht beantwortet. Die Spurensuche führt zu Äußerungen, die vermuten lassen, daß manche der eigentlich verantwortlichen Politiker selbst ein Interesse haben, solche Vorstellungen zu schüren. Wenn der sächsische Ministerpräsident Kretschmer (CDU) in der Presse „Kanzlerin Angela Merkel (CDU) für ihr Krisenmanagement während der Coronavirus-Pandemie“ lobt („Es zahlt sich aus, dass wir in dieser Situation eine erfahrene und kluge Regierungschefin haben, die das Heft fest in der Hand hat“, „Die Menschen merken, wie kraftvoll die Kanzlerin agiert“), dann sind das allemal mildernde Umstände für die Medien, auch wenn man in Abzug bringt, daß die dick aufgetragenen Lobhudelei für die Parteifreundin im Politikwettbewerb eine Art In-sich-Geschäft ist.
Überhaupt Angela Merkel: Soviel Lichtgestalt, soviel Macherin war selten, geht es nach Teilen der Berichterstattung. Vor allem in der „Welt“ gerät die Coronavirus-Krise zu Angela-Merkel-Festspielen:
Ferdinand von Schirach im Interview in Welt und Kölner Stadtanzeiger:
„Unsere Demokratie ist nicht gefährdet, die Kanzlerin ist eine besonnene Frau, die Politiker sind in ihren Anstrengungen glaub- und vertrauenswürdig, die Maßnahmen sind zeitlich befristet.“
Lob bekommt auch Kanzlerin Angela Merkel. Neben Massentests und dem Gesundheitssystem könnte sie ein Grund dafür sein, dass die Todesrate niedrig ist, heißt es. Merkel habe während der Krise „klar, ruhig und regelmäßig kommuniziert, als sie dem Land immer strengere soziale Distanzierungsmaßnahmen auferlegte„, schreibt die „New York Times“. Die Beschränkungen seien auf wenig politischen Widerstand gestoßen und würden weitgehend befolgt. Die Zustimmungsraten der Kanzlerin seien gestiegen. […] „Unsere vielleicht größte Stärke in Deutschland“, sagt Kräusslich, „ist die rationale Entscheidungsfindung auf höchster Regierungsebene in Verbindung mit dem Vertrauen der Bevölkerung in die Regierung.“
Wenn bereits, von wem auch immer, gemutmaßt wird, Frau Merkel könnte höchstpersönlich für die geringere Sterbequote in Deutschland verantwortlich sein, fallen beiläufige Feststellungen, wie daß sie höchstpersönlichen den „Shutdown“ angeordnet habe, schon gar nicht mehr ins Gewicht:
„Der von Kanzlerin Angela Merkel (CDU) in der Coronakrise verordnete Shutdown und die ersten vorsichtigen Lockerungen könnten ins Wanken geraten.“
Und von da ist es ein natürlicher Schritt, wenn die FAZ – in Gestalt der Vorzeigejuristin der Redaktion – titelt:
„Druck der Ministerpräsidenten: Wieviel und was kann Merkel lockern?“
Ab irgendeinem Punkt ist die (Auto-)Suggestion so stark, daß sie gegenüber jedem Abgleich mit den wahren Verhältnissen unzugänglich wird, wobei mit diesen Verhältnissen nicht allein etwas so Langweiliges wie formelle Zuständigkeiten, sondern auch Fragen wie reelle Einflußmöglichkeiten gemeint sind.
Der unbedingte Wunsch, ja die Sehnsucht, daß Angela Merkel oder „die Bundesregierung“ hinter allen Maßnahmen stecken – sei es, je nach Gusto, als Projektionsfläche für Zustimmung oder Ablehnung -, woher kommt er nun eigentlich? Diese Frage ist nach wie vor offen und wird es vielleicht bleiben, weil sie so mysteriös ist, daß sie menschlicher Erkenntnis gar nicht zugänglich ist. Man könnte spekulieren, es hängt mit dem Phänomen des Nation-building (verstanden nicht als einmaliger, sondern als sich fortlaufend aktualisierenden Prozeß) zusammen, das mit einer Krise wie dieser einhergeht. Nation-building ist ein Prozeß, der sich hauptsächlich über die Medienöffentlichkeit abspielt. Und bundesweite Medien haben die Tendenz, politische Fragen auf eine gemeinsame Ebene hochzuziehen, auf eine virtuelle Bundesebene, auch wenn sie dort – im demokratischen Diskurs – klar nicht hingehören (man denke etwa an Vorschlägen im Schulbereich).
Aber genug der Spekulation. Was bleibt, ist jedenfalls der Befund, daß ein überwiegender Teil der Medien nicht in der Lage ist, ein nicht allzu komplexes politisches Geschehen, das einen ungewöhnlichen Entscheidungsfindungsprozeß umfaßt, auch nur annähernd richtig zu beschreiben und sich deshalb damit behilft, es für den Publikumsgebrauch auf die in jeder Hinsicht falsche Formel zu verflachen „von der Bundesregierung/von Angela Merkel beschlossen“. Das Nachrichtengeschäft erweist der Demokratie damit einen Bärendienst, lebt diese doch davon, daß die Wähler wissen, wo die politischen Verantwortlichkeiten tatsächlich zu verorten sind.