De legibus-Blog

9. Juni 2013

Wird die Bremer Justiz den BGH austricksen?

Oliver García

Wie geht die Strafjustiz mit Fehlern um, wie steht es um ihre Fehlerkultur? Diese Frage stellt sich nicht erst seit dem Fall Mollath. Wer in der öffentlichen Diskussion Fehlentwicklungen kritisiert, dem wird oft aus Richter- und Staatsanwaltskreisen geantwortet: Es gebe ihn doch, den wirksamen Fehlervermeidungsmechanismus – nämlich das Rechtsmittelsystem.

Wie wirksam dieser Mechanismus wirklich ist, läßt sich am Fall des seit 2005 anhängigen Bremer Brechmittelprozesses studieren. Bereits zweimal hat der BGH Entscheidungen des LG Bremen aufgehoben, mit denen der angeklagte Polizeiarzt (genauer: Arzt beim Beweissicherungsdienst am Institut für Rechtsmedizin) freigesprochen worden war. Der Arzt hatte einen mutmaßlichen Kleindealer am 27. Dezember 2004 bei dem Versuch getötet, durch Gabe von Brechmittel und mit Hilfe eines Holzspatels einiger Kokainkügelchen habhaft zu werden, die dieser verschluckt hatte.

Ursprünglich war der Arzt wegen fahrlässiger Tötung angeklagt worden. Den Freispruch hatte nicht die Staatsanwaltschaft, sondern die Nebenklage – die Mutter und der Bruder des Getöteten – angefochten. Der BGH hob das Urteil wegen vielfältiger Fehler auf (Urteil vom 29. April 2010 – 5 StR 18/10). Er verwies das Verfahren zurück, aber nicht mehr an eine einfache Strafkammer, sondern an eine Schwurgerichtskammer, da nach seiner Meinung keine bloße fahrlässiger Tötung (§ 222 StGB) im Raum stand, sondern eine vorsätzliche Körperverletzung mit Todesfolge (§ 227 StGB).

Die neue Hauptverhandlung vor der Schwurgerichtskammer endete wieder mit einem Freispruch. Auch dieses Urteil focht nicht die Staatsanwaltschaft an, sondern die Mutter des Getöteten als Nebenklägerin (der Bruder als weiterer Nebenkläger war zwischenzeitlich gestorben). Auf ihre Revision hin hob der BGH auch den zweiten Freispruch auf (Urteil vom 20. Juni 2012 – 5 StR 536/11). Bei der mündlichen Urteilsbegründung fand der Vorsitzende des 5. Strafsenats Clemens Basdorf scharfe Worte: Das Bremer Urteil sei „grotesk falsch“. Auch in der schriftlichen Urteilsbegründung legten die Revisionsrichter die Zurückhaltung, die noch ihrer ersten Entscheidung anzumerken war, ab und sprachen die entscheidende Punkte selbst aus: Auf der Grundlage der landgerichtlichen Feststellungen hätte der Angeklagte zumindest wegen vorsätzlicher Körperverletzung bestraft werden müssen. Aber auch die Verneinung der Vorhersehbarkeit des Todeserfolgs und damit von § 227 StGB sei unhaltbar. Die Vorhersehbarkeit stehe „nicht in Frage“. Die Begründung des BGH läßt keine Zweifel daran, daß er selbst nunmehr den Schuldspruch vorgenommen hätte, wenn das Revisionsrecht diese Möglichkeit vorsehen würde.

Vor diesem Hintergrund ist es mehr als bemerkenswert, daß vorletzte Woche die Vorsitzende der nun zuständigen Schwurgerichtskammer des LG Bremen, Barbara Lätzel, mitteilte, daß sie eine Einstellung des Verfahrens anstrebe. Wie kann das gehen? Der Plan ist folgender: Der Anklagevorwurf soll in einem ersten Schritt wieder zurückgestuft werden auf fahrlässige Körperverletzung, also von einem Verbrechen auf ein Vergehen (§ 12 StGB). Ein Verfahren wegen eines Vergehens kann nämlich – in einem zweiten Schritt – nach § 153 Abs. 2 StPO eingestellt werden, „wenn die Schuld des Täters als gering anzusehen wäre und kein öffentliches Interesse an der Verfolgung besteht“. Das Charmante daran: Eine solche Verfahrenseinstellung bedarf keiner Zustimmung durch die Nebenklägerin. Es genügt eine Einigkeit zwischen Gericht, Staatsanwaltschaft und dem Angeklagten – und diese drei „Parteien“ sind sich ohnehin schon seit Jahren einig. Eine Verfahrensbeendigung durch Einstellung statt durch Freispruch ist für die Nebenklägerin nicht mit der Revision anfechtbar.

Es geht also Lätzel darum, einen toten Winkel des Strafprozeßrechts auszunutzen, in dem der 5. Strafsenat des BGH, der immer wieder dazwischengefunkt hat, keinen Zugriff hat. Ist das unseriös? Gerichtssprecher Thorsten Prange beantwortete die Frage auf bündige Weise: „Das Gericht würde niemals eine unseriöse Entscheidung treffen.“ Hatte Prange letztes Jahr auch mitgeteilt, daß das Gericht niemals eine „grotesk falsche“ Entscheidung treffen würde?

Auch ein Sprecher der Staatsanwaltschaft Bremen nahm Stellung und teilte mit, sie entscheide über die Zustimmung zu einer solchen Einstellung nur nach Recht und Gesetz und nicht „als Spielball der Öffentlichkeit“. Nun, die abzuwimmelnde Öffentlichkeit, die er dabei als erstes im Blick hat, ist die Schwarmintelligenz von fünf Richtern am BGH („Die BGH-Entscheidungen in allen Ehren“).

Auf die Bindung des Landgerichts an die rechtliche Beurteilung in beiden BGH-Urteilen (§ 358 Abs. 1 StPO) hatte der BGH in seinem letzten Urteil mehrfach eindringlich hingewiesen. Von dieser Bindungswirkung unberührt bleibt die Möglichkeit, daß sowohl das Gericht als auch die Staatsanwalt aufgrund neuer Erkenntnisse von einem anderen Sachverhalt ausgehen, als er früher festgestellt worden war. Auf diesen Aspekt wies nun die Staatsanwaltschaft hin (der Angeklagte habe erstmalig ausgesagt), während die Nebenklagevertreterin, Rechtsanwältin Elke Maleika, sich äußerte, von neuen Erkenntnissen sei an keinem der Prozeßtage etwas zu bemerken gewesen.

So kann sie also aussehen, die Richtigkeitsgewähr durch das Rechtsmittelsystem. Wenn es zu ungewünschten Ergebnissen führt, wird es im kollusiven Zusammenwirken zwischen Gericht und Staatsanwaltschaft ausgeschaltet (eine Praxis, die übrigens das BVerfG im Zusammenhang mit der „Verständigung“ kürzlich als verfassungswidrig bezeichnete: Urteil vom 19. März 2013 – 2 BvR 2628/10). Am Freitag, dem 14. Juni 2013, soll am LG Bremen die Entscheidung über dieses „Umgehungsgeschäft“ fallen.

Wenn die Vorsitzende Richterin Barbara Lätzel die Chancen und Risiken ihres Plans vollständig geprüft hat, wird ihr bewußt sein, daß ihre Lösung nicht nur rechtswidrig sein könnte, sondern auch anfechtbar ist. Sie wird sich eingehend mit dem Beschluß des OLG Hamm vom 16. November 1999 – 3 Ws 638/99 – auseinandergesetzt haben und wissen, daß weder § 153 Abs. 2 Satz 4 StPO noch § 400 Abs. 2 Satz 2 StPO verhindert, daß der Einstellungsbeschluß, wenn es zu ihm kommt, durch die Nebenklägerin mit der Beschwerde vor dem OLG Bremen angefochten werden kann. Die Richtigkeit dieser Gesetzesauslegung durch das OLG Hamm wird durch eine Kontrollüberlegung bestätigt: Eine Einstellung nach § 153 StPO hat keinen Strafklageverbrauch für Verbrechenstatbestände zur Folge (BGH, Beschluß vom 26. August 2003 – 5 StR 145/03). Der Nebenkläger, dem eine Beschwerde gegen eine solche Einstellung versagt würde, könnte also nach der Einstellung ein Klageerzwingungsverfahren nach § 172 Abs. 2 StPO anstrengen, mit dem Ziel, daß eine erneute Anklage wegen des ausgeschiedenen Verbrechensvorwurfs erhoben wird.

Nach § 153 StPO können nur Verfahren, die ein Vergehen zum Gegenstand haben, eingestellt werden und derzeit hat es noch ein Verbrechen zum Gegenstand. Obwohl die Anklage ursprünglich nur auf fahrlässige Tötung lautete, ist bereits durch die erste BGH-Entscheidung sowohl inhaltlich (bindende Äußerungen zur Rechtslage) als auch formell (Zurückverweisung an die Schwurgerichtskammer) ein Verbrechen Gegenstand geworden. Eine nachträgliche „Zurückstufung“ auf ein Vergehen ist zwar denkbar, aber durch das OLG nachprüfbar. Nach den Maßstäben aus dem Beschluß des OLG Hamm dürfte sie hier nicht möglich sein. Denn die zweite BGH-Entscheidung hat – wiederum mit Bindungswirkung für das Landgericht – herausgearbeitet, daß den Angeklagten nur ein „vorsatzausschließender Erlaubnistatbestandsirrtum infolge Verkennung der für den Verstorbenen bestehenden Gefahrenlage“ entlasten kann. Wenn die neuen Feststellungen, die die Kammer aufgrund der nun erstmaligen Aussagen des Angeklagten trifft, darauf zielen sollten, würden sie nicht die von Lätzel beabsichtigte „Zurückstufung“ erlauben. Genau ein solcher Fall lag dem OLG Hamm nämlich vor und es hat überzeugend ausgeführt, daß das Vorliegen eines Rechtfertigungsgrundes oder gar ein Irrtum darüber nichts daran ändert, daß Verfahrensgegenstand ein Verbrechen ist:

Das mögliche Vorliegen eines Rechtfertigungsgrundes ändert nämlich nichts an der Charakterisierung der verfahrensgegenständlichen Tat als Verbrechen. Verbrechen sind nach § 12 Abs. 1 StGB rechtswidrige Taten, die im Mindestmaß mit Freiheitsstrafe von einem Jahr oder darüber bedroht sind, Vergehen dagegen solche rechtswidrige Taten, die im Mindestmaß mit einer geringeren Freiheitsstrafe oder die mit Geldstrafe bedroht sind. Diese Zweiteilung der Straftaten drückt den grundsätzlichen Schweregrad der Tat nach Unrecht und Schuld aus, die aber allein an die abstrakt für den Regelfall (§ 12 Abs. 3 StGB) angedrohte Mindeststrafe und nicht etwa an die Beweisbarkeit des Vorwurfs oder aber an die Nichtwiderlegbarkeit des Bestehens möglicher Rechtfertigungsgründe anknüpft. Die Rechtswidrigkeit der Tat wird vielmehr in § 12 Abs. 1 StGB sowohl für das Verbrechen als auch für das Vergehen vorausgesetzt und ist deshalb kein taugliches Abgrenzungskriterium zwischen beiden.

Nachtrag vom 14. Juni 2013

Im heutigen Hauptverhandlungstermin haben sich Anklage, Verteidigung und Nebenklage gegen eine Einstellung zum jetzigen Zeitpunkt ausgesprochen. Die Beweisaufnahme wird fortgesetzt.

Nachtrag vom 3. Januar 2014

Die Schwurgerichtskammer hat mit Beschluß vom 31. Oktober 2013 (21 Ks 607 Js 1237/05) das Verfahren nach § 153a Abs. 2 StPO vorläufig eingestellt. Diese Entscheidung erfolgte mit der – eigentlich nicht erforderlichen – Zustimmung der Nebenklägerin, so daß eine Anfechtung nicht zu erwarten war. Bemerkenswert ist die ungewöhnliche Auflage, an die die Einstellung geknüpft ist: Der Angeklagte hat einen Geldbetrag nicht an eine gemeinnützige Einrichtung oder die Staatskasse zu zahlen (§ 153a Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 StPO), sondern an die Nebenklägerin.

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