De legibus-Blog

23. März 2014

Dürfen Unionsbürger an die USA ausgeliefert werden?

Oliver García

Einleitung: Der Fall Roman Polański

Es ist erstaunlich, mit welcher Sorglosigkeit Roman Polański in Deutschland Filme drehte. Er schien nicht geahnt zu haben, daß er Gefahr lief, jederzeit verhaftet zu werden, sowohl bei den Dreharbeiten für Der Pianist (2002), der unter anderem in Berlin und Brandenburg entstand, als auch beim fast ausschließlich in Deutschland gedrehten Der Ghostwriter (2009). Die Gefahr wurde offenbar, als Polański Ende 2009 auf ein US-amerikanisches Auslieferungsersuchen hin auf dem Zürcher Flughafen verhaftet wurde. Nach Zürich war er gekommen, um einen Festivalpreis für sein Lebenswerk entgegenzunehmen. In den USA gilt Polański als flüchtiger Straftäter und als ein Beamter der zuständigen Staatsanwaltschaft in Kalifornien, wie es heißt, beim Surfen im Internet von diesem Termin Polańskis erfuhr, mußte er nur noch den Apparat des US-amerikanisch-schweizerischen Auslieferungsverkehrs anwerfen und warten, bis die Falle zuschnappte. Bekanntlich ging die Sache für Polański noch glimpflich aus. Nach zwei Monaten Haft und sieben Monaten Hausarrest wurde der Auslieferungsantrag der USA zurückgewiesen – nicht von den Gerichten der Schweiz, die allem Anschein nach keine Einwände hatten, – sondern von der Regierung, wenn auch mit einer etwas wackligen Begründung.

Wie wäre es in Deutschland gewesen? Hätte der kalifornische Staatsanwalt ein paar Monate vorher gegoogelt, hätte er nicht nur gesehen, daß Polański gerade an Der Ghostwriter arbeitet (einem Film, der den sog. US-Imperialismus zum Thema hat), sondern auch, daß Polański dafür in Deutschland ist. Während Frankreich – ebenso wie Deutschland – eigene Staatsangehörige nicht ausliefert (der in Paris wohnhafte Polański hat sowohl die polnische als auch die französische Staatsangehörigkeit), hätte sich hier bereits die Gelegenheit geboten, ihn festnehmen zu lassen. Wie die Schweiz ist auch Deutschland gegenüber den USA die Verpflichtung eingegangen, unter den im bilateralen Auslieferungsvertrag vom 20. Juni 1978 festgelegten Voraussetzungen auf ein Ersuchen hin Personen zur Strafverfolgung und -vollstreckung auszuliefern (Artikel 1 des Vertrages: „Auslieferungsverpflichtung“). Und so ließ der Pressesprecher der Generalstaatsanwaltschaft Düsseldorf 2009 in die mediale Aufregung hinein wissen, daß Polański genauso verhaftet worden wäre, wenn er nicht nach Zürich, sondern nach Düsseldorf gekommen wäre.

Doch Moment mal – kann das eigentlich sein? Als Unionsbürger (Art. 20 AEUV) hat Polański einen Anspruch darauf, nicht gegenüber deutschen Staatsangehörigen diskriminiert zu werden (Art. 18 AEUV). Doch während ein deutscher Filmregisseur in der gleichen Situation wie Polański in Deutschland seiner Arbeit nachgehen kann, weil er durch Art. 16 Abs. 2 Satz 1 GG vor einer Auslieferung an die USA (und jeden anderen Drittstaat) geschützt ist, hat Polański praktisch ein Berufsverbot in Deutschland, weil bei einer Einreise das Damoklesschwert eines Auslieferungsersuchens über ihm schweben würde.

Der Fall P.

Der Fall Polański ist ein hypothetischer, doch in der Praxis werden nichtdeutsche Unionsbürger immer wieder aus Deutschland an Drittstaaten ausgeliefert. Und auch andere Länder wie Frankreich dürften ein entsprechendes unterschiedliches Schutzniveau praktizieren. Ob dies unionsrechtlich eine zulässige oder unzulässige Ungleichbehandlung ist, ist erstaunlich selten vor den Gerichten und in der Literatur thematisiert worden. Vor das Bundesverfassungsgericht gelangt ist die Frage des Verhältnisses zwischen Art. 16 Abs. 2 Satz 1 GG und Art. 18 AEUV zweimal: Das erste Mal im Jahr 2008, die Auslieferung eines Niederländers an die USA betreffend (BVerfG, Beschluß vom 28. Juli 2008 – 2 BvR 1347/08), und das zweite Mal in einem derzeit anhängigen Verfassungsbeschwerdeverfahren, in dem es um die Auslieferung eines Italieners an die USA geht. In diesem Fall liegt bereits ein Beschluß vom 17. Februar 2014 – 2 BvQ 4/14 – vor, mit dem die 2. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts es ablehnte, zugunsten des Beschwerdeführers – „P.“ – eine einstweilige Anordnung zu erlassen. Diese Entscheidung ist im hier interessierenden Punkt denkbar knapp begründet worden und sie ist aus mehreren – noch auszuführenden – Gründen falsch. Aufgrund einer prozessualen Besonderheit (das Hauptsacheverfahren war noch nicht anhängig, als der Antrag auf einstweilige Anordnung beschieden wurde) ist es aber denkbar, daß das Bundesverfassungsgericht in diesem Fall noch zu einer Grundsatzentscheidung kommt.

Es geht in dem Fall um einen Manager, dem die USA wegen Kartellabsprachen den Prozeß machen wollen. Zwischen 1999 und 2006 soll er mit Vertretern von Mitbewerbern Preise für Gummischläuche abgesprochen haben. Den knappen Mitteilungen im BVerfG-Beschluß nach könnte es sich um das Marineschläuche-Kartell handeln, gegen das auch die EU-Kommission ermittelt und im Jahr 2009 Geldbußen in Millionenhöhe verhängt hatte.

In Deutschland sind Kartellabsprachen als solche nicht strafbar , sondern nur als Ordnungswidrigkeit verfolgbar (§ 81 GWB). Strafbar kann aber die Abgabe eines Angebots sein, das auf einer Kartellabsprache beruht (§ 298 StGB). Obwohl die Kartellbehörden, allen voran die EU-Kommission, immer wieder spektakulär Kartelle ausheben, scheint die Strafvorschrift aber ein Schattendasein zu führen. Mehr als eine Geldstrafe kommt meist nicht heraus (Rechtsprechungsübersicht). Anders in den USA, wo es nicht nur eine viel breitere Strafvorschrift gibt, sondern wo die zuständige Behörde auch den Ehrgeiz hat, die Statistik der vollstreckten Gefängnisstrafen jährlich zu steigern. Dabei legt sie besonderes Augenmerk auf den weltweiten Zugriff: „The Division remains committed to ensuring that culpable foreign nationals, just like U.S. co-conspirators, serve prison sentences for violating the U.S. antitrust laws. This includes using all appropriate tools to find and arrest or extradite international fugitives where appropriate.“

P. wurde infolge dieser Politik am 17. Juni 2013 in Frankfurt am Main festgenommen. Am 22. Januar 2014 erklärte das OLG Frankfurt seine Auslieferung an die USA für zulässig. Neben Fragen zum Spezialitätsgrundsatz (zu diesem die Beiträge Zehn Jahre Gefängnis wegen Lesens eines BGH-Beschlusses und Mossad-Attentat in Dubai) wegen der nicht deckungsgleichen Strafgesetze ging es auch um die Frage, ob ein Verstoß gegen Art. 18 AEUV vorliegt. In der Tat: Nehmen wir nur an, P. hätte die ihm vorgeworfenen Taten zusammen mit einem Kollegen begangen, der die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt. Dieser wäre durch Art. 16 Abs. 2 Satz 1 GG absolut vor Haft und Auslieferung geschützt, ein Schutz, der P. vorenthalten wird. Daß dies eine „Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit“ ist, wie sie nach Art. 18 AEUV (und Art. 21 Abs. 2 GrCh) verboten ist, steht dem Sachverhalt eigentlich auf die Stirn geschrieben, möchte man meinen. Jedenfalls hat die größere Begründungslast, wer dies verneinen will.

Das OLG Frankfurt hat sowohl verneint, daß ein Verstoß gegen Art. 18 AEUV vorliege als auch daß es auch nur verpflichtet sei, diese Frage dem EuGH im Rahmen des Vorabentscheidungsverfahren nach Art. 267 AEUV vorzulegen. Was zum ersteren Punkt der BVerfG-Beschluß zu sagen hat, sei hier vollständig zitiert:

b) Die Annahme des Oberlandesgerichts, das Deutschenprivileg aus Art. 16 Abs. 2 Satz 1 GG müsse nicht auf Unionsbürger angewandt werden, ist verfassungsrechtlich unbedenklich. Das Bundesverfassungsgericht hat bereits entschieden, dass der Auslieferungsverkehr mit Drittstaaten keine Materie ist, die in den sachlichen Anwendungsbereich des Unionsrechts fällt, und das europarechtliche Diskriminierungsverbot daher in diesem Zusammenhang nicht zu berücksichtigen ist (vgl. BVerfGK 14, 113 <117 f.>). Das Oberlandesgericht hat zudem ausgeführt, es habe seit dieser verfassungsgerichtlichen Entscheidung weder durch den Vertrag von Lissabon noch durch die Verankerung des Diskriminierungsverbots in der Grundrechtecharta eine substantielle Änderung des Unionsrechts gegeben. Art. 17 Abs. 2 des Auslieferungsübereinkommens zwischen der Europäischen Union und den Vereinigten Staaten von Amerika (Abl. Nr. L 181 vom 19. Juli 2003, S. 27) bestätige, dass Art. 16 Abs. 2 GG nach wie vor zum nationalen verfassungsrechtlichen Besitzstand gehöre. Hiergegen ist nichts zu erinnern.

Sodann hat das BVerfG die Frage geprüft, ob durch das OLG durch die unterlassene Vorlage an den EuGH den Anspruch auf den gesetzlichen Richter (Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG) verletzt hat. Auch dieser Teil der Begründung sei hier ungekürzt wiedergegeben:

c) Ein Verstoß gegen Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG liegt nicht vor.

aa) Der Gerichtshof der Europäischen Union ist gesetzlicher Richter im Sinne des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG. Unter den Voraussetzungen des Art. 267 Abs. 3 AEUV sind die nationalen Gerichte von Amts wegen gehalten, den Gerichtshof anzurufen (vgl. BVerfGE 82, 159 <192 f.>; 128, 157 <187>; 129, 78 >105>; stRspr). Kommt ein Gericht seiner Pflicht zur Anrufung des Gerichtshofs im Wege des Vorabentscheidungsverfahrens nicht nach, obwohl es dazu verpflichtet ist, wird dem Rechtsschutzsuchenden des Ausgangsrechtsstreits der gesetzliche Richter entzogen (vgl. BVerfGE 73, 339 <369>; 126, 286 <315>). Dabei stellt jedoch nicht jede Verletzung der unionsrechtlichen Vorlagepflicht zugleich einen Verstoß gegen Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG dar. Das Bundesverfassungsgericht überprüft nur, ob die Auslegung und Anwendung der Zuständigkeitsregel des Art. 267 Abs. 3 AEUV bei verständiger Würdigung der das Grundgesetz bestimmenden Gedanken nicht mehr verständlich erscheint und offensichtlich unhaltbar ist (vgl. BVerfGE 126, 286 <315 f.>; 128, 157 <187>; 129, 78 <106>; BVerfG, Urteil des Zweiten Senats vom 28. Januar 2014 – 2 BvR 1561/12 u.a. -, juris, Rn. 177 ff.).

bb) Hieran gemessen begegnet die vorliegende Entscheidung keinen verfassungsrechtlichen Bedenken. Das Oberlandesgericht hat eine Vorlage an den Gerichtshof der Europäischen Union geprüft. Es hat eine Anwendbarkeit unionsrechtlicher Vorschriften – wie sich aus dem Vorstehenden ergibt – mit nachvollziehbaren Argumenten abgelehnt und ersichtlich angenommen, dass die Klarheit der Rechtslage eine Vorlage entbehrlich macht. Eine offensichtlich unhaltbare Verletzung einer Vorlageverpflichtung kommt daher nicht in Betracht.

Die Irrtümer des BVerfG und des OLG Frankfurt

Die 2. Kammer des Zweiten Senats des BVerfG beruft sich also darauf, daß das Diskriminierungsverbot hier deshalb nicht anwendbar sei, weil der Sachverhalt nicht in den Anwendungsbereich des Unionsrechts (oder – wie es in Art. 18 AEUV ausdrücklich heißt – in den Anwendungsbereich der Verträge) falle. Dies dürfe sogar als so klar angesehen werden, daß eine Vorlage an den EuGH entbehrlich sei.

Mit dem zweiten Teil, der Äußerung zu Art. 267 AEUV, hat das BVerfG zu Recht anerkannt, daß die Frage des sachlichen Anwendungsbereichs von Art. 18 AEUV ihrerseits eine Frage ist, die in die – prinzipiell ausschließliche – Entscheidungszuständigkeit des EuGH gehört. Ob eine Frage eine EU-rechtliche Frage ist, ist selbst eine EU-rechtliche Frage. Obwohl dies im Prinzip völlig unstreitig ist (zum sog. „Ultra-vires-Problem“ später), können Gerichte hier leicht auf Irrwege geraten. So hatte das BVerwG in einem Beschluß vom 20. Mai 1999 – 1 WB 94.98 – mit dem Brustton der Überzeugung ausgesprochen, daß die Ungleichbehandlung von Männern und Frauen in der Bundeswehr von der EG-Gleichbehandlungsrichtlinie nicht erfaßt werde, weil die EG keine Verbandskompetenz für streitkräftebezogene Sachverhalte habe, also schon primärrechtlich unzuständig sei. Acht Monate später erklärte der EuGH auf eine Vorlage des VG Hannover hin, daß der damalige Art. 12a Abs. 4 Satz 2 GG gegen die Gleichbehandlungsrichtlinie verstieß (Urteil vom 11. Januar 2000 – C-285/98Kreil).

EU-rechtliche Fragen sind im Rahmen von Rechtsstreitigkeiten wegen des Entscheidungsmonopols des EuGH in Fällen des Art. 267 Abs. 3 AEUV immer mehrstufige Fragen (ausführlich zu den Voraussetzungen der Vorlagepflicht und ihren Ausnahmen der Beitrag BGH will keine zweite Meinung hören – Von der unerkannten Offenkundigkeit des EU-Rechts). Nicht nur, wie die Frage zu beantworten ist, sondern auch, wer sie beantworten darf, ist zu entscheiden. Bezogen auf den vorliegenden Fall: Ob das „Deutschenprivileg aus Art. 16 Abs. 2 Satz 1 GG“ (obiges BVerfG-Zitat) gegen Art. 18 AEUV verstößt oder nicht, muß nicht entschieden werden, um sagen zu können, daß die BVerfG-Entscheidung im Verfahren der einstweiligen Anordnung falsch ist. Sie ist falsch, weil sie Art. 267 Abs. 3 AEUV mißachtet.

Der 2. Kammer des Zweiten Senats des BVerfG war es offensichtlich nicht einmal bewußt, daß sie in diesem Fall selbst Adressatin des Art. 267 Abs. 3 AEUV war (und – für das Hauptsacheverfahren – ist). Mit der Vorlagepflicht befaßte sie sich allein unter dem Gesichtspunkt, ob das OLG gegen sie verstoßen hatte, wobei Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG als „verfassungsrechtliches Scharnier“ diente. Das grundrechtsgleiche Recht auf den gesetzlichen Richter hat in den letzten Jahren eine gewisse Karriere gemacht. Daß eine unterlassene Vorlage an ein anderes Gericht – oder der ähnlich gelagerte Fall der Nichtzulassung eines Rechtsmittels – in bestimmten Fällen als Entziehung des gesetzlichen Richters einen Verfassungsverstoß darstellen kann, ist zwar schon lange Rechtsprechung des BVerfG. Doch neuerdings scheinen die Fälle zuzunehmen, in denen das BVerfG eingreift (Beschluß vom 22. September 2011 – 2 BvR 947/11, Beschluß vom 24. Oktober 2011 – 1 BvR 1103/11, Beschluß vom 21. März 2012 – 1 BvR 2365/11). Allerdings ist der Maßstab, den das BVerfG anlegt und der im obigen Zitat beschrieben ist, ein zurückgenommener: Es prüft nicht voll nach, ob die – einfachgesetzlichen – Voraussetzungen der Vorlagepflicht vorlagen und gegen sie verstoßen wurde, sondern übt eine Art Vertretbarkeitskontrolle, manchmal auch eine Willkürkontrolle aus. „Nicht jede Verletzung“, sondern erst die „nicht mehr verständlich[e …] und offensichtlich unhaltbar[e]“ Verletzung ist ein Verfassungsverstoß. Eine einfache Verletzung bleibt demnach ungeprüft und ggf. unsanktioniert. Das ist verständlich, denn würde das BVerfG in jedem Rechtsstreit zur Verfügung stehen, nach dem selben Maßstab wie das Fachgericht die Voraussetzungen einer einfachrechtlichen Vorlagepflicht (und aus dem Blickwinkel des Grundgesetzes handelt es sich auch bei Art. 267 AEUV um eine solche) nachzuprüfen, wäre es nicht mehr Verfassungsgericht, sondern nur eine weitere, prozessual nicht vorgesehene Rechtsmittelinstanz.

Da die Vorlagepflicht des Art. 267 Abs. 3 AEUV bereits einen Einschätzungs- und Beurteilungsspielraum der Gerichte in sich trägt und die Kontrolle nach Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG, ob dieser Spielraum eingehalten wurde, einen erheblichen weiteren Spielraum eröffnet, kann man sagen, daß das BVerfG im Normalfall einer Verfassungsbeschwerde auf Art. 267 Abs. 3 AEUV wie mit einem unscharfen Fernrohr blickt. Doch dieser Fall liegt anders als der Normalfall einer Rüge einer unterlassenen Vorlage an den EuGH. Die Kammer hat die Folgerungen übersehen, die sich aus der Grundsatzentscheidung des Ersten Senats des BVerfG vom 19. Juli 2011 – 1 BvR 1916/09 – ergeben. In diesem Beschluß hat das BVerfG erstmals ausgesprochen, daß Art. 19 Abs. 3 GG insoweit gegen Art. 26 Abs. 2 AEUV und Art. 18 AEUV verstößt, als er juristische Personen aus anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Union vom Grundrechtsschutz ausschließt. Vom Ergebnis her bestand darüber schon zuvor in der Literatur Konsens (vgl. Huber, Die gleiche Freiheit der Unionsbürger, ZaöRV 68 (2008), 307, 311) und so ist das eigentlich Interessante an der Entscheidung der Mechanismus, den das BVerfG fand, um diese Kollision zu lösen: Aufgrund des Anwendungsvorrangs der unionsrechtlichen Diskriminierungsverbote werde der Inhalt des Grundgesetzes unmittelbar und ohne förmliche Verfassungsänderung (nach Art. 79 GG) geändert. Es handele sich um eine „vertraglich veranlaßte Anwendungserweiterung“, die bereits aufgrund von Art. 23 GG legitimiert sei. Demzufolge sind alle Unternehmen mit Unionsbürgerstatus unmittelbar aufgrund des Unionsrechts sowohl Träger der materiellen Grundrechte als auch – prozessual – beschwerdebefugt zum Bundesverfassungsgericht. Im entschiedenen Fall ging es um die Anwendbarkeit des Grundrechts aus Art. 14 GG. Die Entscheidung läßt aber keinen Zweifel daran, daß sie – jedenfalls im Grundsatz – auch übertragbar ist auf die sogenannten „Deutschengrundrechte“ oder Bürgerrechte, die in Art. 8, 9, 11 und 12 GG geregelt sind (so schon Huber, aaO., allerdings in Bezug auf Art. 8 GG nun zurückhaltender in der Überarbeitung seines Aufsatzes: Huber, Unionsbürgerschaft, EuR 2013, 637, 641). Daß sich Unionsbürger auch auf diese „Deutschengrundrechte“ berufen können, nehmen – im Anschluß an die BVerfG-Entscheidung – auch die Fachgerichte ohne jede Problematisierung an (jeweils zu Art. 12 GG: VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 23. Mai 2013 – 6 S 88/13; VGH Bayern, Urteil vom 13. Januar 2014 – 7 BV 13.1397).

Daß aus dieser Reihe von „erweiterungsfähigen“ Deutschengrundrechte ausgerechnet Art. 16 Abs. 2 Satz 1 GG von vornherein ausscheiden müßte, falls und soweit das Unionsrecht auch hier die Forderung nach Gleichbehandlung aufstellen sollte, wie sie das BVerfG in seiner Grundsatzentscheidung als Vorfrage ohne die geringsten Bedenken bejahte (der Fall schien ihm so klar, daß es eine Vorlage nach Art. 267 Abs. 3 AEUV für entbehrlich hielt), wird man nicht sagen können. Das hat zwangsläufig zur Folge, daß ein Unionsbürger, der das BVerfG unter Berufung auf Art. 16 Abs. 2 Satz 1 GG anruft, nicht nur die „Fernrohr-Überprüfung“ einfordert, ob es vertretbar war, daß das OLG eine EuGH-Vorlage unterlassen hat. Er macht nicht (nur) Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG geltend, sondern sucht beim BVerfG den Schutz seiner Auslieferungsfreiheit, die ihm im Wege der vom BVerfG herausgearbeiteten „vertraglich veranlaßte Anwendungserweiterung“ unmittelbar als Grundrechtsträger zusteht.

Ob er Träger dieses Grundrechts ist, hängt von der Vorfrage ab, ob die Unionsverträge tatsächlich diese Anwendungserweiterung veranlassen. Da Art. 267 Abs. 3 AEUV für eine solche unionsrechtliche Frage die Anrufung des EuGH vorsieht, unterliegt das BVerfG unmittelbar dieser Vorlagepflicht. Da diese Pflicht Ausnahmen kennt, eröffnet sich dem Gericht zwar der schon angesprochene Einschätzungs- und Beurteilungsspielraum, aber nicht der „Vorhof“ in Form der Reduzierung auf eine strikte Vertretbarkeitskontrolle, die mit der Prüfung von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG verbunden ist. Daß das BVerfG ein Verfassungsbeschwerdeverfahren aussetzt und seine Vorlagepflicht nach Art. 267 Abs. 3 AEUV erfüllt, ist rechtlich gesehen völlig unspektakulär, auch wenn es bislang nur einmal geschehen ist (mit Beschluß vom 14. Januar 2014 – 2 BvR 2728/13 – im Verfahren ESM/EZB). Bereits in seiner Grundsatzentscheidung vom 19. Juli 2011 – 1 BvR 1916/09 – zur „Anwendungserweiterung“ ist der Erste Senat ausdrücklich von dieser Vorlagepflicht ausgegangen, entschied aber, daß er nach der „Acte-clair-Doktrin“ des EuGH von einer Vorlage absehen dürfe: „Die richtige Auslegung der unionsrechtlichen Diskriminierungsverbote ist hier so offenkundig, dass keinerlei Raum für vernünftige Zweifel bleibt“.

Deshalb stellt sich im vorliegenden Fall die Frage, ob nach dem Maßstab der „Acte-clair-Doktrin“ (Einzelheiten zu ihr im Beitrag BGH will keine zweite Meinung hören) für Art. 16 Abs. 2 Satz 1 GG genau das Umgekehrte gilt wie für Art. 19 Abs. 3 sowie Art. 8, 9, 11 und 12 GG. Ausgerechnet bei diesem einen Grundrecht sollte das Unionsrecht von vornherein und ohne jeden Zweifel die Achseln zucken, während es bei allen übrigen Grundrechten – wiederum ohne jeden Zweifel – eine Ungleichbehandlung nicht duldet? Man würde dem Unionsrecht zu nahe treten, wenn man ihm ein solches launenhaftes Pendeln zwischen den Extremen unterstellte. Es mag möglich oder sogar naheliegend sein, daß das Unionsrecht differenziert, aber daß das Ob und das Wie einer Differenzierung durch den EuGH ohne jeden vernünftigen Zweifel vorhersehbar wären, klingt eher nach Wunschdenken als nach realistischer Einschätzung.

Die – vom BVerfG noch aus der „Fernrohrperspektive“ gebilligte – Argumentation des OLG Frankfurt, ein Auslieferungssachverhalt würde von vornherein nicht in den Anwendungsbereich des Unionsrechts fallen, klingt mehr nach einem Bauchgefühl als nach dem Ergebnis einer genauen Analyse der Rechtsprechung des EuGH zu Art. 18 AEUV und der Vorgängervorschrift des Art. 12 EG. Aber auch ohne eine solche Analyse – die im Folgenden ansatzweise nachgeholt werden soll – stellt sich die Frage, wie diese Prämisse zusammenpaßt mit dem vom OLG selbst angesprochenen Umstand, daß die EU mit den USA ein – die Mitgliedstaaten bindendes – Auslieferungsabkommen geschlossen hat (Abl. Nr. L 181 vom 19. Juli 2003, S. 27, BGBl. 2007 II S. 1618, 1643). Wenn es tatsächlich auf die vom OLG vorausgesetzte Verbandskompetenz der EU für die Materie Auslieferungsrecht ankäme, so ist diese allein durch die Existenz dieses Abkommens indiziert und es hätte dem OLG oblegen, im einzelnen zu erklären, warum es diese Kompetenz doch nicht gibt. Und wenn es zu dem Ergebnis kommen sollte, daß der Abschluß des Auslieferungsabkommens einen Verstoß gegen das Primärrecht darstellt, dann wäre es deswegen – erst recht – zur Vorlage an den EuGH verpflichtet gewesen.

Doch das kann dahinstehen, denn schon die Prämisse des OLG stimmt nicht. Sie liegt vielmehr konträr zur – für die Frage des Absehens von einer Vorlage maßgeblichen – Spruchpraxis des EuGH. Es ist ständige Rechtsprechung des EuGH, daß in Art. 18 AEUV der „Anwendungsbereich der Verträge“ immer auch schon dann betroffen ist, wenn der Unionsbürger seine Grundfreiheiten wahrgenommen hat. Prägnant heißt es etwa im Urteil vom 4. Oktober 2012 – C-75/11 (Kommission gegen Österreich):

Jeder Unionsbürger kann sich daher in allen Situationen, die in den sachlichen Anwendungsbereich des Unionsrechts fallen, auf Art. 18 AEUV berufen, der jede Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit verbietet, wobei zu diesen Situationen die Ausübung der durch Art. 21 AEUV verliehenen Grundfreiheit gehört, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten zu bewegen und aufzuhalten.

Der Grundsatz der Nichtdiskriminierung gilt dann auch für Regelungskomplexe, für die die EU unbestritten keine Kompetenz hat. So muß laut EuGH-Urteil vom 2. Dezember 2003 – C-148/02 – (Garcia Avello) dieser Grundsatz bei der Anwendung des bürgerlich-rechtlichen Namensrechts angewandt werden:

24. In den sachlichen Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts fallen u. a. Situationen, in denen es um die Ausübung der im EG-Vertrag garantierten Grundfreiheiten geht, namentlich um die Ausübung der in Artikel 18 EG verliehenen Freiheit, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten zu bewegen und aufzuhalten (Urteil vom 24. November 1998 in der Rechtssache C-274/96, Bickel und Franz, Slg. 1998, I-7637, Randnrn. 15 und 16, sowie Urteile Grzelczyk, Randnr. 33, und D’Hoop, Randnr. 29).

25. Zwar fällt das Namensrecht beim gegenwärtigen Stand des Gemeinschaftsrechts in die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten, doch müssen diese bei der Ausübung dieser Zuständigkeit gleichwohl das Gemeinschaftsrecht beachten (vgl. analog Urteil vom 2. Dezember 1997 in der Rechtssache C-336/94, Dafeki, Slg. 1997, I-6761, Randnrn. 16 bis 20), insbesondere die Vertragsbestimmungen über die jedem Unionsbürger zuerkannte Freiheit, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten zu bewegen und aufzuhalten (vgl. u. a. Urteil vom 23. November 2000 in der Rechtssache C-135/99, Elsen, Slg. 2000, I-10409, Randnr. 33).

Der Grundsatz wirkt auch ein in das nationale Strafverfahrensrecht (von dem der Weg zum Auslieferungsrecht nicht weit ist): Im Urteil vom 24. November 1998 – C-274/96 – (Bickel und Franz) ging es um eine Regelung des italienischen Strafprozeßrechts für Südtirol. Strafverfahren werden dort nach Wahl des Angeklagten in deutscher oder italienischer Sprache durchgeführt, allerdings – nach der damals geltenden Regelung – nur, wenn der Angeklagte Angehörige der deutschsprachigen Bevölkerungsgruppe, also italienischer Staatsangehöriger, war. Im Verfahren, das zur EuGH-Entscheidung führte, waren die Angeklagten ein deutscher Urlauber und ein österreichischer LKW-Fahrer auf der Durchfahrt. Sie verlangten, mit den Italienern gleichgestellt zu werden und ebenfalls auf deutsch verhandeln zu können. Das italienische Strafgericht hätte nun ähnlich wie das OLG Frankfurt sagen können, daß das Strafprozeßrecht die EU nichts angehe, aber das tat es nicht, sondern legte die Frage, ob durch die Privilegierung von Italienern das gemeinschaftsrechtliche Diskriminierungsverbot verletzt wurde, dem EuGH vor – und der EuGH bejahte dies. Auch Deutsche und Österreicher können sich seitdem in Südtirol auf Deutsch verurteilen und freisprechen lassen.

Die gleichen Grundsätze galten im Prinzip schon vor der Einführung der Unionsbürgerschaft durch den Maastrichter Vertrag. Schon im Fall Cowan, der ebenfalls Strafprozeßrecht im weiteren Sinne betraf, hatte der EuGH entschieden (Urteil vom 2. Februar 1989 – Rs. 186/87), daß ein britischer Staatsangehöriger, der in Frankreich Urlaub macht (Inanspruchnahme der passiven Dienstleistungsfreiheit) und dabei Opfer einer Straftat wird, nicht von der im französischen Recht allein für Franzosen vorgesehene Opferentschädigung ausgeschlossen werden darf.

Diese Beispiele dürften ausreichen, um die Vorstellung, Art. 18 AEUV gelte nur in Sachgebieten, für die die EU eine Regelungskompetenz habe, endgültig zu den Akten zu legen. Im Fall P. ist entgegen der Meinung des OLG (und des BVerfG in seiner Eilentscheidung) der Anwendungsbereich des Diskriminierungsverbots nicht etwa eindeutig nicht eröffnet, sondern umgekehrt eindeutig eröffnet. Ob P. nun dauerhaft in Deutschland ansässig war (Niederlassungsfreiheit, Art. 49 AEUV, vgl. Fall Garcia Avello) oder sich nur vorübergehend aufhielt (vgl. Fälle Bickel und Franz und Cowan), er machte dabei von seiner Freizügigkeit als Unionsbürger (Art. 21 AEUV) Gebrauch und kann sich deshalb auf Art. 18 AEUV berufen.

Peter M. Huber, Richter am Zweiten Senat des BVerfG (allerdings nicht in der im ersten Zugriff zuständigen 2. Kammer) faßt diese Rechtsprechung so zusammen (Unionsbürgerschaft, EuR 2013, 637, 641):

Art. 21 AEUV begründet einen umfassenden, tatbestandlich begrenzten und begrenzbaren Anspruch. Von seinem sachlichen Gehalt her garantiert er das Recht zur Fortbewegung in den Aufnahmestaat und das Recht, dort Aufenthalt zu nehmen. Im Verein mit Art. 18 Abs. 1 AEUV verbürgt er insoweit einen grundsätzlichen Anspruch aller Unionsbürger auf Inländerbehandlung. Dieser Anspruch ist freizügigkeitsakzessorisch. Deshalb besteht auch der Diskriminierungsschutz nur solange, solange der Mitgliedstaat keine aufenthaltsbeendenden Maßnahmen ergriffen hat […].

Das heißt: Solange sich ein Unionsbürger rechtmäßig in einem Mitgliedstaat aufhält, der nicht sein eigener ist, darf er grundsätzlich nicht gegenüber dessen eigenen Staatsangehörigen schlechter behandelt werden. Rechtmäßig ist sein Aufenthalt, solange er nicht (in Übereinstimmungen mit den in Art. 21 AEUV genannten Durchführungsvorschriften) ausnahmsweise ausgewiesen werden darf.

Weiter Huber (Unionsbürgerschaft, EuR 2013, 637, 654):

Im Anwendungsbereich der Verträge, d. h. überall dort, wo sich Unionsbürger in der EU außerhalb ihres Heimatstaates aufhalten, garantiert [die Unionsbürgerschaft] ihnen grundsätzlich die gleiche Freiheit wie den Staatsangehörigen und unterwirft ihre Beschränkung besonderen Rechtfertigungserfordernissen.

Huber spricht damit den nächsten Punkt an: Daß der Anwendungsbereich des Diskriminierungsverbots eröffnet ist, heißt noch nicht, daß eine verbotene Diskriminierung vorliegt. Es handelt sich lediglich um den ersten von mehreren Prüfungsschritten. Daß überhaupt eine Diskriminierung vorliegt, setzt voraus, daß vergleichbare Sachverhalte ungleich oder ungleiche Sachverhalte gleichbehandelt wurden. Und liegt eine solche Ungleichbehandlung vor, so ist sie nicht verboten, wenn sie auf objektiven, an die Staatsangehörigkeit der Betroffenen zwar anknüpfende, aber doch von ihnen unabhängigen Erwägungen beruht und in einem angemessenen Verhältnis zu einem legitimerweise verfolgten Zweck steht. So etwa die Prüfung des EuGH in seinem Urteil vom 15. Dezember 2006 – C-524/06. Dort stellte sich die Frage (das OVG Nordrhein-Westfalen stellte sie), ob die Aufnahme von Unionsbürgern in das deutsche Ausländerzentralregister eine verbotene Diskriminierung ist (in das Register werden, wie der Name schon sagt, Deutsche nicht aufgenommen). Der EuGH kam zu dem Ergebnis, daß nichtdeutsche Unionsbürger insoweit in das Register aufgenommen werden dürfen, als dies für den Vollzug der besonderen, sie betreffenden Vorschriften erforderlich ist. Einen Verstoß gegen Art. 18 AEUV stellt es demgegenüber dar, Daten von nichtdeutschen Unionsbürgern zu Zwecken der Kriminalitätsbekämpfung zu speichern, wenn nicht auch Daten von Deutschen entsprechend gespeichert werden.

Innerhalb des Anwendungsbereichs sind also Differenzierungen möglich, eine schematische Gleichbehandlung sieht auch Art. 18 AEUV nicht vor. In der Rechtsprechung des EuGH spielen Einschränkungsmöglichkeiten am meisten auf dem Gebiet der Sozialleistungen eine Rolle (dazu Huber, Unionsbürgerschaft, EuR 2013, 637, 654). Wie weit sie dort gehen, ist gerade zur Zeit Gegenstand von Diskussionen und Vorlagefragen.

Gerade dieser Umstand, daß es im Anwendungsbereich von Art. 18 AEUV nicht immer ein striktes Entweder-Oder, kein Nur-Schwarz und Nur-Weiß, sondern auch Zwischentöne gibt, macht die Antwort des EuGH auf eine Vorlagefrage zur Vereinbarkeit des „Deutschenprivilegs aus Art. 16 Abs. 2 Satz 1 GG“ mit Art. 18 AEUV noch unvorhersehbarer und schließt es deshalb aus, auf eine Vorlage nach Art. 267 Abs. 3 AEUV mit der Begründung zu verzichten, die Antwort sei so offenkundig, daß „keinerlei Raum für einen vernünftigen Zweifel“ bestehe (EuGH, Urteil vom 6. Oktober 1982 – Rs. 283/81, CILFIT).

Die Rechtsprechung zum Europäischen Haftbefehl

Für Denkanstöße, welche Differenzierungsmöglichkeiten insoweit bestehen, lohnt es sich, die Rechtsprechung des EuGH zum Rahmenbeschlusses 2002/584/JI über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten (RbEuHb) auszuwerten. Der RbEuHb ist mit dem erklärten Anspruch erlassen worden, einen Paradigmenwechsel darzustellen: Zwischen den Mitgliedstaaten soll es keine „Auslieferungen“ mehr geben, sondern – geregelt durch den RbEuHb – „Übergaben“ (Erwägungsgrund 5: „Abschaffung der Auslieferung zwischen Mitgliedstaaten“). Das hat viele Mitgliedstaaten (darunter Deutschland) nicht davon abgehalten, bei der Umsetzung des RbEuHb die alte Begrifflichkeit – „Auslieferung“ – beizubehalten und die neuen Bestimmungen mehr oder weniger kompliziert in die bisherigen (für die Auslieferung außerhalb der EU weitergeltenden) Regelungswerke zu integrieren (in Deutschland ist dabei ein ziemliches unübersichtliches IRG herausgekommen). Den Paradigmenwechsel, den der RbEuHb aus EU-rechtlicher Sicht darstellt, sollte man jedenfalls im Hinterkopf behalten, um die Erkenntnismöglichkeiten, die die RbEuHb-Rechtsprechung des EuGH für die hier interessierende Frage (Art. 16 Abs. 2 Satz 1 GG) bietet, letztlich nicht überzubewerten.

Mit Diskriminierungsfragen wegen der Staatsangehörigkeit hat sich der EuGH in den drei RbEuHb-Fällen Kozowski, Wolzenburg und Lopes Da Silva Jorge befaßt. In allen drei Fällen ging es um die Bestimmung des Art. 4 Nr. 6 RbEuHb (Hervorhebung hier):

Artikel 4
Gründe, aus denen die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls abgelehnt werden kann

Die vollstreckende Justizbehörde kann die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls verweigern,

[…]

6. wenn der Europäische Haftbefehl zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe oder einer freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung ausgestellt worden ist, sich die gesuchte Person im Vollstreckungsmitgliedstaat aufhält, dessen Staatsangehöriger ist oder dort ihren Wohnsitz hat und dieser Staat sich verpflichtet, die Strafe oder die Maßregel der Sicherung nach seinem innerstaatlichen Recht zu vollstrecken;

Hier liegt also ein Fall vor, in dem das EU-Sekundärrecht selbst eine Unterscheidung nach der Staatsangehörigkeit vorsieht – mehr noch: sie nicht nur erlaubt, sondern sogar anordnet. Es stellt zwar fremde Staatsangehörige (ohne zwischen Unionsbürgern und Drittstaatsangehörigen zu unterscheiden) den eigenen Staatsangehörigen des Vollstreckungsstaates gleich, aber unter der zwingenden Voraussetzung, daß sie sich dort aufhalten oder einen Wohnsitz haben. Es war aber nicht diese sekundärrechtliche Ungleichbehandlung, die Anlaß für die Vorlageverfahren war, sondern noch weitergehende Ungleichbehandlungen, die das jeweilige nationale Recht in Umsetzung dieser Regelung vorsah.

Der erste Fall – Kozowski – kam aus Deutschland und betraf die Übergabe (nach deutscher Terminologie: Auslieferung) eines polnischen Staatsangehörigen (also eines Unionsbürgers) an Polen. In Deutschland ist Art. 4 Nr. 6 RbEuHb so umgesetzt, daß im Fall eigener Staatsangehöriger die Auslieferung verweigert werden muß (§ 80 Abs. 3 IRG), während sie in den übrigen Fällen (Unionsbürger und Drittstaatsangehörige) unter der weiteren Voraussetzung verweigert werden kann (Ermessen), daß der Betroffene ein „schutzwürdiges Interesse an der Strafvollstreckung“ in Deutschland hat (§ 83b Abs. 2 b) IRG). Hier fragte sich das OLG Stuttgart, ob ein Verstoß gegen das Diskriminierungsverbot des damaligen Art. 12 EG (heute Art. 18 AEUV) vorliegt (Beschluß vom 14. Februar 2008 – 3 Ausl 69/07). Eine Antwort des EuGH auf diese Frage blieb aus, da – wie der EuGH aufgrund einer weiteren, vorrangigen Frage des OLG feststellte – der Betroffene in Deutschland sich weder im Sinne von Art. 4 Nr. 6 RbEuHb „aufhielt“ noch einen „Wohnsitz“ hatte (EuGH, Urteil vom 17. Juli 2008 – C-66/08). Auf die weitere Differenzierung des deutschen Rechts kam es also nicht an.

Der Fall Wolzenburg betraf die Umsetzung des RbEuHb in den Niederlanden. Wie in Deutschland wird nach dem dortigen Umsetzungsrecht bei eigenen Staatsangehörige der Ablehnungsgrund des Art. 4 Nr. 6 RbEuHb immer angewandt, bei fremden Staatsangehörige (Unionsbürgern und Drittstaatsangehörigen) hingegen nur dann, wenn diese mindestens fünf Jahre ununterbrochen in den Niederlanden gelebt hatten. Der EuGH erklärte diese Ungleichbehandlung für gerechtfertigt (erklärte aber darüber hinausgehende formelle Anforderungen für unzulässig; Urteil vom 6. Oktober 2009 – C-123/08).

Der Fall Lopes Da Silva Jorge schließlich betraf Frankreich, wo die am weitest gehende Ungleichbehandlung vorgesehen war: Der Verweigerungsgrund des Art. 4 Nr. 6 RbEuHb wurde nur geltend gemacht, wenn der Betroffene französischer Staatsangehöriger ist (Art. 695-24 n° 2 CPP). Der EuGH hat erklärt, daß dieser pauschale und automatische Ausschluß von Unionsbürgern gegen Art. 18 AEUV verstößt (Urteil vom 5. September 2012 – C-42/11).

Die im RbEuHb selbst bereits enthaltene Ungleichbehandlung, die in dem zusätzlichen Erfordernis des Aufenthalts oder Wohnsitzes liegt, sprach der EuGH in den drei Entscheidungen nicht explizit an. Die in den Entscheidungen angegeben Gründe, warum bestimmte Differenzierungen zulässig sind und andere nicht, decken aber auch unausgesprochen diese sekundärrechtliche Ungleichbehandlung ab: Gemeinsam ist den drei Entscheidungen der Ausgangspunkt, daß Unterscheidungen zulässig sind, wenn sie am Ziel der sozialen Reintegration des Betroffenen während und nach der Strafverbüßung ausgerichtet sind. Im Fall Kozowski erfaßt dieser Gesichtspunkt schon das Verständnis des Tatbestandsmerkmals des „Aufenthalts“. Die Differenzierungen, seien sie schon auf unionsrechtlicher Ebene oder erst auf nationaler Ebene vorgenommen, sind gerechtfertigt, wenn der Unterscheidungsgrund dieses Ziel ist. Dafür dürfen sie auch typisierend an Umstände wie die Staatsangehörigkeit oder die Dauer des Aufenthalts anknüpfen. Deshalb war die Regelung in der Niederlanden zulässig (die Frist war im übrigen abgestimmt auf aufenthaltsrechtliche Fristen in EU-Vorschriften) und die französische mit ihrer ausschließlichen Anknüpfung an die Staatsangehörigkeit unzulässig.

Was heißt das für Art. 16 Abs. 2 Satz 1 GG? Die Entscheidung des EuGH im Fall Lopes Da Silva Jorge dürfte belegen, daß die kategorische Privilegierung des Art. 16 Abs. 2 Satz 1 GG allemal unzulässig ist. Auch wenn der Fall Lopes Da Silva Jorge in der Sondermaterie RbEuHb spielt (die auch im Grundgesetz separat geregelt ist, Art. 16 Abs. 2 Satz 2 GG), so war doch der Prüfungsmaßstab, an dem das „Franzosenprivileg“ gescheitert war, nicht (nur) der RbEuHb, sondern (auch) Art. 18 AEUV. Und da, wie oben ausgeführt, auch die Auslieferung von Unionsbürgern an Drittstaaten dem Anwendungsbereich von Art. 18 AEUV ohne Zweifel unterfällt, stellt sich eigentlich nur die Frage, ob die referierte Rechtsprechung etwas dafür hergibt, daß „Zwischentöne“ möglich sind. Etwa solcher Art: Die „Anwendungserweiterung“ von Art. 16 Abs. 2 Satz 1 GG auf Unionsbürger gilt nur, soweit sie ihre Lebensgrundlage in Deutschland haben (analog Fall Kozowski). Oder sie gilt sogar nur ab einem fünfjährigen Daueraufenthalt (analog Fall Wolzenburg). Aber wer sollte diese normative Festlegung treffen? Der Gesetzgeber, der verfassungsändernde Gesetzgeber, das BVerfG? Mit einer solchen Differenzierung kämen Unionsbürger in den Schutz der Auslieferungsfreiheit, die – wie möglicherweise „P.“ – schon lange oder immer in Deutschland leben, aber nicht Unionsbürger, die – wie Roman Polański oder der LKW-Fahrer Bickel – nur vorübergehend ihr Recht auf Freizügigkeit ausüben.

Es ist eher unwahrscheinlich, daß sich die Differenzierungsmöglichkeiten, die der EuGH in den drei Entscheidungen zum RbEuHb aufgezeigt hat, übertragen lassen auf den Fall der Außenauslieferung, um den es bei Art. 16 Abs. 2 Satz 1 GG geht. Dieser ist schon im Ausgangspunkt anders gelagert. Der RbEuHb ist ein Baustein des „Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“, den die EU bildet (Art. 3 Abs. 2 EUV). Er geht von dem Prinzip aus, daß die Mitgliedstaaten Justizentscheidungen aus anderen Mitgliedstaaten wie eigene behandeln. Wird gemäß Art. 4 Nr. 6 RbEuHb die Übergabe von einem Mitgliedstaat zulässig verweigert, dann ist der Fall nicht abgeschlossen, sondern beginnt eigentlich erst. Dann wird die in dem ersuchenden Mitgliedstaat verhängte Strafe im ersuchten Mitgliedstaat vollstreckt. Damit ist Art. 4 Nr. 6 RbEuHb – und die Parallelvorschrift des Art. 5 Nr. 3 RbEuHb – der Sache nach weniger eine Regelung zur „Auslieferungsfreiheit“ als eine Zuständigkeitsvorschrift. Der RbEuHb regelt hier indirekt die örtliche Zuständigkeit für die Vollstreckung eines EU-weit gültigen Strafurteils, sei es eines bereits vorliegenden (Art. 4 Nr. 6 RbEuHb) oder eines noch zu sprechenden (Art. 5 Nr. 3 RbEuHb). Nur vor diesem Hintergrund konnte der EuGH das Ziel der sozialen Reintegration als zulässiges Differenzierungskriterium aufstellen.

Völkerrechtsverstoß? / Strafbarkeitslücke?

Nach dem Vorstehenden spricht mehr dafür als dagegen, daß der EuGH das „Deutschenprivileg“ aus Art. 16 Abs. 2 Satz 1 GG für gemäß Art. 18 AEUV unzulässig erklären wird und daß es zur „vertraglich veranlaßten Anwendungserweiterung“ kommen muß, mit der der Erste Senat des BVerfG diese Normenkollision gelöst hat. Deshalb ist ein Blick auf mögliche negative Folgen dieser Erweiterung angebracht, zumal die Folgenbetrachtung ihrerseits ein anderes Ergebnis der Kollisionsfrage nahelegen könnte.

Die naheliegende Frage ist, ob es – im Fall P. und allen künftigen Fällen – nicht einen Verstoß gegen den deutsch-amerikanischen Auslieferungsvertrag – und damit gegen das Vertragsvölkerrecht – darstellt, wenn Deutschland unter Hinweis auf Art. 18 AEUV die Auslieferung von Unionsbürgern ablehnen muß und der Anwendungsbereich des gesamten Vertrags ohne Neuverhandlung auf Drittstaatsangehörige beschränkt wird. Denn Art. 7 Absatz 1 Satz 1 des Vertrages bestimmt als Ausnahme von der Auslieferungspflicht (Art. 1) unmißverständlich:

Die Vertragsparteien sind nicht verpflichtet, ihre eigenen Staatsangehörigen auszuliefern.

Wie immer eine solche mögliche Kollision zwischen dem EU-Primärrecht und völkerrechtlichen Verpflichtungen gelöst werden mag, eines sollte klar sein: Die rechtliche Klärung dieses Problems (ob es vorliegt und wie es gelöst werden kann) unterfällt primär wiederum der Rechtsprechung des EuGH. Die Frage eines möglichen Völkerrechtsverstoßes spricht also nicht gegen die Vorlagepflicht (etwa im Sinne einer mangelnden Entscheidungserheblichkeit), sondern zusätzlich für sie.

Selbst wenn man zu dem (allerdings unwahrscheinlichen) Ergebnis kommen sollte, daß für eine Übergangszeit die vertragliche Verpflichtung Vorrang haben muß, so wäre durch eine Unvereinbarkeitserklärung zu Art. 16 Abs. 2 Satz 1 GG und Art. 18 AEUV klargestellt, daß die Bundesregierung mit der Regierung der USA in Verhandlungen über eine Änderung des Vertrages eintreten, notfalls ihn auch kündigen muß.

Allerdings läßt sich argumentieren, daß ohnehin schon keine Kollision mehr besteht, seit das Auslieferungsabkommens zwischen der EU und den USA – am 1. Februar 2010 (BGBl. 2010 II S. 829) – in Kraft getreten ist. Dessen Art. 17 Abs. 2 bestimmt nämlich:

In den Fällen, in denen die Verfassungsgrundsätze des ersuchten Staates oder die für diesen verbindlichen endgültigen richterlichen Entscheidungen ein Hindernis für die Erfüllung seiner Auslieferungspflicht darstellen können und dieses Abkommen oder der geltende bilaterale Vertrag keine Regelung dieser Angelegenheit vorsehen, konsultieren sich der ersuchte und der ersuchende Staat.

Mit dieser flexibleren Öffnungsklausel des Auslieferungsabkommen zugunsten von Verfassungsgrundsätzen könnte auch der vorliegende Fall einer nachträglich anerkannten Anwendungserweiterung abgedeckt sein.

Eine – und sei es auch nur vorübergehende – Strafbarkeitslücke dürfte die Anwendungserweiterung nicht hinterlassen: Die Verfassungsvorschrift des Art. 16 Abs. 2 Satz 1 GG wird materiell-strafrechtlich flankiert durch § 7 Abs. 2 Nr. 1 StGB. Weil Deutsche nicht ausgeliefert werden dürfen, die von ihnen im Ausland begangenen Straftaten aber auch nicht straffrei bleiben sollen, sind Auslandstaten Deutscher nach deutschem Recht strafbar. Erlangen durch Anwendungserweiterung auch nichtdeutsche Unionsbürger die Auslieferungsfreiheit nach Art. 16 Abs. 2 Satz 1 GG, so kann das wegen des strafrechtlichen Analogieverbots zwar nicht bewirken, daß sie „Deutsche im Sinne des Strafgesetzbuchs“ sind. Doch für sie gilt die Vorschrift des § 7 Abs. 2 Nr. 2 StGB. Wegen des neu erkannten Verfassungshindernisses ist ihre Auslieferung im Sinne der Vorschrift „nicht ausführbar“ (im übrigen setzt die Vorschrift nur voraus, daß das Auslieferungsgesetz die Auslieferung „nach der Art der Tat“ – nicht nach der Person – zuließe).

Diskriminierungspflicht contra Diskriminierungsverbot?

Es ist kein Geheimnis, daß die Beziehung zwischen dem BVerfG und dem EuGH nicht frei von Spannungen ist, wenn es um das Verhältnis zwischen nationaler Souveränität und europäischer Integration geht. Ausgerechnet in dieses Wespennest sticht die Frage nach der Vereinbarkeit von Art. 16 Abs. 2 Satz 1 GG mit Art. 18 AEUV. Deshalb kann es nicht sein Bewenden dabei haben, die Frage nur aus der Sicht des Unionsrechts zu betrachten und so zu tun, als wäre das deutsche Auslieferungsverbot des Art. 16 Abs. 2 Satz 1 GG ein „Routinefall“ einer Diskriminierungsüberprüfung wie das (mit Art. 18 AEUV für unvereinbar erklärte) französische Auslieferungshindernis des Art. 695-24 n° 2 CPP.

In seiner Grundsatzentscheidung zum Europäischen Haftbefehl (Urteil vom 18. Juni 2005 – 2 BvR 2236/04) hat der Zweite Senat des BVerfG nämlich Art. 16 Abs. 2 GG sehr hoch gehängt. Er schrieb:

Die Unionsbürgerschaft ist – ungeachtet ihrer sonstigen Bedeutung (vgl. BVerfGE 89, 155 <184>) – ein abgeleiteter und die mitgliedstaatliche Staatsangehörigkeit ergänzender Status (Art. 17 Abs. 1 Satz 2 EG); auch Art. I-10 Abs. 1 Satz 2 des Vertrages über eine Verfassung für Europa hält daran fest, wenn er bestimmt, dass die Unionsbürgerschaft zur nationalen Staatsbürgerschaft hinzutritt, ohne diese zu ersetzen. Dem entsprechend ist auch das gemeinschaftsrechtliche Verbot der Diskriminierung nach der Staatsangehörigkeit nicht umfassend angelegt, sondern gilt im Einklang mit dem Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung nur für die vertraglich festgelegten Ziele, insbesondere im Rahmen der Grundfreiheiten. Dies trägt zugleich dazu bei, dass die Mitgliedstaaten ihre auch vom Unionsrecht geschützte nationale Identität bewahren können (Art. 6 Abs. 3 EU), die in der jeweiligen grundlegenden politischen und verfassungsrechtlichen Struktur zum Ausdruck kommt (vgl. Hilf/Schorkopf, in: Grabitz/Hilf , Recht der Europäischen Union, Art. 6 EU Rn. 78 ff. und Art. I-5 Abs. 1 des Vertrages über eine Verfassung für Europa).

Diese Passage hat Verfassungsrichterin Lübbe-Wolff in einem Sondervotum als „fallabgehobene Aussendung dunkler Signale an den EuGH“ scharf kritisiert und sie ist nur ein Beispiel dafür, daß das BVerfG (die damalige Senatsmehrheit) gerade das Grundrecht der Auslieferungsfreiheit zu einer Bastion gegen eine ihm zu weit gehende Aushöhlung von Eigenstaatlichkeit aufzubauen gedachte (damals sogar gegenüber dem verfassungsändernden Gesetzgeber).

Daß ausgerechnet die Auslieferungsfreiheit eine solche Karriere machen und geradezu zu einem Teil der „nationalen Identität“ stilisiert werden würde, war nicht absehbar. In den 1950er Jahren hatte sich das BVerfG demgegenüber noch reichlich lieblos über dieses Grundrecht geäußert (Urteil vom 06.10.1955 – 1 BvR 85/55):

Als Verfassungsgrundsatz ist er jedoch erst durch die Weimarer Reichsverfassung anerkannt worden. Ein „natürliches Recht“ des Beschwerdeführers, als deutscher Staatsangehöriger nicht ausgeliefert zu werden, ist unter diesen Umständen nicht anzuerkennen.

Es kommt danach allein darauf an, welche positive Entscheidung das Grundgesetz über die Auslieferung Deutscher getroffen hat.

Es ging in der Entscheidung des BVerfG von 2005 wohlgemerkt darum, ob die Einschränkungen des Grundrechtsschutzes für Deutsche – zum einen durch die Änderung von Art. 16 Abs. 2 GG und zum anderen durch die Umsetzung des neuen Art. 16 Abs. 2 Satz 2 GG im Europäischen-Haftbefehls-Gesetz – gegen das Grundgesetz verstieß. Im vorliegenden Fall geht es demgegenüber um die Frage, ob die Ausweitung von Grundrechtsschutz (auf Unionsbürger) möglicherweise gegen das Grundgesetz verstößt. Mit anderen Worten: Ob sich aus dem Grundgesetz eine dem Diskriminierungsverbot des AEUV gegenläufige „Diskriminierungspflicht“ ergibt, eine Pflicht, die besteht, um die Verfassungsidentität zu schützen. Abwegig ist das nicht. So ist das Lebenspartnerschaftsgesetz vor dem BVerfG von der Opposition mit dem Argument angegriffen worden, der „besondere Schutz“, den Art. 6 Abs. 1 GG der Ehe gewährleistet, erfordere es, daß andere Lebensgemeinschaften ihr gegenüber benachteiligt werden. Ein Freiheitsrecht kann durch die Aufstellung eines solchen „Abstandsgebots“, also eine Pflicht zur Benachteiligung umfassen (im damaligen Fall ist das BVerfG dem allerdings nicht gefolgt: Urteil vom 17. Juli 2002 – 1 BvF 1/01). Der Gedanke der Pflicht zur Ausschließung von Rechten spielt gerade auch in der Diskussion um die europäische Integration eine Rolle (Huber, Unionsbürgerschaft, EuR 2013, 637, 638: „Mindestmaß an Exklusionsmechanismen“).

Ob tatsächlich das BVerfG so weit geht, die Verfassungsidentität Deutschlands dadurch verletzt zu sehen, daß Unionsbürger in den Schutz des Art. 16 Abs. 2 GG einbezogen werden, während das bei allen anderen Deutschengrundrechten nicht der Fall ist, erscheint zweifelhaft. Es bleibt von der „Exklusion“, falls sie tatsächlich erforderlich ist, immer noch genug übrig, in Form der Diskriminierung der Drittstaatsangehörigen.

Aber selbst, wenn das BVerfG bei einer „vertraglich veranlaßten Anwendungserweiterung“ von Art. 16 Abs. 2 GG die Grenzen des Art. 23 GG überschritten sehen sollte, so dürfte dies nicht zur Folge haben, daß es von einer Vorlage nach Art. 267 AEUV absehen kann. Nach den vom BVerfG selbst aufgestellten „Spielregeln“ im „europäischen Verfassungsgerichtsverbund“ (dazu der Beitrag Kampfansagen gegen den EuGH – aus Karlsruhe und München) müßte das BVerfG wohl zunächst dem EuGH durch eine Vorlage Gelegenheit geben, seine Anschauung von der Reichweite des EU-Rechts argumentativ darzulegen, bevor es sie als „identitätsverletzenden Akt“ mit Nichtachtung strafen darf.

In diesem hypothetischen Fall würde sich dann die Frage stellen, ob zumindest der verfassungsändernde Gesetzgeber die Kompetenz hat, die entstandene Kollision zu lösen oder ob auch die explizite Einführung eines einheitlichen Schutzniveaus für Unionsbürger in das Grundgesetz gegen den Identitätsschutz verstößt. Darf er das (vgl. die Erstreckung des Kommunalwahlrechts auf Unionsbürger durch Änderung von Art. 28 GG), dann liegt auch kein Konflikt zwischen dem EuGH und dem BVerfG vor, denn aus Sicht des EU-Rechts ist es gleichgültig, auf welche Weise ein Verstoß gegen EU-Recht behoben wird.

Ergebnis

Gemessen an der bisherigen Rechtsprechung des EuGH sprechen die besseren Gründe dafür, daß die Beschränkung der Auslieferungsfreiheit nach Art. 16 Abs. 2 Satz 1 GG auf Deutsche gegen Art. 18 AEUV verstößt. Nach der Rechtsprechung des BVerfG dürfte dies zur Folge haben, daß dieses Grundrecht unmittelbar auch für nichtdeutsche Unionsbürger gilt.

Unabhängig davon, wie diese Fragen beantwortet werden, besteht in Auslieferungsverfahren, die Unionsbürger betreffen, unzweifelhaft eine Pflicht der Gerichte – einschließlich des BVerfG -, gem. Art. 267 Abs. 3 AEUV dem EuGH die Frage der Reichweite von Art. 18 AEUV vorzulegen.

Und Roman Polański wird vielleicht bald auch in Deutschland wieder Filme drehen können.

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