Schon mehrfach ging es in diesem Blog um „richterliche Eigenmacht“. Da war etwa der VI. Senat des BFH, der sich weigerte, eine klare gesetzliche Regelung anzuwenden, weil sie seiner Meinung nach nicht in das Normengefüge des Einkommensteuergesetzes paßte („Wer hält diese Richter auf?“). Oder der VII. Senat des BFH, der eine Verjährungsfrist nicht anwenden wollte, weil sie ihm unangemessen kurz erschien – obwohl der EG-Gesetzgeber sie ausdrücklich als angemessen erachtete (es war das Verdienst des FG Hamburg, durch eine Vorlage an den EuGH verhindert zu haben, daß der BFH damit durchkam: „Ein Dialog zwischen beredt Schweigenden“).
Hier reiht sich nun der I. Zivilsenat des BGH mit einer am letzten Freitag veröffentlichten Entscheidung ein (Beschluß vom 19. April 2012 – I ZB 80/11). Es geht in ihr um die Frage, unter welchen Voraussetzungen ein Internet-Zugangsanbieter (Internetprovider) verpflichtet ist, gegenüber Urheberrechtsinhabern offenzulegen, welcher seiner Kunden in einem bestimmten Zeitraum unter einer bestimmten Internetkennung (IP-Adresse) online war. Es ist die erste Entscheidung des BGH zu § 101 UrhG seit der Neufassung durch das Gesetz zur Verbesserung der Durchsetzung von Rechten des geistigen Eigentums vom 7. Juli 2008 (BGBl. I S. 1191), in Kraft getreten am 1. September 2008. Dieses Gesetz diente zum Teil der Umsetzung der Richtlinie 2004/48/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Durchsetzung der Rechte des geistigen Eigentums (ABl. L 157 vom 30. April 2004, S. 45). Mit § 101 Abs. 2 UrhG ist damals erstmals ein Auskunftsanspruch zur Verfolgung von Urheberrechtsverletzung geschaffen worden, der gegen Dritte (Nichttäter) gerichtet ist.
Ein solcher Auskunftsanspruch gegen Internet-Zugangsanbieter läßt sich seit der Neuregelung auf § 101 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 UrhG stützen. In den Fällen (behaupteter) Rechtsverletzungen durch das Tauschen von Dateien im Internet (Handlungsweisen also, die typisch für Privatleute, nicht für Firmen, sind) ist unter den Oberlandesgerichten streitig, wie das Tatbestandsmerkmal „in gewerblichem Ausmaß“ auszulegen ist (Nachweise siehe BGH-Beschluß). Dieses spielt in § 101 UrhG auf zweifache Weise eine Rolle: Der Gesetzestext setzt an mit den Worten „Wer in gewerblichem Ausmaß“. Damit ist jedenfalls der in Absatz 1 geregelte Auskunftsanspruch, der sich gegen den Täter einer Urheberrechtsverletzung richtet, diesem einschränkenden Kriterium unterworfen. Absatz 2 Satz 1 Nr. 3, um den es hier geht, spricht ausdrücklich auch von einem „gewerblichen Ausmaß“, bezieht es jedoch auf die Handlung des Dienstleisters selbst. Bei gewerblichen Internet-Zugangsanbietern ist dieses Kriterium daher ohne weiteres erfüllt. Die Oberlandesgerichte sind sich aber ausnahmslos einig, daß der Auskunftsanspruch des Absatzes 2 auch voraussetzt, daß die Rechtsverletzung eine solche im Sinne von Absatz 1 ist, also eine „in gewerblichem Ausmaß“ begangene (Kriterium der „doppelten Gewerbsmäßigkeit“). Die Oberlandesgerichte erhöhten die Hürde keinesfalls aus eigenem Antrieb (das zeigte sich daran, daß sie meist im nächsten Atemzug die Gewerbsmäßigkeit so verstanden, daß diese fast immer bejaht werden konnte), sondern weil ihnen selbstverständlich war, daß sie nur mit dieser Auslegung der gesetzgeberischen Entscheidung gerecht wurden.
Hierfür muß man sich die Auseinandersetzungen zu § 101 UrhG im Gesetzgebungsverfahren genauer ansehen. Bereits in der Begründung des von der Bundesregierung vorgelegten Gesetzentwurfs (dort ist noch von „geschäftlichem Verkehr“ statt „gewerblichen Ausmaß“ die Rede, dies wurde später zum Zwecke der Anpassung an den Wortlaut der EG-Richtlinie geändert) heißt es (BT-Drs. 16/5048, Seite 49):
Auch der in Absatz 2 geregelte Auskunftsanspruch gegenüber Dritten setzt voraus, dass die Rechtsverletzung im geschäftlichen Verkehr erfolgt ist. Damit wird auch hier dem Erwägungsgrund 14 der Richtlinie Rechnung getragen, wonach ein Auskunftsanspruch auf jeden Fall dann vorgesehen werden muss, wenn die Rechtsverletzung in gewerblichem Ausmaß vorgenommen worden ist. Auf eine Handlung im geschäftlichen Verkehr wird in der Regel dann zu schließen sein, wenn ihr Ausmaß über das hinausgeht, was einer Nutzung zum privaten Gebrauch entspricht. Durch die Regelung in Absatz 2 wird insbesondere ein Auskunftsanspruch gegenüber Internet-Providern geschaffen. Damit soll dem Rechtsinhaber eine Ermittlung des Rechtsverletzers ermöglicht werden.
Diese Regelungsabsicht war von Anfang bis Ende des Gesetzgebungsverfahrens hochumstritten. Der Bundesrat wandte in seiner Stellungnahme zu dem Gesetzentwurf sogleich ein (BT-Drs. 16/5048, Seite 53):
Ferner soll der Auskunftsanspruch gegenüber Dritten im Bereich des Urheberrechts (§ 101 Abs. 2 UrhG-E) nach der Entwurfsbegründung (Bundesratsdrucksache 64/07, S. 117) voraussetzen, dass die Rechtsverletzung im geschäftlichen Verkehr erfolgt ist. Diese Voraussetzung, die dem Gesetzeswortlaut nicht zu entnehmen ist, würde dazu führen, dass der Hauptanwendungsfall des Auskunftsanspruchs gegenüber Dritten, die Verletzung des Urheberrechts im Internet, leerlaufen würde und die Rechtsinhaber schutzlos gestellt würden.
Im Rechtsausschuß des Bundestags wurde § 101 UrhG eingehend und kontrovers beraten. Der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen ging die Regelung zu weit (BT-Drs. 16/8783, Seite 45):
Kern der Kritik und Grundlage des Änderungsantrags sei vielmehr der neben anderen unproblematischen Drittauskunftsansprüchen in § 101 Abs. 2 Nr. 3 UrhG-E vorgesehene Anspruch gegenüber Nichtschädigern. Dieser erfasse auch rechtmäßig handelnde Anbieter, insbesondere aus dem Internetbereich. Werde der Drittauskunftsanspruch sonst auch von der Fraktion grundsätzlich mitgetragen, sei im Hinblick auf diese Regelung grundlegende Kritik zu üben. Ein Anspruch, der eine Pflicht zur Mitteilung personenbezogener Daten in einem zivilrechtlichen Verfahren begründe, stelle ein Novum im deutschen Zivilrecht dar und werde durch Artikel 8 Abs. 1 der umzusetzenden Richtlinie keineswegs erzwungen. Die Einführung erfolge mangels Regelungsverpflichtung vielmehr bewusst aus dem freien politischen Willen der Fraktionen der CDU/CSU und SPD. Wie auch der Europäische Gerichtshof (EuGH) in seinem Urteil vom 29. Januar 2008 betone, sei in Artikel 3 Abs. 3 Buchstabe e der Richtlinie zugleich festgeschrieben, dass diese Bestimmung keine Durchbrechung des Datenschutzes legitimiere. Der Auskunftsanspruch ziehe größte datenschutzrechtliche Probleme nach sich, auf die der Bundesbeauftragte für den Datenschutz und die Informationsfreiheit bereits im vergangenen Jahr hingewiesen habe: Sei der Geschädigte gehalten, sich die dynamischen IP-Adressen selbst zu beschaffen, greife er in das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung der Betroffenen ein. Für den von dem Dritten – etwa einem Internetprovider – aus spiegelbildlicher Perspektive vorzunehmenden Abgleich mit seinem Datenbestand existiere keine gesetzliche Grundlage im TKG. Auf diese Argumente seien die Fraktionen der CDU/ CSU und SPD bedauerlicherweise nicht eingegangen.
Der FDP-Fraktion ging er hingegen nicht weit genug und sie nahm den Einwand des Bundesrates auf (BT-Drs. 16/8783, Seite 47):
Anzumerken seien jedoch zwei wesentliche Kritikpunkte: Befürworte die Fraktion auch den Auskunftsanspruch als solchen, sei allerdings die Beschränkung auf ein gewerbliches Ausmaß zu bemängeln, weil diese Einschränkung die Gefahr eines Zirkelschlusses berge. Die Beurteilung des Ausmaßes sei nämlich häufig erst auf Grundlage entsprechender Daten möglich.
Der SPD-Fraktion – damals eine der beiden Regierungsfraktionen und die Fraktion, der die Bundesjustizministerin angehörte – sah sich in der Rolle der Vermittlerin (BT-Drs. 16/8783, Seite 46):
Die Fraktion der SPD erinnerte daran, dass Ausgangspunkt des Gesetzgebungsvorhabens die unbestrittene Zunahme der Fälle von Verletzungen geistigen Eigentums – etwa durch Produktpiraterie – gewesen sei. Ihnen sei nicht nur aus wirtschaftlichen Erwägungen zum Schutz des Know-how Einhalt zu gebieten. Regelungsanliegen sei die Stärkung der Stellung der Rechteinhaber. Die Durchsetzung eigener Rechte werde insbesondere durch die fehlende Kenntnis der Identität der Rechtsverletzer erschwert. Diese seien häufig schwer zu ermitteln, weil die entsprechende Kenntnis bei Dritten, z. B. den Providern, liege. Die angestrebte Stärkung der Rechte an geistigem Eigentum sei daher nur durch einen Drittauskunftsanspruch zu realisieren. Stelle dieser in der Tat ein Novum dar, so sei er doch die einzige Möglichkeit, die erforderlichen Informationen zu erlangen. Der Anspruch sei zugleich nur unter engen Voraussetzungen vorgesehen: Neben dem materiellen Erfordernis eines erheblichen Verstoßes – verdeutlicht durch die Voraussetzung des gewerblichen Ausmaßes – sei eine verfahrensrechtliche Absicherung durch einen Richtervorbehalt vorgesehen. Den weitergehenden Anregungen des Bundesrates und der beteiligten Verbände habe man nicht folgen können. Entgegen den Ausführungen der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sei zu betonen, dass die Richtlinie „eins zu eins“ umgesetzt und damit insbesondere eine Verbesserung der Situation der Rechteinhaber erzielt werde.
Die andere Regierungsfraktion (CDU/CSU) ergänzte (BT-Drs. 16/8783, Seite 44):
Die Beschränkung des Auskunftsanspruchs auf Verletzungen von gewerblichem Ausmaß sei mit der Richtlinie konform.
Das Ringen im Rechtsausschuß fand seinen Ausdruck in einer Änderung des Gesetzestextes gegenüber dem Entwurf, die ausdrücklich als Kompromiß bezeichnet wurde (SPD: „Insgesamt handele es sich bei dem Beratungsergebnis des Ausschusses trotz seines Kompromisscharakters um ein tragfähiges und gutes Ergebnis“). Angefügt wurde dem Absatz 1 ein Satz 2, der eine Auslegungshilfe für das vieldiskutierte Kriterium „gewerbliches Ausmaß“ geben soll. Hierzu die Ausschußbegründung (BT-Drs. 16/8783, Seite 50):
Um einen Gleichlauf des deutschen Urheberrechtsgesetzes mit der Richtlinie zu erreichen, wird für die Regelung des Auskunftsanspruchs der Begriff des gewerblichen Ausmaßes genutzt, den auch die Richtlinie verwendet. Nach Erwägungsgrund 14 der Richtlinie zeichnen sich in gewerblichem Ausmaß vorgenommene Rechtsverletzungen dadurch aus, dass sie zwecks Erlangung eines unmittelbaren oder mittelbaren wirtschaftlichen oder kommerziellen Vorteils vorgenommen werden. Handlungen, die in gutem Glauben von Endverbrauchern vorgenommen werden, sind hiernach in der Regel nicht erfasst.
Satz 2 stellt klar, dass das einschränkende Merkmal „gewerbliches Ausmaß“ nicht nur quantitative, sondern auch qualitative Aspekte aufweist. Für den Fall der Rechtsverletzung im Internet bedeutet dies, dass eine Rechtsverletzung nicht nur im Hinblick auf die Anzahl der Rechtsverletzungen, also etwa die Anzahl der öffentlich zugänglich gemachten Dateien, ein „gewerbliches Ausmaß“ erreichen kann, sondern auch im Hinblick auf die Schwere der beim Rechtsinhaber eingetretenen einzelnen Rechtsverletzung. Letzteres kann etwa dann zu bejahen sein, wenn eine besonders umfangreiche Datei, wie ein vollständiger Kinofilm oder ein Musikalbum oder Hörbuch, vor oder unmittelbar nach ihrer Veröffentlichung in Deutschland widerrechtlich im Internet öffentlich zugänglich gemacht wird.
Mit diesem „Kompromiß“ war der innerparlamentarische Streit jedoch noch nicht zu Ende. Am 11. April 2008 fand im Plenum des Bundestags die zweite und dritte Lesung des Gesetzentwurfs statt, in der noch einmal die Streitpunkte um das Gesetz auf den Tisch gelegt wurden. Der Parlamentarische Staatssekretär Alfred Hartenbach, der für die verhinderte Bundesjustizministerin sprach, resümierte (Wortprotokoll, Seite 2):
Auch in einem anderen Punkt orientieren wir uns an den europäischen Vorgaben. Voraussetzung für den Auskunftsanspruch ist, dass eine Rechtsverletzung in gewerblichem Ausmaß vorliegt. Bei bloßen Bagatellverstößen besteht dieser Anspruch also nicht. Über den Auskunftsanspruch, den Richtervorbehalt und das erforderliche Ausmaß der Rechtsverletzung haben wir lange diskutiert. Mit der Einschränkung, dass eine Rechtsverletzung ausdrücklich in gewerblichem Ausmaß vorliegen muss, haben wir auf die Formulierung der EU-Richtlinie zurückgegriffen, Herr Krings. Dies wurde auch von der Mehrzahl der Sachverständigen in der Anhörung des Rechtsausschusses angeregt. Wir sollten auch nicht vergessen, Herr Montag, dass der Europäische Gerichtshof jüngst entschieden hat, dass sich aus der EU-Richtlinie für die nationalen Gesetzgeber keine zwingende Verpflichtung ergibt, einen solchen Auskunftsanspruch zu schaffen.
Das Thema des „gewerblichen Ausmaßes“ bei Internettauschbörsen durchzog die gesamte Debatte und selbst alte Wunden öffneten sich wieder, als der Redner für die CDU/CSU-Fraktion daran erinnerte, daß seine Fraktion sich in den Beratungen erfolglos gegen die doppelte Gewerbsmäßigkeit ausgesprochen hatte (Wortprotokoll, Seite 4):
Selbst die Begründung zum Gesetzentwurf zeigt, dass die Anspruchsvoraussetzung des gewerblichen Ausmaßes in der Praxis Schwierigkeiten aufwerfen wird; denn da sollen quantitative und qualitative Aspekte maßgeblich sein. Ist es jetzt das halbe Hörbuch? Ist es das ganze Musikalbum? Ist es zwei Wochen nach der Veröffentlichung? Die Beantwortung dieser Fragen wird sehr schwierig werden. Deshalb haben wir in den Beratungen dafür plädiert – denn das ist nicht zwingend durch die Richtlinie vorgegeben -, diese Anforderung zugunsten einer Stärkung des Auskunftsanspruches wegzulassen.
Am Ende dieser Debatte stimmte der Bundestag dem Gesetzentwurf in der Ausschußfassung („Kompromiß-Fassung“) zu.
Anschließend war der Bundesrat mit dem Gesetzentwurf befaßt. Da es sich um ein Einspruchsgesetz handelte, war seine Zustimmung nicht erforderlich. Er konnte nur beschließen, den Vermittlungsausschuß anzurufen. Der Rechtsausschuß des Bundesrats empfahl, dies nicht zu tun, wohl aber eine Entschließung zu fassen, mit der der Bundesrat die Nichtbeachtung verschiedener Einwände bedauerte, u.a. (BR-Drs. 279/1/08, Seite 3):
Problematisch ist aber, wenn auch bei dem Auskunftsanspruch gegenüber Dritten nach § 101 Abs. 2 UrhG-neu eine im gewerblichen Ausmaß begangene Rechtsverletzung des Verletzers – nicht nur ein Handeln des Dritten im gewerblichen Ausmaß – erforderlich sein soll. Eine solche Auslegung legt die Begründung des Gesetzentwurfs der Bundesregierung (vgl. BT-Drs. 16/5048, S. 49) nahe, die sich allerdings noch auf das Tatbestandsmerkmal des „geschäftlichen Verkehrs“ bezog. Abgesehen davon, dass Artikel 8 Abs. 1 der Richtlinie 2004/48/EG (Recht auf Auskunft) ein gewerbliches Ausmaß im Hinblick auf die Rechtsverletzung gerade nicht voraussetzt, bleibt es damit bei den Schwierigkeiten, auf die der Bundesrat bereits in seiner Stellungnahme vom 9. März 2007 – BR-Drs. 64/07 (Beschluss) – im Einzelnen hingewiesen hat. Zwar ist es zu begrüßen, dass nach § 101 Abs. 1 Satz 2 UrhG-neu das Merkmal „gewerbliches Ausmaß“ nicht nur quantitative, sondern auch qualitative Aspekte aufweisen soll; unklar ist aber, welche Fälle genau darunter fallen sollen.
Diese Entschließung wurde letztlich nicht vom Plenum des Bundesrats angenommen. Dieses beschränkte sich am 23. Mai 2008 darauf, zu beschließen, den Vermittlungsausschuß nicht anzurufen.
Aber auch damit ist das Gesetzgebungsverfahren noch nicht vollständig referiert. Das Gesetz war ein solches Politikum – nicht nur, aber vor allem auch wegen § 101 UrhG -, daß am 20. Juni 2007 auf Einladung des Rechtsausschusses eine öffentliche Anhörung von Sachverständigen stattfand (Übersicht der Teilnehmer, Zusammenfassung des Anhörungsverlaufs). Auch in dieser Sitzung war ohne weiteres Diskussionsgrundlage für alle Überlegungen, daß der zur Beratung stehende Gesetzentwurf die doppelte Gewerbsmäßigkeit vorsieht. Aus dem Wortprotokoll sei nur der Bundesbeauftragte für den Datenschutz Peter Schaar zitiert:
Im Hinblick auf das gewerbsmäßige Ausmaß kann ich hier nichts Neues beitragen, dazu ist, glaube ich, fast alles gesagt worden. Ich denke, auch hier sollte es dabei bleiben, dass nicht jeder, der möglicherweise sogar zufällig und ohne Kenntnis der entsprechenden rechtlichen Situation in eine solche Tauschbörse hineinschaut, dann sehr schnell zum Gegenstand von allen möglichen Maßnahmen wird. Es ist sicherlich eine Verkürzung, von einer Kriminalisierung der Schulhöfe zu sprechen, gleichwohl ist es so, dass natürlich eine entsprechende Heranziehung der Betroffenen und auch ihrer Eltern in dem Falle erfolgt und darauf, dass dies ein Massenphänomen ist, haben Sie ja auch, Frau Dr. Leenen, vollständig zu Recht hingewiesen. Und die Frage ist wirklich, die man beantworten muss, findet man hier die Richtigen und zieht man hier die Richtigen zur Rechenschaft? Da habe ich meine Zweifel, wenn man auf diese Voraussetzung der Gewerblichkeit oder des gewerblichen Umfanges verzichten würde.
Diese umfangreiche Darstellung des Verlaufs der Gesetzesberatungen erschien mir nötig, um verständlich zu machen, mit welcher Selbstverständlichkeit die Oberlandesgerichte das Kriterium der doppelten Gewerbsmäßigkeit, auch wenn sie mit ihm nicht glücklich sind, als geltendes Recht ansehen. Die Meinungsverschiedenheit unter ihnen beschränkt sich demzufolge auf die Frage, welche Anforderungen an das „gewerbliche Ausmaß“ nun genau zu stellen sind. Viele Oberlandesgerichte haben die Schwelle sehr niedrig angesetzt, während andere, um dieses in den Gesetzesberatungen so heißumkämpfte Kriterium nicht ganz leerlaufen zu lassen, versuchten, bestimmte Fälle von privatem Dateitauschen herauszunehmen – orientiert an der parlamentarischen „Kompromißformel“ des § 101 Abs. 1 Satz 2 UrhG. So das OLG Köln, beispielsweise in seinem Beschluß vom 25. November 2011 (6 W 260/11). Wegen der abweichenden Meinung anderer Oberlandesgerichte, insbesondere des OLG München (Beschluß vom 26. Juli 2011 – 29 W 1268/11), war das OLG Köln jedoch gehalten, die Rechtsbeschwerde zum BGH zuzulassen. Und auf diesem Weg kam es zu dem nun veröffentlichten Beschluß des BGH vom 19. April 2012 (I ZB 80/11).
Ich habe schon einmal vom BGH geschrieben, daß er manchmal Sternstunden der Jurisprudenz hervorbringt, indem er einem Fall durch einen unverstellten Blick eine neue, verblüffend einfache Lösung abgewinnt. So erscheint es zunächst auch hier, denn der BGH ruft den Oberlandesgerichten zu: „Ihr habt euch alle umsonst abgemüht.“ Das Kriterium der doppelten Gewerbsmäßigkeit gebe es gar nicht. In § 101 Abs. 2 UrhG sei klar geregelt, daß das gewerbliche Ausmaß sich nur auf die Handlungen der Nichttäter beziehe, nicht auf die Urheberrechtsverletzung. Das im Gesetzgebungsverfahren zum Ausdruck gekommene andere Verständnis gehe ins Leere, denn es sei nicht in den Wortlaut eingeflossen. Das allein am Wortlaut orientierte Verständnis füge sich besser in das Urheberrechtsgesetz ein und sei auch effektiver.
Nun, so neu ist der Blick auch wieder nicht, denn den Gerichten vor dem BGH war ja keineswegs entgangen, daß der Wortlaut von Absatz 2 das von ihnen vertretene Normverständnis allein nicht trägt. Sie haben sich aber in ausschlaggebender Weise der Beachtung des gesetzgeberischen Prozesses verpflichtet gefühlt. Nur in der Abweichung davon ist die Lösung des BGH neu. Der BGH geht so vor, daß er zunächst sehr ausführlich analysiert, wie § 101 Abs. 2 UrhG zu verstehen sei und dabei das schulmäßige Instrumentarium in Anschlag bringt: Wortlaut, Systematik, Zweck, Historie (hier: EG-Richtlinie). Er kommt dabei zu einem durchaus schlüssigen, sachgerechten Auslegungsergebnis. Ein Auslegungsergebnis, das überzeugend sein würde, hätte man keine Kenntnis vom Gesetzgebungsverfahren. Ohne dieses insgesamt zu referieren, nimmt der BGH abschließend Stellung zu der Diskrepanz seines Auslegungsergebnisses mit dem Verständnis der „Verfasser des Regierungsentwurfs“ (von allen Akteuren des Gesetzgebungsverfahrens gibt es nur diese für den BGH) und schreibt (Rechtsprechungsnachweise hier weggelassen):
Die Ansicht der Verfasser des Regierungsentwurfs zum Verständnis des § 101 Abs. 2 UrhG ist daher für die Auslegung dieser Vorschrift nicht maßgeblich. Für die Auslegung einer Gesetzesvorschrift ist der darin zum Ausdruck kommende objektivierte Wille des Gesetzgebers maßgeblich. Nicht entscheidend ist demgegenüber die subjektive Vorstellung der am Gesetzgebungsverfahren beteiligten Organe oder einzelner ihrer Mitglieder über die Bedeutung der Bestimmung […]. Die vorrangig am objektiven Sinn und Zweck des Gesetzes zu orientierende Auslegung kann nicht durch Motive gebunden werden, die im Gesetzgebungsverfahren dargelegt wurden, im Gesetzeswortlaut aber keinen Ausdruck gefunden haben […].
Damit war es das dann mit dem „tragfähigen Kompromiß“, der im Bundestag gefunden wurde. Zum bekannten Satz „Ein Federstrich des Gesetzgebers und ganze Bibliotheken werden zu Makulatur.“ (leicht abgewandelt nach von Kirchmann) gesellt sich nun „Ein Federstrich des I. Zivilsenats des BGH und ein monatelanges Beraten, Abwägen und Verhandeln im Parlament war umsonst.“
War es das? Nein. Das kann es nicht gewesen, wenn die im Grundgesetz vorgesehene parlamentarische Demokratie selbst nicht Schaden nehmen soll. In der eingangs angesprochenen Tendenz der obersten Bundesgerichte, sich über den Gesetzgeber hinwegzusetzen, nimmt die aktuelle Entscheidung des I. Zivilsenats des BGH auf Anhieb einen Ehrenplatz ein. So kraß hat sie bisher noch kein Gericht praktiziert. Die Entscheidung ist eine Grenzüberschreitung, ein Affront gegen die demokratischen Grundlagen des Grundgesetzes selbst. Es bedarf keiner großen Fantasie, um vorherzusagen, daß diese Entscheidung oder eine Entscheidung in ihrer Nachfolge auf eine Verfassungsbeschwerde hin vom Bundesverfassungsgericht aufgehoben wird.
Nach diesem leichten Ausbruch von Verärgerung nun weiter im Text einer ruhigen Analyse der BGH-Entscheidung:
Recht hat der BGH darin, daß die Berücksichtigung der Gesetzgebungsmaterialien und überhaupt der „Gesetzgebungsgeschichte“ nur eines von mehreren Mitteln der Auslegung ist und ihnen keine alles überstrahlende Bedeutung zukommt. Insbesondere darf die Gesetzesbegründung nicht einfach wie eine Anleitung zur Gesetzesauslegung gelesen werden. Die Entstehungsgeschichte eines Gesetzes ist einer von mehreren Auslegungsgesichtspunkten (hier: „historisch-genetische Auslegung“), die alle zueinander in Beziehung gesetzt werden müssen mit dem ihnen im konkreten Fall zukommenden Gewicht.
Schon hiergegen hat der BGH verstoßen, indem er die Gesetzgebungsgeschichte überhaupt nicht an einer solchen Gesamtbetrachtung hat teilnehmen lassen, sondern vielmehr in einem ersten Schritt alle übrigen Auslegungsgesichtspunkte, diese immerhin sorgfältig, abgeklopft und aus ihnen ein Auslegungsergebnis abgeleitet hat. Erst mit diesem – fertigen – Ergebnis hat er sodann die amtliche Gesetzesbegründung abgeglichen und befunden, daß diese nichts mehr am Ergebnis ändern könnte. Der zweite Fehler ist natürlich, daß er – absichtlich oder unabsichtlich – die Gesetzgebungsgeschichte überhaupt nicht als ganze zur Kenntnis genommen hat, sondern nur einen Ausschnitt, die Begründung des ursprünglichen (später geänderten) Regierungsentwurfs.
Aber hier hört die methodische Unhaltbarkeit der Begründung des BGH noch nicht auf: Die Gesetzgebungsmaterialien werden durchaus in der Rechtsprechung als Auslegungskriterien von besonderer Bedeutung behandelt (BVerfG, Beschluß vom 30. November 2010 – 1 BvL 3/07; Beschluß vom 25. Januar 2011 – 1 BvR 918/10; BSG, Beschluß vom 29. August 2006 – B 13 RJ 8/05 R). Allerdings müssen sie zurücktreten, wenn die übrigen Auslegungsgesichtspunkte mit hinreichendem Gewicht in eine andere Richtung weisen. Dann, und nur dann, ist „das Gesetz klüger als der Gesetzgeber“. Im vorliegenden Fall hat der BGH aber keine Argumente vorgebracht, die auch nur ein annäherndes Gewicht haben, um das klar im Gesetzgebungsverfahren hervorgetretene Regelungsanliegen zurücktreten zu lassen. Das – unter fast vollständiger Ausblendung der Gesetzgebungsgeschichte – zustande gekommene Auslegungsergebnis des BGH ist, wie gesagt, in sich schlüssig und stimmig, aber es fehlt jegliche Begründung, daß es nur so richtig sein kann. Im Rahmen der Gesamtbetrachtung aller Auslegungsansätze wäre aber ein echtes Übergewicht der mit der gesetzgebungsgeschichtlichen Auslegung konkurrierenden Gesichtspunkte geradezu erforderlich.
Was der BGH in seiner knappen Begründung in diesem Punkt möglicherweise andeuten will, ist, daß die Gesetzgebungsgeschichte unerheblich sei, wenn sie nicht im Gesetzestext ihren Niederschlag gefunden hat. Das wäre aber falsch und wurde nie in der Rechtsprechung vertreten. Die – isolierte – Auslegung aufgrund des Gesetzeswortlauts hat zwar subjektive Vorstellungen auszublenden („objektivierter Wille des Gesetzgebers“), aber gerade deshalb, weil dieses Ergebnis mit dem Gesetzgebungsvorgang in Beziehung gesetzt werden muß und das subjektive Elemente nicht „doppelt verwertet“ werden darf. In der Rechtsprechung gibt es immer wieder Fälle, in denen ein eigentlich eindeutiger Gesetzeswortlaut unter Berufung auch auf die Gesetzgebungsmaterialien abweichend ausgelegt wird (siehe nur BGH, Urteil vom 7. Dezember 2011 – IV ZR 105/11). Und im vorliegenden Fall geht es noch nicht einmal um einen eindeutigen Gesetzeswortlaut, sondern einen, wie der BGH selbst einräumt, hinlänglich offenen.
Im übrigen trifft es nicht einmal zu, daß das Ringen der am Gesetzgebungsprozeß Beteiligten im Wortlaut keinen Niederschlag gefunden hätte. Da es dem BGH gefallen hat, den Gesetzgebungshergang fast komplett auszublenden, hat er auch nicht bemerkt oder nicht bemerken wollen, daß im Zuge der Beratungen § 101 Abs. 1 Satz 2 UrhG in den Gesetzentwurf eingefügt und später mitverabschiedet wurde. Die Bedeutung dieser Vorschrift erschließt sich geradezu nur durch ein Studium der Gesetzesmaterialien. Diese im Rechtsausschuß als „Kompromiß“ bezeichnete Bestimmung ist der gezielte Versuch, bei Rechtsverletzungen in Tauschbörsen Bagatellfälle auszuscheiden. Da die Beratungen sich nur um Absatz 2 von § 101 UrhG drehten, ist der Umstand, daß man gleichwohl die Bagatellklausel in Absatz 1 verortete, der im Gesetzestext gleichsam wie ein Fußabdruck sichtbar gewordene Regelungswille, daß Absatz 2 die Voraussetzungen von Absatz 1 mit in sich aufnimmt (Technik des Vor-die-Klammer-Ziehens).
Hätte der BGH die Kenntnisnahme vom Gesetzgebungsverfahren nicht verweigert, hätte er bemerkt, daß die Diskussion sich durchgehend um die Feindosierung des Auskunftsanspruchs im neuen § 101 Abs. 2 UrhG drehte. Über § 101 Abs. 1 UrhG n.F. mußte nicht diskutiert werden, denn diese Vorschrift brachte inhaltlich nichts wesentlich neues gegenüber § 101a Abs. 1 UrhG in der zwischen dem 1. Juli 1990 und dem 31. Juli 2008 geltenden Fassung.
Der BGH versucht, von den geschichtlichen Akteuren, die am konkreten Gesetzgebungsverfahren teilgenommen haben, eine ideelle Gestalt abzuschichten, „den Gesetzgeber“. Inwieweit ein solche gedankliche Operation überhaupt glücklich ist oder nicht, soll hier nicht weiter verfolgt werden. Jedenfalls ist es dem BGH im parlamentarisch-demokratischen System des Grundgesetzes verwehrt, diese gegen jene „auszuspielen“. Ist es im konkreten Fall der Auslegung einer Norm möglich (nicht immer ist es möglich), einen im Gesetzgebungsverfahren zwischen allen Akteuren unbestrittenen Regelungsinhalt festzumachen (unbestritten nicht in dem Sinne, daß alle ihn gewollt haben, sondern in dem Sinne, daß sie davon ausgehen, daß die Norm so zu verstehen ist), dann ist die Schwelle für die Rechtsprechung hoch – nicht unübersteigbar, aber hoch – diesen Regelungswillen beiseite zu schieben. Sie muß dann schon schweres Geschütz auffahren. Hier hat der BGH jedoch nichts dergleichen aufgefahren. Aufgefahren hat er allerdings seinen eigenen Regelungswillen:
Ein Kernargument des BGH, das er mehrfach anführt, ist, daß bei einem anderen Verständnis von § 101 Abs. 2 UrhG die Rechteinhaber faktisch schutzlos gestellt seien. Unterstellt, dies ist so, dann war dies ein Rechtszustand, der so oder so bis zum 1. September 2008 währte. Erst mit diesem Datum ist, in Form des § 101 Abs. 2 UrhG, ein Schutz überhaupt eingeführt worden. Genau wie das Ob der Einführung eines solchen Schutzes Gegenstand einer gezielten gesetzgeberischen Entscheidung ist, muß es auch das Wieweit sein. Ein Gesetz, das einen solchen Schutz einführt, entwickelt kein – von der Rechtsprechung autonom auszudeutendes – Eigenleben, wie weit der Schutz reicht.
Es bleibt dem BGH dabei unbenommen, etwa zu argumentieren, daß höherrangiges Recht es dem Gesetzgeber zur Pflicht mache, ein von ihm eingeführtes Schutzmodell auch effektiv auszugestalten, es nicht „verkümmern“ zu lassen. Wenn dem BGH aber tatsächlich hier ein solcher Fall von „Systemgerechtigkeit“ vorschweben sollte, dann wäre er gemäß Art. 100 Abs. 1 GG verpflichtet gewesen, § 101 Abs. 2 UrhG zum Gegenstand eines konkreten Normenkontrollverfahrens vor dem BVerfG zu machen. Es wäre ihm nicht erlaubt – und schon gar nicht stillschweigend – eine verfassungskonforme Auslegung mit dem gefundenen Ergebnis vorzunehmen. Eine verfassungskonforme Auslegung darf nicht dazu führen, daß das gesetzgeberische Ziel in einem wesentlichen Punkt verfehlt oder verfälscht wird. Sie darf nicht dazu führen, „daß der Gesetzgeber die von ihm getroffene Regelung nach der Interpretation inhaltlich nicht wiedererkennt“ (BVerfG, Beschluß vom 19. September 2007 – 2 BvF 3/02). Entsprechendes gilt, wenn das höherrangige Recht, gegen das der Gesetzgeber verstoßen haben soll, die EU-Richtlinie sein sollte (so LG Bielefeld, Beschluß vom 20. März 2009 – 4 OH 49/09). In diesem Fall ist prozessual das Entscheidungsmonopol des EuGH gem. Art. 267 Abs. 3 AEUV zu beachten. Die Gerichte können sich über den Gesetzgeber hinwegsetzen unter Berufung auf höherrangiges Recht (Normenhierarchie). Sie können es nicht jedoch unter Berufung auf höherrangige – eigene – Wertungen.
Recht wird im Parlament gemacht, nicht in den Gerichten. Dort wird es nur angewandt – von Ausnahmefällen abgesehen. Vielleicht war der I. Zivilsenat hier der Meinung, ein solcher Ausnahmefall liege vor. Gegenüber dem überragenden Interesse des Schutzes der Urheberrechtsinhaber habe sich der Bundestag als kraftlose Quasselbude erwiesen. Habe nicht gerade kürzlich die ACTA-Protestbewegung die Parlamente zu Rückziehern gezwungen bei der Schaffung dringend nötiger Schutzmechanismen? „In einem Rechtsstaat darf auch das Internet keinen rechtsfreien Raum bilden.“ (O-Ton BGH-Beschluß).
Man könnte fast ein bißchen pathetisch werden und die Beratungen in Bundestag und Bundesrat zu § 101 Abs. 2 UrhG als Sternstunde des Parlamentarismus bezeichnen. Nicht immer wird so offen und transparent gerungen und versucht, Kompromisse zu erzielen (zumal in Zeiten einer großen Koalition). Kürzlich wurde eine große öffentliche Aufregung ausgelöst, als im Bundestag das neue Bundesmeldegesetz verabschiedet wurde, nachdem – jedenfalls bestimmten Darstellungen zufolge – kurzfristig im Ausschuß eine Bestimmung „hineingeschmuggelt“ worden war, die das Gegenteil von dem bedeutete, worauf man sich meinte geeinigt zu haben. Wie vorbildlich – einschließlich Expertenanhörungen – ist man demgegenüber nicht beim Gesetz zur Verbesserung der Durchsetzung von Rechten des geistigen Eigentums vorgegangen. Doch wenn es dem I. Zivilsenat des BGH nicht gefällt, dann geht es ins Leere.
Die BGH-Richter machen dabei vor nichts Halt: Nachdem die Richter des I. Zivilsenats den Gestaltungswillen des Gesetzgebers ausgehebelt und durch einen eigenen ersetzt haben, führen sie sogar den so verfälschten Gesetzesinhalt einer EU-rechtlichen und verfassungsrechtlichen Verhältnismäßigkeitsprüfung zu und behaupten nun, ohne rot zu werden (Hervorhebung hier):
Bei der Regelung handelt es sich um eine fachrechtliche Eingriffsermächtigung, die eine hinreichend klare Entscheidung des Gesetzgebers enthält, unter welchen Voraussetzungen eine Verwendung von Verkehrsdaten zur Identifizierung von dynamischen IP-Adressen erlaubt ist.
Auf keine Weise wird deutlicher, wie groß der Angriff des I. Zivilsenats des BGH auf die parlamentarische Demokratie ist, als wenn man innerhalb des § 101 UrhG seinen Blick auf den Absatz 10 schweifen läßt:
Durch Absatz 2 in Verbindung mit Absatz 9 wird das Grundrecht des Fernmeldegeheimnisses (Artikel 10 des Grundgesetzes) eingeschränkt.
Mit dieser Feststellung erfüllte der Gesetzgeber – d.h. die Bundestagsabgeordneten, die dem Gesetz zustimmten – seine Pflicht gemäß dem Zitiergebot des Art. 19 Abs. 1 Satz 2 GG. Das Gebot hat den Sinn, die Abgeordneten an ihre besondere Verantwortung bei Grundrechtseinschränkungen zu erinnern und insbesondere daran, hier besonders behutsam vorzugehen (BVerfG, Beschluß vom 12. Oktober 2011 – 2 BvR 236/08). Dieser Verantwortung sind, wie gezeigt, die Parlamentarier gerecht geworden. Selten wurde so viel diskutiert und abgewogen. Vom Grundgesetz ist allerdings nicht vorgesehen, daß das Zitiergebot dadurch leerläuft, daß zwar die eingeschränkte Grundgesetznorm im Gesetz genannt wird, daß sich das Zitat aber auf Einschränkungen bezieht, die nicht mehr von den Parlamentariern entschieden wurden, sondern von einem 5-Männer-Gremium am BGH (wenn übrigens der BGH meint, gegen die Meinung des Bundestags entscheiden zu dürfen, müßte er deshalb § 101 UrhG jedenfalls wegen Verstoßes gegen das Zitiergebot dem BVerfG vorlegen).
Es ist schon eine merkwürdige Schieflage: Während sich auf der einen Seite – im Verhältnis zur EU – derzeit viele intellektuell daran abarbeiten, das parlamentarisch-demokratische System des Grundgesetzes vor einer Aushöhlung durch übermäßigen Machttransfer auf (tatsächlich oder vermeintlich) demokratisch nicht gleichwertig legitimierte europäische Entscheidungsebenen zu schützen und dafür sogar das bemerkenswerte Instrument geschaffen wurde, daß der Parlamentarismus als solcher durch Verfassungsbeschwerde (Art. 38 GG) geltend gemacht werden könne (siehe nur BVerfG, Urteil vom 30. Juni 2009 – 2 BvE 2/08), ist das zu schützende Gut, das man sich dabei doch wenigstens als innerstaatlich wohlauf vorstellt, durch allzu machtbewußte Fachgerichte einer nicht minder gefährlichen Aushöhlung ausgesetzt.
Wenn das BVerfG im Verhältnis zum BGH das Demokratieprinzip auch nur annähernd so ernst nimmt wie in seinen Entscheidungen Maastricht und Lissabon, dann wird es – auf eine Verfassungsbeschwerde hin – diese Entscheidung des BGH oder eine Entscheidung in ihrer Nachfolge als Verstoß gegen Art. 20 Abs. 3 GG aufheben (vgl. BVerfG, Beschluß vom 25. Januar 2011 – 1 BvR 918/10; Beschluß vom 20. April 2010 – 1 BvR 1670/09).
Darüber hinaus ist jedem Oberlandesgericht zu raten, schon vor einer entsprechenden BVerfG-Entscheidung dem BGH hier die Gefolgschaft zu verweigern. Im Grundsatz hat es seine Richtigkeit, daß Gerichte ihre frühere Rechtsprechung zu bestimmten Fragen aufgeben, wenn der BGH in einer Leitentscheidung abweichend entschieden hat. Dies kann aber nicht gelten, wenn der BGH damit die Bandbreite vertretbarer Meinungen verläßt und einen Verstoß gegen die verfassungsmäßige Ordnung begeht. Hier wird jedes Gericht sich fragen müssen, wem seine Loyalität gehört. Hält das Gericht es mit dem BGH oder mit der parlamentarischen Demokratie im Sinne des Grundgesetzes?
Nachtrag vom 14. August 2012
Netzpolitik.org hat diesen Beitrag aufgegriffen und in seinen wesentlichen Aussagen gut zusammengefaßt.