Am vergangenen Montag hat die Staatsanwaltschaft Regensburg im Fall Gustl Mollath ihren Wiederaufnahmeantrag gestellt (Az. 7 Kls 151 Js 22423/12 WA). Mittlerweile ist er auch im Volltext zugänglich. Mollaths Verteidiger Gerhard Strate hat die gerade in diesem Fall so nötige Transparenz hergestellt und auch diesen Antrag, zusammen mit der Stellungnahme der Staatsanwaltschaft zu dem Wiederaufnahmeantrag der Verteidigung, veröffentlicht.
Es gibt Punkte, in denen man am Wiederaufnahmeantrag und, mehr noch, an der genannten Stellungnahme Kritik üben kann. Doch sollte die Unzufriedenheit über Auslassungen und darüber, daß die Staatsanwaltschaft den Fall nicht in einem solchen Maße insgesamt aufgeklärt hat, wie es wünschenswert wäre, nicht verdecken, daß der Wiederaufnahmeantrag, soweit er reicht, ein beeindruckendes Dokument des Willens der Staatsanwaltschaft ist, die Wahrheit herauszufinden und auf diesem Wege Mollath Gerechtigkeit – notwendig späte Gerechtigkeit – widerfahren zu lassen. Und bei dem bloßen Willen ist es nicht geblieben: Die in dem Antrag ausführlich dargestellten Ermittlungen und die Bewertung ihrer Ergebnisse durch die Staatsanwaltschaft stellen nichts geringeres dar als die klarste Rehabilitierung von Gustl Mollath.
Die Ermittlungen lesen sich streckenweise spannend wie ein Kriminalroman und sie kommen zu dem Ergebnis, daß nicht etwa lediglich die eine oder andere Stelle des Urteils gegen Mollath in einer Weise erschüttert wäre, die gerade so ausreicht für eine Wiederaufnahme. Nein, der Wiederaufnahmeantrag erklärt mit zwingender Prägnanz das Urteil für wertlos in seiner Substanz und pulverisiert es insgesamt.
Für die Statik des Urteils kam es auf zwei tragende Säulen an. Die erste Säule: Bei den Mollath zur Last gelegten Straftaten zum Nachteil seiner Frau (Körperverletzung und Freiheitsberaubung) stand zwar Aussage gegen Aussage. Das Gericht war aber von seiner Täterschaft überzeugt aufgrund der Aussage der Frau. Ihr sei unter anderem zu glauben gewesen, weil sie „ohne jeden Belastungseifer“ gewesen sei. Die zweite Säule: Davon, daß Mollath sowohl in den Tatzeitpunkten als auch im Zeitpunkt der Verurteilung psychisch krank war, war das Gericht überzeugt aufgrund eines Gutachtens von Klaus Leipziger, der Mollath eine „wahnhafte Störung“ attestierte (Urteil, Seite 24).
Es ist in der öffentlichen Diskussion immer wieder – auch in mehreren Beiträgen dieses Blogs – darauf hingewiesen worden, daß der entscheidende Justizskandal im Fall Mollath darin liegt, daß – hinsichtlich beider Säulen – ein solch einschneidendes Urteil auf so dünner Grundlage gefällt wurde, wie es hier geschah. Jeder, der allein das Urteil las, konnte sehen, daß hier ein Beweismaß zugrunde gelegt wurde, das mit Gerechtigkeit, mit Rechtsstaatlichkeit allenfalls äußerlich etwas zu tun hatte (eingehend der Blogbeitrag zum Aspekt der niederschwelligen Psychiatrisierung und dazu, daß dies gerade kein Einzelfall ist). Da es – jedenfalls bis zum 30. April 2013 – der Ehrgeiz des 1. Strafsenats des BGH ist, auch noch das dubioseste Urteil zu „halten“, erhielt das Urteil gegen Mollath trotz seiner fehlenden rechtsstaatlichen Legitimität eine formelle – die Rechtskraft.
Beide Säulen, die für diesen formellen Rest entscheidend waren, sind nun ersatzlos weggesprengt. Die Staatsanwaltschaft weist auf mehreren Wegen nach, daß die (damalige) Ehefrau Mollaths und alleinige Belastungszeugin alles andere als „ohne jeden Belastungseifer“ war. Die Staatsanwaltschaft begnügt sich nicht damit, festzustellen, daß diese Annahme aufgrund neuer Erkenntnisse falsch war, sondern geht einen entscheidenden Schritt weiter und resümiert, daß „die Glaubwürdigkeit der Zeugin tiefgreifend erschüttert“ sei (Wiederaufnahmeantrag, Seite 89). Zurückgehend auf den Horizont des damalige Strafverfahrens bedeutet dies (auch wenn sich die Staatsanwaltschaft einer ausdrücklichen Wertung enthält, da diese für die Wiederaufnahmesituation fruchtlos wäre), daß es niemals zu einer Verurteilung, ja nicht einmal zu einer Anklage, hätte kommen dürfen. Die einzige unmittelbare Belastungszeugin war eine unglaubwürdige Zeugin und die – damals gar nicht gehörten – mittelbaren Zeugen (Arzt, Freundin) waren untaugliche Zeugen (da sie ihre Kenntnisse von der unglaubwürdigen Zeugin vermittelt bekamen).
In Asche gelegt wird von der Staatsanwaltschaft auch (ohne daß es darauf eigentlich noch ankäme) das Gutachten Leipzigers: Ein Glanzpunkt des Wiederaufnahmeantrags sind die in ihm wiedergegebenen mehrfachen Vernehmungen des Erlanger Forensik-Chefs Michael Wörthmüller, des zweiten der drei Psychiater, die die Weichen für Mollaths Psychiatrisierung gestellt haben, und seines Nachbarn, eines Finanzunternehmers. Es dürfte für Mollath heute eine Genugtuung sein, zu lesen, wie die beiden sich um Kopf und Kragen reden und in immer neue Widersprüche verstricken. Aufgrund dieser Vernehmungen steht jedenfalls ohne Zweifel fest: Die Annahme im Gutachten und im Urteil, daß Mollath Wörthmüller „völlig undifferenziert“ mit Schwarzgeldverschiebungen in Verbindung gebracht habe (Urteil, Seite 25), konnte falscher gar nicht sein. Erstens: Mollath äußerte sich keineswegs undifferenziert. Zweitens: Wörthmüller stand tatsächlich mit Personen in Verbindung, bei denen Mollath Schwarzgeldverschiebungen vermutete, nämlich mit besagtem Nachbarn und Duzfreund. Drittens: Es bestand durchaus der objektive Verdacht, Wörthmüller würde mit diesen Kreisen „gemeinsame Sache“ machen, denn er hatte Mollath tatsächlich ein „Gefälligkeitsgutachten“ unter der Bedingung angeboten, die Schwarzgeldvorwürfe würden unter den Tisch fallen. Dies bestätigte Wörthmüller gegenüber der Staatsanwaltschaft ausdrücklich, auch wenn er sich das Wort „Gefälligkeitsgutachten“ nicht zu eigen machen wollte (Wiederaufnahmeantrag, Seite 96). Auch die Staatsanwaltschaft ist ersichtlich davon überzeugt, daß hier von einem Wahn Mollaths keine Rede sein kann (Wiederaufnahmeantrag, Seite 99). Da für die Diagnose Wahn im Gutachten die Annahme tragend war, Mollath habe Wörthmüller ohne ersichtlichen Grund in den Kreis der „Schwarzgeldverschieber“ einbezogen, fällt diese Diagnose in sich zusammen.
Doch Mollath hat noch einen viel größeren Grund, Genugtuung zu empfinden: Die Vernehmungen bei der Staatsanwaltschaft haben nicht nur die Klärung ergeben, daß Mollaths Äußerungen in Hinsicht auf Wörthmüller Hand und Fuß hatten, sondern etwas viel Entscheidenderes (für die Gesamtbeurteilung der damaligen Lage, nicht so sehr für das Wiederaufnahmeverfahren): Wörthmüller gab eine Äußerung seines Nachbarn R., der als Finanzunternehmer mit den Kreisen um Mollaths Ex-Frau zumindest verbunden war, wieder, die ohne weiteres aufzeigt, daß sich aus diesen Kreisen heraus gegen Mollath etwas zusammenbraute (Wiederaufnahmeantrag, Seite 95):
Herr R. teilte mir nämlich mit, dass er sowieso vorgehabt hätte, mit mir über ein Problem zu sprechen, das sich in R.’s geschäftlichem Umfeld aufgetan hat. Herr R. erzählte mir anlässlich dieses Gesprächs, dass es da jemanden geben würde, der mit einer Trennungssituation (Ehe) offensichtlich nicht zurechtkommt. Diese Person löse in seinem geschäftlichen Umfeld erhebliche Verunsicherung aus. Im weiteren Verlauf des Gesprächs vermuteten Herr R. und ich, dass es sich bei dem „Besucher“ um genau diese Person gehandelt haben könnte. Herr R. erzählte mir über diese „verunsichernde Person“, dass diese wohl mit einer Trennung von dessen Ehefrau nicht zurechtkäme. Herr R. erzählte mir auch, dass besagte Ehefrau bei der HypoVereinsbank tätig sei oder gewesen sei und deren Mann, also die „verunsichernde Person“, Vorwürfe dahingehend erhebt, dass Gelder illegal ins Ausland, die Schweiz, verbracht worden sind. Es mag durchaus richtig sein, dass mir Herr R. – wie er Ihnen gegenüber angegeben hat – nicht so detailliert über diese Bargeldtransfers berichtet hat, wie ich es am 14.12.2012 Ihnen gegenüber angegeben habe.
Deutlicher kann wohl nicht zum Ausdruck kommen, daß Mollath – nun in einem bestimmten „geschäftlichen Umfeld“ als „verunsichernde Person“ wahrgenommen – allen Grund hatte, sich „verfolgt“ vorzukommen. Die Einbeziehung Wörthmüllers in die psychiatrische Bearbeitung des „wirtschaftlichen Gefährdungsfalles Mollath“ war demnach, wie Wörthmüller selbst angibt, bereits in Planung. Also genau der Umstand, den Leipziger später in seinem Gutachten als brillanten Beleg und Kernstück dafür aufnimmt, daß Mollath unter Paranoia leide. Immer wenn man meint, der Fall Mollath könnte nicht noch skurriler und – im umgangssprachlichen Sinne – wahnsinniger werden, gibt es eine neue Wendung wie diese. Fast zur Abrundung weist die Staatsanwaltschaft auf den Umstand hin, daß das Unternehmen, das der Nachbar R. mit zwei Mitunternehmern führt (von denen zumindest einer dem neuen Lebensgefährten, heutigen Ehemann, von Petra Mollath nahesteht), während der Phase mit der „verunsichernden Person“ umbenannt wurde in „Fortezza Finanz AG“ – den Finanzen eine Festung.
Auf der Grundlage des Wiederaufnahmeantrags der Staatsanwaltschaft ist nicht nur – wie etwa bei den Rechtsbeugungsvorwürfen, um die es im Antrag der Verteidigung geht und die auch in diesem Blog thematisiert wurden – die „äußere Legitimität“ des Strafverfahrens gegen Mollath weggefallen, sondern nun endgültig auch die „innere“. Für ein neues Strafverfahren mit dem Ziel, erneut eine Unterbringung nach § 63 StGB auszusprechen (wie Verteidigung und Staatsanwaltschaft übereinstimmend klargestellt haben, ist eine Verurteilung zu einer Strafe wegen § 373 Abs. 2 StPO nicht möglich), fehlt es schlicht an einem entsprechenden Sachverhalt. Weder läßt sich die Täterschaft beweisen noch ist eine psychische Störung oder gar eine Gemeingefährlichkeit auch nur behauptbar. Die Frage der Täterschaft hinsichtlich der auch angeklagten Sachbeschädigungen (Reifen und Fenster von PKW) ist zwar von dem Inhalt der Wiederaufnahmeanträge nicht berührt, doch versteht es sich von selbst, daß diese Taten, sollten sie denn überhaupt erweisbar sein, die Maßregel des § 63 StGB nicht rechtfertigen können.
Aus diesem Grund erscheint die abschließende Stellungnahme im Wiederaufnahmeantrag der Staatsanwaltschaft im Verhältnis zu ihrem übrigen Inhalt wie ein Fremdkörper. Sie lautet (Seite 101):
Ein Antrag gem. § 360 Abs. 2 StPO, die Unterbrechung der Vollstreckung anzuordnen, wird derzeit noch nicht gestellt, da die Ausführungen zu den Wiederaufnahmegründen noch keine verlässliche Einschätzung zulassen, ob nach Durchführung der erneuten Hauptverhandlung erneut ein Maßregelausspruch zu erfolgen hat.
Die Diskrepanz zwischen dem Inhalt des Wiederaufnahmeantrags und dieser Argumentation ist so frappierend, daß sich wirklich die Frage stellt, ob beide Positionen von derselben Person vertreten werden oder ob hier die Generalstaatsanwaltschaft, nachdem ihr die Entscheidung über das Ob des Antrags offensichtlich vom Ministerium aus der Hand genommen worden war, doch noch ein Wort mitgeredet hat.
Nachtrag vom 26. März 2013
OStA’in a.D. Gabriele Wolff hat zu dem Wiederaufnahmeantrag einen zweiten Blogbeitrag gebracht. In einem Kommentar dazu habe ich einige weitere Punkte des Antrags angesprochen, unter anderem zur Frage der Unterbrechung der Vollstreckung (§ 360 Abs. 2 StPO).
Nachtrag vom 27. März 2013
Eine eingehende Analyse und Bewertung der beiden nun vorliegenden Wiederaufnahmeanträge liefert Prof. Müller im beck-blog.
[…] den Fall Mollath, siehe auch hier, hier, […]
Pingback von Wochenspiegel für die 13. KW, das war der Fall Mollath, das NSU-Verfahen, der Deal auf Bewährung und der Bollerwagen im Gericht - JURION Strafrecht Blog — 31. März 2013 @ 11:55