De legibus-Blog

20. Februar 2013

Der Fall Mollath: Ein Mehrpersonenstück (Teil 1)

Otto Brixner (ein Richter)

Oliver García

Denn die Strafjustiz soll der Wahrheit verpflichtet sein und gebrochenes Recht wiederherstellen. Dieser Anspruch gründet sich auf das Vertrauen in die Akribie der Polizei und die Verlässlichkeit der Staatsanwaltschaft, auf die Erfahrung von Sachverständigen, auf den Mut und die Hartnäckigkeit der Verteidiger, auf die professionelle Leidenschaft der Richter, alles Erfahrbare zu erfahren, auf die Unbestechlichkeit und die Weisheit ihres Urteils. “Im Namen des Volkes” wird geurteilt, aber die Idee des Volkes vom Recht und sein Glaube an Gerechtigkeit beruhen letztlich auf den Tugenden all jener Menschen, die das Recht verkörpern. Einfalt, Nachlässigkeit, Feigheit, Ignoranz, Selbstherrlichkeit und sozialer Ekel sind dabei nicht vorgesehen. Treten sie aber auf, setzen sie den Mechanismus der Wahrheitsfindung außer Kraft.

Dieses Zitat bringt vielleicht am besten auf den Punkt, um was es im Fall Gustl Mollath geht (in diesem Blog bereits in vier Beiträgen behandelt, zuerst: „Justiz im Wahn-Wahn“ mit Chronologie zum Verständnis des Falles). Die Worte stammen aus einer Reportage der ZEIT-Journalistin Sabine Rückert mit dem Titel „Unrecht im Namen des Volkes“, einer Reportage, in der es freilich nicht um Gustl Mollath geht.

Es handelte sich bei dem 2002 erschienenen, aufrüttelnden Artikel vielmehr um die journalistische Aufarbeitung eines Justizversagens, das sich Ende der 90er Jahre in Niedersachsen zugetragen hatte. Rückert kommt das Verdienst zu, durch ihre Recherchen maßgeblich dazu beigetragen zu haben, daß ein zu Unrecht beschuldigter Mann nach einem Wiederaufnahmeverfahren freigesprochen wurde. Zu diesem Zeitpunkt hatte er seine Freiheitsstrafe von viereinhalb Jahren bereits bis auf den letzten Tag abgesessen – eine frühere Entlassung war abgelehnt worden, weil er zu seinen vermeintlichen Straftaten nicht stand. Er war so unklug gewesen, sich weiterhin für unschuldig zu halten.

Der Fall Mollath unterscheidet sich von dem Fall, in dem es bei Rückert ging, in vielerlei Hinsicht. Der größte Unterschied liegt vielleicht darin, daß Rückert ihrem Beitrag die durch ihre Recherchen erlangte Gewißheit zugrunde legen konnte, daß der Verurteilte unschuldig war. Wer den Fall Mollath juristisch kommentieren will, braucht diese Gewißheit nicht, um sagen zu können, daß eine auf mehreren Ebenen schlechte Strafjustiz gewirkt hat. Es geht in diesem Fall nicht so sehr um die Frage, ob ein Unschuldiger seit sieben Jahren in der Psychiatrie untergebracht ist, als darum, wie die Justiz mit Mollath umgegangen ist, sei er nun schuldig oder unschuldig, sei er nun geistig krank oder gesund. Es war der Grundirrtum der publizistischen „Gegenoffensive“, die ab Mitte Dezember im Fall Mollath die Justiz in Schutz nahm, zu meinen, die Hervorhebung von Indizien für Mollaths Täterschaft und Krankheit könnte die Kritik am Umgang der Justiz mit Mollath widerlegen.

Wie Rückert schrieb, läßt sich ein Justizversagen nicht trennen von der Frage nach der Tugend einzelner Menschen. Mit einer Artikelserie in diesem Blog sollen deshalb anhand einiger Personen, die im Fall Mollath in Erscheinung getreten sind, Teilaspekte des Falles beleuchtet werden. Den Anfang macht Otto Brixner, der Vorsitzende der Strafkammer des Landgerichts Nürnberg-Fürth, die im Jahr 2006 über Mollaths Schicksal zu entscheiden hatte.

Hauptverhandlung und Urteil

Die psychiatrische Unterbringung nach § 63 StGB ist ein scharfes Schwert. Ist die Norm einmal im Spiel, hört das Strafrecht auf, Schuldstrafrecht zu sein und wird zum Sicherungsstrafrecht. Dieselbe Tat, die sonst mit einer Geldstrafe oder einer zur Bewährung ausgesetzten Freiheitsstrafe geahndet wird, kann dann dazu führen, daß der Täter auf unabsehbar lange Zeit seine Freiheit verliert. Bejaht das Gericht die Voraussetzungen von § 63 StGB, spricht es zwingend eine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus ohne zeitliche Begrenzung aus. Auf mindestens ein Jahr kann sich der Betroffene dann schon einmal einstellen, denn dies ist gemäß § 67e Abs. 2 StGB die Regelfrist für die erste Überprüfung, ob er seit der Hauptverhandlung ungefährlich geworden ist (§ 67d Abs. 6 StGB). Wird dies verneint, gehen diese Überprüfungen jährlich weiter, bis sich im fünften Jahr die Chance auf eine Entlassung erhöht, denn dann sieht das Gesetz die Einschaltung eines neuen, nicht vorbefaßten Gutachters vor (§ 463 Abs. 4 StPO). Diese Chance wiederholt sich im zehnten und fünfzehnten Jahr, und so weiter.

Wie man sieht, stellt § 63 StGB eine gesetzliche „Sanktionsschere“ der besonderen Art dar. Zwischen Freiheit und potentiell lebenslänglicher Freiheitsentziehung entscheidet das Gericht manchmal nicht aufgrund der Frage, ob der Angeklagte die Tat begangen hat, sondern ob er gesund oder krank ist. Der Fall Mollath zeigt auf, daß dies nicht bloße Theorie ist. Ob nun Schwert oder Schere – weil die Entscheidung so einschneidend und heikel ist, hat der Gesetzgeber sie ausschließlich den großen Strafkammern anvertraut (§ 24 Abs. 2, § 74 Abs. 1 Satz 2 GVG). Dort ist der Ort, die Frage in einer sorgfältig vorbereiteten Hauptverhandlung zu prüfen, vor einer breit aufgestellten Richterbank. Das Gesetz sieht seit dem 1. Januar 2012 in § 76 Abs. 2 Satz 3 Nr. 2 GVG vor, daß die Kammer zwingend mit drei Berufsrichtern und zwei Schöffen besetzt ist. Im Fall Mollath war die Strafkammer noch berechtigt, in der kleinen Besetzung mit zwei Berufsrichtern und zwei Schöffen zu verhandeln, wenn sie aufgrund Aktenlage zu der Überzeugung gelangte, daß es sich um einen einfach gelagerten Fall handelte und einen entsprechenden Beschluß faßte (vgl. dazu, daß bei Fehlen eines solchen Beschlusses ein absoluter Revisionsgrund vorlag, BGH, Beschluß vom 7. Juni 2000 – 5 StR 193/00).

Die Zeichen standen also gut für Mollath, daß die Vorwürfe gegen ihn rigoros aufgeklärt würden und auch die Sanktionsfrage nach dem Zehnaugenprinzip (zumindest nach dem Achtaugenprinzip) umfassend und verantwortungsvoll geprüft würde.

Doch der Zufall wollte es, daß im Verfahren gegen Mollath der Vorsitzende Otto Brixner hieß. Brixner und seine 7. Strafkammer waren schon vorbefaßt mit Mollath gewesen. Als dieser in gleicher Sache noch vor dem Amtsgericht Nürnberg angeklagt war, war die 7. Strafkammer des Landgerichts Nürnberg-Fürth in seinem Fall bereits als Beschwerdekammer in Erscheinung getreten. Die Kammer hatte sich so schon einen Eindruck von ihrem künftigen „Kunden“ verschaffen können. Ob es wirklich der reinste Zufall war, daß die Beschwerdekammer des Landgerichts in dieser Sache identisch war mit der Kammer, die später – aufgrund Abgabe nach oben gemäß § 225a Abs. 1 StPO – erstinstanzlich über eine Anklage gegen Mollath zu befinden hatte (vgl. zu einem solchen Fall BGH, Beschluß vom 7. März 2012 – 1 StR 6/12), oder ob hier kreativ mit dem Geschäftsverteilungsplan (des Jahres 2005 oder 2006) umgegangen wurde, wird hoffentlich im Rahmen des Wiederaufnahmeverfahrens geklärt werden.

Eine Sachverhaltsaufklärung auf hohem Niveau, wie sie der Gesetzgeber vor dem Hintergrund der möglichen einschneidenden Sanktion von der Großen Strafkammer erwartete, fand in der Kammer unter Brixners Vorsitz nicht statt. Die Einzelheiten des Hauptanklagepunkts, der Körperverletzung zu Lasten von Mollaths Ex-Ehefrau wurden gar nicht aufgeklärt. In welchem Kontext es zu den von ihr behaupteten Übergriffen (Zeugen gab es nicht) kam, wieso sie erst zwei Tage später zum Arzt ging, wieso ihre Aussagen zu den Verletzungen abwichen von den Befunden im ärztlichen Attest, das sie sich zehn Monate nach der Tat ausstellen ließ – all das interessierte das Gericht nicht. Wollte Brixner schon nichts genaueres von der Ehefrau wissen, so versteht sich von selbst, daß der für die Ladungen zuständige Vorsitzende sich auch mit dem Attest als Nachweis für die Verletzungen zufrieden gab, statt den Arzt persönlich anzuhören, um zu erfahren, welche Handlungsabläufe zu den Befunden passen könnten.

Wie auf einer Checkliste wurden mit Minimalfeststellungen alle Voraussetzungen für eine Unterbringung in der Psychiatrie abgehakt. Auf die eingehende Analyse, die Gabriele Wolff in ihrer Artikelserie zum Fall Mollath vorgelegt hat (insbesondere Folge VII, Folge VIII und Folge IX) sei verwiesen. Doch die „Methode Brixner“ in dem von ihm verfaßten schriftlichen Urteil beschränkte sich nicht auf diesen Aspekt. Noch bemerkenswerter ist seine Beweisführung ohne Feststellungen, aber im Vertrauen auf die Wirkung der „Schweinehundtheorie“.

„Schweinehundtheorie“ – diese „inoffizielle“, aber nur halb scherzhaft so genannte Theorie bezeichnet im Fall der strafrechtlichen Revision die Annahme, daß sich die Revisionsrichter in Grenzfällen durchaus auch von dem Gesamteindruck leiten lassen, ob es „den Richtigen getroffen“ hat. Ein Richter, der das Gefühl hat, die Begründung für ein aufhebungsgefährdetes Urteil zu schreiben, kann versuchen, über den Subtext mit dem Revisionsgericht zu kommunizieren, durch atmosphärische Mitteilungen, die im Urteil eigentlich nichts zu suchen haben, ja sogar fehlerhaft sein können, solange sie für seinen Bestand nur unschädlich sind. Brixners Urteil enthält mehrere Passagen, die sich nur mit dieser Zielrichtung erklären lassen:

Den – bis heute meßbar – stärksten Effekt erzielte Brixner bei der Darstellung der „Reifenstechereien“. Die angeklagten Sachbeschädigungen (§ 303 StGB) – die ohnehin wacklige Täterzuordnung zu Mollath sei hier ausgeblendet – gehörten eigentlich in die Spielklasse eines ausgeuferten Schülerstreiches. Um sie auf eine für § 63 StGB relevante Ebene zu heben, mußten sie mit dem Wort „gefährlich“ verbunden werden. An nicht weniger als drei Stellen brachte Brixner dieses Signalwort im Urteil unter, etwa: „da durch die Tatausübung (nur geringe Stichbeschädigungen, langsames Entweichen der Luft aus den Reifen, die teilweise erst bei hoher Fahrtgeschwindigkeit bemerkbar wurden) eine konkrete Gefährdung des jeweiligen Fahrzeugbenutzers hervorgerufen wurde.“.

Doch wären solche konkreten Gefährdungen tatsächlich in prozeßordnungsmäßiger Form festgestellt worden, läge nicht § 303 StGB vor, sondern § 315b StGB, zumindest in seiner Vorsatz-Fahrlässigkeits-Kombination (vgl. OLG Düsseldorf, Beschluß vom 20.04.1994 – 2 Ss 87/94). Ernsthaft aufzuklären, welche konkreten Verkehrssituationen da tatsächlich brenzlig geworden waren, daran hatte Brixner kein Interesse. Es hätte sich ja herausstellen können, daß das Stichwort „gefährlich“ aus dem Mund des – im Lager der Ex-Ehefrau stehenden – Zeugen nichts anderes bezeichnete als ein sich nach Entdeckung des Plattens einstellendes Angstgefühl. Das Fehlen einer auch nur annähernden Beschreibung einer Verkehrssituation im Urteil belegt, daß sich die Hauptverhandlung auf diese Frage tatsächlich nicht erstreckt hatte.

Brixners Raunen von der „Gefahr“ mag seine Wirkung beim BGH nicht verfehlt haben. Was er aber nicht ahnen konnte, war, welche Karriere diesem Kunstgriff noch im Jahr 2012 zuteil werden und wie diese substanzlose Äußerung im Resonanzraum der jetzigen öffentlichen Auseinandersetzung fortwirken sollte. Wer in der Diskussion um den verspätet hochgekochten „Fall Mollath“ sich und andere von der Gefährlichkeit dieses Mannes überzeugen wollte, dem hatte Brixner das suggestivste Szenario an die Hand gegeben: „Dabei ging er teils so raffiniert vor, dass die Luft aus den Reifen erst während der Fahrt entwich und die Insassen gefährdet wurden.“ So etwa referierte der pensionierte Nürnberger Generalstaatsanwalt Roland Helgerth im Rotary-Club München-Harlaching, dessen 1. Sekretär er ist („Freund Helgerth fragt, hätte die Staatsanwaltschaft bei allen Rotariern durchsuchen müssen, um die Schwarzgeldverschiebungen aufzudecken?“, Rotary-Wochenbericht vom 27. November 2012). Und das Bild ließ sich sogar noch beliebig ausmalen. Bei Beate Lakotta vom SPIEGEL sah es Mitte Dezember 2012 – nach dem Stille-Post-Prinzip – dann so aus: „Zwar hat der Mann nach Überzeugung des Gerichts seine Frau übel misshandelt und über hundert Autoreifen auf lebensgefährdende Weise manipuliert“.

Wo immer Brixner eine Gelegenheit sah, ohne Beweisaufnahme gegenüber dem BGH das Bild von einem Irren, der die Straßen Nürnbergs unsicher machte, zu evozieren, griff er zu. Er scheute nicht davor zurück, das Verhältnis zwischen Mollath und seinem Pflichtverteidiger dafür dienstbar zu machen. Ein gutes Verhältnis war es nicht, das Mollath mit seinem, ihm vom Amtsgericht aufgezwungenen Strafverteidiger hatte. Ein Antrag Mollaths auf Aufhebung der Beiordnung war abgelehnt worden. Um welche Mißhelligkeiten es genau ging, erfährt man aus dem Urteil nicht, wohl aber berichtet es davon, daß auch der Verteidiger seine Entpflichtung beantragte. Wie dieser Antrag, den die Staatsanwaltschaft unterstützte, beschieden wurde, wird merkwürdigerweise nicht mitgeteilt (der Anwalt war jedenfalls in der Hauptverhandlung noch oder wieder sein Pflichtverteidiger). Doch um die Prozeßgeschichte ging es Brixner an dieser Stelle ohnehin nur zum Schein. Ihm ging es um die vom Anwalt vorgetragene Begründung des Entpflichtungsantrags: Mollath habe mit den Fäusten an die Eingangstür seiner Kanzlei getrommelt und ihn, den Anwalt, für etwa eine Stunde daran gehindert, seine Kanzlei zu verlassen. Hintergründe sind an dieser Stelle nicht zu erfahren – es ging ja scheinbar um Prozeßgeschichte, nicht um Beweisaufnahme. Auf diesem Wege konnte Brixner die Richtigkeit des Urteils atmosphärisch unterstreichen, ohne die Anforderungen an eine prozeßordnungsmäßige Feststellung (vgl. nur § 53 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 StPO) erfüllen zu müssen.

Die Aufnahme dieser Episode in das Urteil konnte gar keinen anderen Grund haben als diesen. Nach der Rechtsprechung des BGH sind Verfahrensvorgänge im Urteil grundsätzlich nicht zu erörtern (BGH, Beschluß vom 27. Mai 2009 – 1 StR 99/09). In der genannten Entscheidung hat der 1. Strafsenat die großen Strafkammern sogar ausdrücklich aufgefordert, den BGH mit der Dokumentation von selbst schweren Verfahrensverstößen im Urteil nicht zu behelligen (was sogar dann gelten soll, wenn sie entscheidend dafür sind, ob eine lebenslange Freiheitsstrafe oder ein Freispruch herauskommt, vgl. Grasnick, NStZ 2010, 158).

Etwas aufwendiger ist Brixner an anderer Stelle vorgegangen. Nicht nur gegenüber dem BGH, sondern auch gegenüber den Schöffen drapierte er das Bild Mollaths als das eines landläufigen Irren bis in die Details. Die Umstände von dessen Verhaftung verlegte er kurzerhand um ein Jahr, so daß Mollaths Verhaltensbild aktueller erschien: Mollath habe sich vor der Polizei auf dem Dachboden versteckt, wo er offenbar nach längerem Suchen aufgefunden und unter Schimpfen („Polizeistaat“) verhaftet wurde. Die im Urteil ausführlich und stimmungsvoll geschilderte Szene, für deren Feststellung eigens ein Beamter zur Hauptverhandlung geladen wurde, hatte sich jedoch zu einer ganz anderen Zeit abgespielt, nicht 2006, sondern 2005 und genau zehn Tage, nachdem Mollath in seinem Haus bereits eine rechtswidrige Hausdurchsuchung erlebt hatte (polizeilich angeordnet, ohne daß Gefahr im Verzug ersichtlich wäre). Die zeitnähere Festnahme im Jahr 2006 spielte sich hingegen viel weniger nach dem „Irren-Schema“ ab: Mollath stellte sich freiwillig.

Was war da los? Wie konnten sich eine solche Vorverurteilung (Anruf bei der Finanzverwaltung), Aggression (Schreien in der Hauptverhandlung) und „Belastungstendenz“ Brixners so gebündelt auf Mollath entladen? Das Wiederaufnahmeverfahren wird hoffentlich etwas aufklären können. Brixner war als Richter ein „harter Hund“, präsentierte sich auch gerne so. Daraus, daß er die gängigen Strafen für viel zu lasch hielt, machte er keinen Hehl. Mit Mollath kam nun einer vor seine Kammer, den er mit Bestimmtheit für einen üblen Straftäter hielt (Ehefrau schwer mißhandelt), den er aber nach der Gerichtspraxis als Ersttäter – „ein Leben lang eine weiße Weste“, „nicht einmal Punkte in Flensburg“ – mit einer Bewährungsstrafe davonkommen lassen müßte. Die Schere des § 63 StGB bot Brixner hingegen die Möglichkeit, seinen Bestrafungsphantasien („Strafen bis zu 40 Jahren Haft. Das ist gerechter“) auf scheinbar legale Weise freien Lauf zu lassen. Dazu mußte er nur seine persönlichen Anforderungen an die Überzeugungsbildung aufgrund eines extrem schwachen Gutachtens (so der Eindruck eines der beteiligten Schöffen) so weit herunterschrauben, daß es noch paßte. Und eine unbegrenzte, theoretisch sogar lebenslängliche Freiheitsentziehung Mollaths war sauber nach den Buchstaben des Gesetzes begründet. Diese theoretische Folge hatte Brixner nicht nur im Hinterkopf, sondern sprach sie nach der Verhandlung gegenüber Mollath sogar offen aus („Wenn Sie so weitermachen, kommen Sie nie wieder heraus.“).

Nur mit Schaudern kann man darüber nachdenken, ob Mollath in Brixners Richterpraxis ein Einzelfall war (Urteil: „Der Kammer, die im Sicherungsverfahren bereits über zahlreiche Einweisungsanträge in psychiatrische Kliniken entschieden hat […]“).

Unterbringungsbefehl und Verhaftung

Es ist ein elementarer Grundsatz des deutschen Rechts, daß Haftentscheidungen von Richtern verantwortet werden, die den Betroffenen persönlich angehört haben und sich nicht nur aus den Akten ein Bild von ihm verschaffen. Über die Freiheit eines Menschen darf nicht am grünen Tisch entschieden werden. Richter, die dies mißachten, werden – je nach den weiteren Umständen – wegen Rechtsbeugung verurteilt (BGH, Beschluß vom 24. Juni 2009 – 1 StR 201/09; Beschluß vom 11. Dezember 2012 – 3 StR 389/12) oder von den Richterdienstgerichten diszipliniert (Dienstgericht für Richter Saarbrücken, Urteil vom 14. Februar 2008 – DG 1/07; Brandenburgischer Dienstgerichtshof für Richter, Urteil vom 20. April 2012 – DGH Bbg 2.12).

Die 7. Strafkammer unter dem Vorsitz von Brixner erließ am 1. Februar 2006 einen Beschluß zur vorläufigen Unterbringung Mollaths gemäß § 126a StPO. Sie sah in ihm aufgrund des bereits seit Juli 2005 vorliegenden Gutachtens von Klaus Leipziger eine Gefahr für die Allgemeinheit. Die angeklagten Straftaten zu Lasten seiner – schon lange geschiedenen – Frau lagen da rund vier Jahre zurück, die ihm angelastete Beschädigung von fremdem Eigentum ein Jahr. Woraus die Kammer zu diesem Zeitpunkt eine dringende, von Mollath ausgehende Gefahr herleitete (dazu BGH, Beschluß vom 11. Januar 2006 – 2 StR 582/05), sei hier dahingestellt. Doch der hierfür zuständige Vorsitzende der Kammer hielt es nicht einmal für erforderlich, die gesetzlich zwingend vorgesehene Vorführung Mollaths vor die Kammer zu veranlassen, nachdem dieser am 27. Februar 2006 an der Lorenzkirche in Nürnberg (nicht auf seinem Dachboden!) verhaftet worden war.

Die persönliche Vernehmung des Betroffenen einer Freiheitsentziehung, wie sie hier von § 126a Abs. 2 Satz 1 i.V.m. § 115 StPO vorgesehen ist, ist keine Formalie, sie gehört zu den essentialia rechtsstaatlichen Verfahrens und fällt in den Kernbereich der Aufgaben, für die Richter da sind. Eine erste Anhörung Mollaths führte die Kammer erst am 31. März 2006 durch.

Bereits eine eintägige Verzögerung der Vernehmung ist rechtswidrig und eine schwere Dienstpflichtverletzung (dienstgerichtliche Entscheidungen siehe oben) – ihr gänzliches Unterlassen für einen Zeitraum von über einem Monat ist ein Vorgang, der neue Dimensionen der Rechtswidrigkeit auslotet – und der Verfassungswidrigkeit (vgl. VerfGH Rheinland-Pfalz, Beschluß vom 11. Mai 2006 – VGH B 6/06 – nach einstweiliger Anordnung vom 22. Februar 2006 – VGH A 5/06: „schwerer und nicht wiedergutzumachender Eingriff in das Recht auf Freiheit der Person“). Ob hier bei einem erfahrenen Richter ein Fall von Rechtsblindheit oder Rechtsfeindschaft vorliegt, wird die Staatsanwaltschaft zu prüfen haben (zur Frage der Rechtsbeugung durch Verzögerung von Haftentscheidungen: BGH, Urteil vom 3. September 2001 – 5 StR 92/01 – Fall Schill). Jedenfalls dürfte schon aufgrund dieses Rechtsverstoßes die Freiheitsentziehung Mollaths in diesem Zeitraum insgesamt unzulässig gewesen sein (vgl. für Art. 104 Abs. 3 Satz 1 GG: BVerfG, Beschluß vom 4. September 2009 – 2 BvR 2520/07; BGH, Beschluß vom 24. Juni 2009 – 1 StR 201/09: „Makel einer rechtswidrigen Freiheitsentziehung […], der rückwirkend nicht mehr zu heilen ist“).

Es sollte unter diesen Umständen nicht verwundern, wenn die Staatsanwaltschaft den Wiederaufnahmeantrag zugunsten Mollaths auch auf den Grund der Rechtsbeugung (§ 359 Nr. 3 StPO) stützt. Brixner mag sich dann bestätigt fühlen: „Die deutsche Justiz hat einen langen Atem und einen langen Arm! Die deutsche Justiz vergisst nix!“, hatte er einmal gesagt (allerdings um hinzuzufügen: „Sagen Sie das Ihren rumänischen Landsleuten“).

Nachtrag vom 21. Februar 2013

Wenige Stunden nach Veröffentlichung dieses Beitrags hat RA Strate seinen Wiederaufnahmeantrag veröffentlicht. Der Wiederaufnahmeantrag der Staatsanwaltschaft Regensburg wird für Mitte März 2013 erwartet.

Zitiervorschlag für diesen Beitrag:
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