De legibus-Blog

2. Juni 2021

Der Richter und sein Lenker – Von Rechtsbeugung und anderen schrägen Sachen

Oliver García

Als Anfang April ein Familienrichter am Amtsgericht Weimar per einstweiliger Anordnung zwei Weimarer Schulen verbot, ihren Schülern aufzugeben, gegen ihren Willen Masken zu tragen, Mindestabstände einzuhalten und an Coronavirus-Schnelltests teilzunehmen (Beschluß vom 8. April 2021 – 9 F 148/21), war die Aufregung groß. Der Beschluß ist vor drei Wochen vom OLG Jena aufgehoben worden, aus zutreffenden Gründen, wie ich finde (Beschluß vom 14. Mai 2021 – 1 UF 136/21). Das Hauptsacheverfahren ist noch vor dem Familienrichter anhängig. Aber anhängig ist seit Mitte April auch noch ein anderes Verfahren – ein Strafverfahren gegen den Familienrichter wegen des Verdachts der Rechtsbeugung. Solche (Vor-)Ermittlungsverfahren, angestrengt meist durch von der Rechtsprechung enttäuschte unterlegene Parteien, enden meist, bevor sie überhaupt beginnen. Doch hier (enttäuschte unterlegene Partei: Freistaat Thüringen) eskalierte der Fall: Am 27. April lief die Meldung über die Ticker, daß die Staatsanwaltschaft Erfurt das Dienstzimmer, die Privatwohnung und das Auto des Familienrichters durchsucht habe. Und weiter: „Die Ermittler haben das Handy und ‚weitere Beweismittel‘ des Richters beschlagnahmt.“

Ich wüßte nicht, daß so etwas schon einmal vorgekommen wäre in Deutschland: Daß ein Richter überzogen wird mit Durchsuchungsmaßnahmen im Zusammenhang mit seiner rechtsprechenden Tätigkeit (im Unterschied zu Korruptionsermittlungen). Das Auffällige ist aber auch, daß das Echo in der Medien- und Fachöffentlichkeit im Vergleich zu dem im Ausgangsfall so deutlich zurückbleibt. Die Brisanz liegt auf der Hand: Ein Richter trifft eine umstrittene Entscheidung gegen die Regierung und prompt steht der Staatsanwalt vor der Tür. Würde ein solcher Fall in Rußland spielen, gäbe es am nächsten Tag möglicherweise eine Sondersendung im deutschen Fernsehen. Im hiesigen Fall jedenfalls hat man von einem Ausschwärmen des investigativen Journalismus noch nichts bemerkt.

Nehmen sich die Medien eines Falles an und bleiben sie dran, können sich neben Erkenntnisgewinn mitunter erstaunliche Konsequenzen ergeben. Man denke nur an den Wirbel, den es gab, als gegen das Online-Magazin netzpolitik.org ermittelt wurde, in dessen Konsequenz sogar der Generalbundesanwalt entlassen wurde. Es hat den Anschein, daß das Engagement der Medien nicht so sehr an übergeordnete Prinzipien wie dem Schutz der richterlichen Unabhängigkeit ausgerichtet ist wie an vordergründigen und kurzsichtigen Freund-Feind-Schemata.

Daß auch der vorliegende Fall eine politische Dimension hat, läßt sich nicht bezweifeln. Zum einen fällt ein Ermittlungsverfahren von vornherein unter die Berichtspflichten der Staatsanwaltschaft gegenüber dem Justizministerium. Zum anderen hat der amtierende Justizminister Dirk Adams (Grüne) bereits gezeigt, daß es durchaus zu seiner Amtspraxis gehören kann, in laufenden Verfahren bei der Staatsanwaltschaft die Zügel zu übernehmen. Vor zwei Jahren hat er – übrigens auch nach einem Mediensturm – in einer Krisensitzung zusammen mit dem Generalstaatsanwalt und der örtlichen Staatsanwaltschaft entschieden, daß ein Ermittlungsverfahren gegen das „Zentrum für politische Schönheit“ eingestellt wird (was sicherlich richtig war) und der ermittelnde Staatsanwalt gemaßregelt wird.

Ich halte es auch für mehr als eine Arabeske, daß unter den 11 Strafanzeigen gegen den regierungskritischen Richter, die laut Staatsanwaltschaft bei ihr vorlagen, zumindest eine von einem Regierungsabgeordneten stammt. Nun ist es generell ein merkwürdiger Volksbrauch, „Strafanzeigen“ zu erstatten zu öffentlichen Vorgängen, die bei der Behörde bereits mindestens genauso bekannt sind wie dem Anzeigeerstatter. Der Sache nach handelt es sich dabei ja nicht um „Anzeigen“ im Sinne von „zur Kenntnis bringen“, sondern um den Wunsch, daß eingeschritten wird, weshalb die Strafverfahrensrichtlinien auch vorsehen, daß dem „Anzeige“-Erstatter als Interessenten am Ende mitgeteilt wird, was aus der Sache geworden ist.

Gründe genug jedenfalls, sich im bescheidenen Rahmen dieses Blogs etwas näher mit dem Fall zu beschäftigen, bei allen Einschränkungen, die eine Ferndiagnose mit sich bringt. Ist bei diesen staatsanwaltlichen Ermittlungen alles im grünen Bereich oder haben wir es mit dem Anfangsverdacht eines Skandals zu tun?

Ein „ausbrechender Rechtsakt“

Für den Weimarer Familienrichter dürfte es nicht überraschend gekommen sein, daß er mit seinem 178-seitigen Beschluß mehr Gegenwind als Zustimmung ernten würde. Schon wenige Tage nach Veröffentlichung des Beschlußwortlautes äußerte sich der 10. Senat des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs in einer Weise, die LTO.de eine eigene Nachricht wert war. Er schrieb in zwei Beschlüssen zu versammlungsrechtlichen Eilverfahren, die er sowieso gerade auf dem Tisch hatte, folgenden Satz, der Karriere machen sollte. Ich zitiere ihn – abweichend vom Original – in einer Formatierung mit Aufzählungspunkten (Beschlüsse vom 16. April 2021 – 10 CS 21.1113 und 10 CS 21.1114):

Die von der Antragstellerin erstinstanzlich weiter angeführte Entscheidung des Amtsgerichts Weimar vom 8. April 2021 erachtet der Senat hinsichtlich

  1. der Annahme der Rechtswegzuständigkeit,
  2. der Verfahrensgestaltung,
  3. der Art und Weise der Sachverhaltsermittlung und schließlich
  4. des Ergebnisses

als ausbrechenden Rechtsakt und misst ihr daher keine entscheidungserhebliche Bedeutung bei.

Dieser Satz – mehr hat der Senat nicht geschrieben – ist kurz darauf von anderen Gerichten als Verdikt übernommen worden (VG Weimar, 20. April 2021 – 8 E 416/21; AG Elmshorn, 21. April 2021 – 44 F 33/21; VG Würzburg, 23. April 2021 – W 8 E 21.548 und W 8 E 21.546; AG Garmisch-Partenkirchen, 3. Mai 2021 – 1 F 128/21). Auch in der Presseberichterstattung zu den strafrechtlichen Ermittlungen gegen den Weimarer Richter tauchte die Formulierung vom „ausbrechenden Rechtsakt“ auf, gewissermaßen um die Stichhaltigkeit des Rechtsbeugungsverdachts zu untermauern. Ob dieser Zusammenhang rein journalistischer Natur ist oder auf Äußerungen der Staatsanwaltschaft zurückgeht, bleibt offen.

Betrachten wir den Satz näher. Zunächst – was ist mit dem Begriff „ausbrechender Rechtsakt“ eigentlich gemeint? Seine apodiktische Verwendung läßt ihn so klingen, als handele es sich um einen stehenden Ausdruck für eine gängige, hier nach Meinung des Senats einschlägige juristische Kategorie. Etwa so wie Gerichte in Verweisungssachen von „handgreiflicher Gesetzeswidrigkeit“ einer gerichtlichen Entscheidung sprechen. Davon kann aber keine Rede sein. Es gibt diesen Ausdruck zwar, aber in einem anderen Zusammenhang. Bekanntlich wird er vom Bundesverfassungsgericht verwendet, um (tatsächliche oder vermeintliche) Kompetenzübergriffe der EU zurückzuweisen (Ultra-vires-Problematik; erste Verwendung im „Maastricht“-Urteil vom 12. Dezember 1993 – 2 BvR 2134/92). Dabei handelt es sich um den Fall, daß zwei Rechtsräume in ihrem Normgeltungsanspruch (oder eigentlich Norminterpretenanspruch) miteinander kollidieren. Stellt das BVerfG einen „ausbrechenden Rechtsakt“ durch EU-Recht fest, so hat das in der Regel umgekehrt zur Folge, daß aus Sicht des EU-Rechts ein „ausbrechenden Rechtsakt“ durch das Recht eines Mitgliedsstaates vorliegt. Gerade kürzlich hat Generalanwalt am EuGH Tanchev darauf hingewiesen, daß in einem solchen Fall Deutschland entweder zur Rechtstreue zurückfinden oder seine Verfassung ändern oder aus der EU austreten muß (Schlußanträge vom 17. Dezember 2020 – C-824/18, Rn. 84). Auf jeden Fall ist klar, daß es keine Razzia beim EuGH geben wird, wenn das BVerfG einmal einen ausbrechenden Rechtsakt durch diesen feststellt.

Der vom BayVGH verwendete Terminus wurde für eine problematische Gerichtsentscheidung bisher noch nie verwendet. Einen irgendwie konturierten Inhalt hat er – neben seiner Suggestivkraft für andere Gerichte und die Presse – nicht. Er ist lediglich eine literarische Ausdrucksform für den individuellen Kopfschüttelfaktor der drei beschlußfassenden Richter des 10. Senats des BayVGH (was nicht heißen soll, daß man ihn als solche nicht goutieren dürfte).

Aber noch etwas weitere Textanalyse: Der Senat war so wenig amüsiert von dem Weimarer Beschuß, daß er den Terminus gleich in vier verschiedenen Disziplinen vergeben hat. Offenbar in jeder für sich ist der Beschluß ein „ausbrechenden Rechtsakt“. Um nur eine der Kombinationsmöglichkeiten zu nennen: Selbst wenn mit dem Rechtsweg alles in Ordnung gewesen wäre (also das VG Weimar entschieden hätte), die Verfahrensgestaltung vorbildlich gewesen wäre (wußte der VGH am 16. April mehr über die Verfahrensgestaltung als aus dem Beschluß selbst hervorgeht?) und auch die Art und Weise der Sachverhaltsermittlung tadellos gewesen wäre – weil das Ergebnis nicht stimmt, wäre der Beschluß auf jeden Fall ein „ausbrechender Rechtsakt“. So gesehen sagt der Senat eigentlich nicht mehr als  drei Monate vorher zu einem Urteil eines anderen Weimarer Richters (in einer OWi-Sache, Urteil vom 11. Januar 2021 – 6 OWi 523 Js 202518/20), das der „Senat für eine methodisch höchst fragwürdige Einzelentscheidung [hielt], die hinsichtlich der Gefahren der Corona-Pandemie im Widerspruch zur (vom Amtsgericht nicht ansatzweise berücksichtigten) ganz überwiegenden Rechtsprechung der deutschen Gerichte steht“ (24. Januar 2021 – 10 CS 21.249). Damit würde sich der „Ausbruch“ des Rechtsakts auf einen Ausbruch aus dem Geleitzug einer herrschenden Meinung reduzieren.

Und um den textkritischen Teil damit abzuschließen, nur noch der Hinweis, daß der in dem Satz ausgesprochene Konnex („und daher“) weder nach den Regeln der Logik noch denen des juristischen Diskurses überhaupt existiert: Der Senat überging die Weimarer Entscheidung nicht deshalb, weil sie ein „ausbrechender Rechtsakt“ war (wäre sie kein solcher, hätte sie ebenfalls keine irgendwie geartete Bindungs- oder Präjudizwirkung für den Senat), sondern schlicht, weil sie ihn (wie viele andere) nicht überzeugte.

Um was ging es eigentlich?

Die Weimarer Entscheidung besteht aus zwei problematischen Elementen, die eigentlich verschiedene Fragen betreffen, die Frage der gerichtlichen Zuständigkeit einerseits und die der Anwendung des materiellen Rechts andererseits. In – fachlichen und nichtfachlichen – Aufschreien der Empörung werden diese Elemente zwar nicht durchweg vermischt, aber sie scheinen einen Aufschaukelungs- und Rückkopplungseffekt zu haben, der mancherorts einer differenzierten Betrachtung im Weg steht. Ein Beispiel: Das Thüringer Bildungsministerium hat seine Beschwerde an das OLG u.a. so begründet:

„Bei greifbarer Gesetzwidrigkeit müsse die außerordentliche Beschwerde daher weiter Anwendung finden. Derart offensichtliche Rechtsbrüche seitens der Gerichte habe der Gesetzgeber nämlich nicht antizipieren können und in der Folge auch nicht sinnvoll regulieren müssen. Wollte man dies anders sehen, bestünde keine Möglichkeit, selbst krasse und im Lichte des geltenden Rechts unerträgliche Rechtsverstöße richtigzustellen, was zu dem Ergebnis führen würde, dass die fehlende Überprüfbarkeit hingenommen werden müsste.“

Es geht an dieser Stelle um die Zulässigkeit einer Beschwerde gegen eine Entscheidung, deren Anfechtbarkeit der Gesetzgeber eigentlich ausgeschlossen hat (§ 57 FamFG) Mit „krassen, unerträglichen Rechtsverstößen“ meint das Ministerium hier – machen wir uns nichts vor – nicht die Frage der Zuständigkeit, so fehlerhaft sie auch beantwortet worden sein mag, sondern die Entscheidung im Ergebnis. Daß Streitigkeiten im falschen Rechtsweg entschieden werden (aufgrund problematischer Verweisung oder Nichtverweisung) ist in der Justizpraxis nichts Unbekanntes und wird grundsätzlich hingenommen, soweit dem nicht im Rechtsmittelweg abgeholfen werden kann. Die Problematik der Zuständigkeit, die in anderen Zusammenhang gleichgültig lassen würde, wird hier als Vehikel verwendet und mit der Empörung über das Ergebnis über die Maßen aufgeladen. Der OLG-Senat ist der zitierten Argumentation nicht nur nicht gefolgt, sondern hat auch sonst aus der aufgeblasenen Aufregung um die Zuständigkeit (laut Presseberichten hatte das Ministerium zwischenzeitlich die Haltung eingenommen, der Beschluß sei sogar so rechtswidrig, daß er ein Nicht-Beschluß sei) die Luft gelassen – dazu gleich.

Entfernt erinnert mich der Fall an einen Konflikt von Ende der Nuller Jahre zwischen der ordentlichen und der Sozialgerichtsbarkeit. Damals begannen die Sozialgerichte, zunächst das SG Stuttgart, vergaberechtliche Verfahren an sich zu ziehen, an denen Sozialleistungsträger beteiligt waren. Der Übergriff kam für die Oberlandesgerichte, deren Zuständigkeit bis dahin einhellig als ausschließliche begriffen worden war, so plötzlich wie ein Überfall maskierter Räuber aus dem Hinterhalt. Die überrumpelte Vergaberechtsszene staunte und schüttelte die Köpfe. Im Beschluß des OLG Düsseldorf (vom 17.01.2008 – VII-Verg 57/07) heißt es etwa:

„Wieso dies [nach Meinung des SG Stuttgart] dazu führen soll, dass für die Rechtsbehelfe gegen die Beschlüsse der Vergabekammern die Sozialgerichte zuständig sein sollen, bleibt völlig im Dunkeln.

….

[…] hat bisher noch niemand den Schluss gezogen, dass bei einem in Aussicht genommenen öffentlich-rechtlichen Vertrag statt der Vergabekammer die Verwaltungsgerichte zuständig sind. Es ist vielmehr als völlig selbstverständlich angesehen worden, dass auch in derartigen Fällen – wenn es sich um dem Vergaberecht unterfallende Vergaben handelt – die Vergabekammern zuständig sind.“

Es fehlte nicht viel und man hätte vielleicht von „ausbrechendem Rechtsakt“ gesprochen, wenn das Wort damals schon  en vogue gewesen wäre. Jedenfalls hat das OLG Düsseldorf in einem Tenor sogar eine Vergabestelle angewiesen, abweichende an sie gerichtete Entscheidungen der Sozialgerichte zu ignorieren („Es wird festgestellt, dass das von der Vergabekammer ausgesprochene Zuschlagsverbot bis zu einem Beschluss des Vergabesenats gem. § 121 GWB oder 123 GWB – und zwar ungeachtet etwaiger anderslautender Entscheidungen der Sozialgerichte – fortdauert.“), obwohl für Kompetenzstreitigkeiten eigentlich ein besonderes Verfahren vorgesehen ist.

Die vom SG Stuttgart in Anspruch genommene Zuständigkeit war schon formal schief: Die Vergabekammer, vom Gesetz als Quasi-Gericht ausgestaltet, fand sich vor dem SG in der Rolle der Beklagten wieder, was im Ergebnis ungefähr so war, als würde man das Amtsgericht vor dem Verwaltungsgericht verklagen anstatt in Berufung vor das Landgericht zu gehen.

Überraschenderweise ist die Position des SG Stuttgart sowohl von LSG als auch BSG bestätigt worden (Beschluß vom 22. April 2008 – B 1 SF 1/08 R). Das OLG versuchte noch, dem Ganzen ein Ende dadurch zu machen, daß es die Sache dem BGH vorlegte, womöglich in der Vorstellung, daß der Gemeinsame Senat der obersten Gerichtshöfe des Bundes eingeschaltet würde. Der BGH wiederum erklärte zwar die Rechtsauffassung des BSG für falsch, beließ es aber dabei, weil für das konkrete Verfahren die Bindungswirkung der (falschen) Entscheidung des BSG Vorrang habe (Beschluß vom 15. Juli 2008 – X ZB 17/08). In der Folge wurde der Kompetenzkonflikt dadurch gelöst, daß das Gesetz geändert wurde. Da dies unter Federführung von Sozialrechtlern, nicht Vergaberechtlern, geschah, wurde die Grundsatzfrage im Sinne der BSG-Position entschieden. Gleichzeitig wurden verfahrensrechtliche Systemwidrigkeiten, die diese Position hereingetragen hatte, bereinigt und dadurch den Haupteinwänden der ordentlichen Gerichte Rechnung getragen.

Man sieht: Es geht auch in anderen Bereichen heiß her, wenn auch weniger emotional aufgeladen. Es braucht schon den Impetus eines „Kampfes gegen Wissenschafsleugner und Coronagegner“ und andere wichtige Anliegen der Zeit, um einen an sich trockenen Zuständigkeitsstreit auf den Siedepunkt zu bekommen. Im Kampf zwischen dem Wahren und Richtigen gegen das Böse und Falsche werden die Handschuhe ausgezogen.

Das OLG Jena hat sich jedenfalls von der Aufregung der Gerechten nicht anstecken lassen und hat sich darauf beschränkt, den Fall mit dem allgemeinen juristischen Instrumentarium zu beantworten. Es hat, mit der Mehrheit der Gerichte, die Rechtsfrage, ob ein Familiengericht die Kompetenz hat, gegen (eventuell) kindeswohlgefährdende Handlungen von Behörden einzuschreiten, verneint. Zwar sehe § 1666 Abs. 4 BGB ausdrücklich vor, daß das Familiengericht auch schützende „Maßnahmen mit Wirkung gegen einen Dritten“ treffen kann. Doch Behörden seien keine „Dritten“ im Sinne der Vorschrift, denn zum einen fehle es an dem in der Norm auch vorausgesetzten Bezug zu den Personensorgeangelegenheiten (also dem Zuständigkeitskreis der Eltern im Regelfall) und zum anderen würde eine Weisungsgewalt gegenüber Behörden einen Eingriff in das Gewaltenteilungsprinzip bedeuten.

Da das zweite Argument ein bißchen etwas von einer petitio principii hat, möchte ich die Argumentation des Senats um eine etwas grundlegendere Überlegung ergänzen. Der entscheidende Gesichtspunkt dafür, daß Behörden keine „Dritten“ im Sinne der Vorschrift sind, ist für mich – aus der Einzelvorschrift herauszoomend – folgender:

Die Kompetenz des Gesetzgebers zum Erlaß einer Norm bezeichnet die äußerste Grenze dessen, was Inhalt der Norm sein kann. Was schon der Gesetzgeber selbst nicht in eine Norm hineinschreiben könnte, etwa durch vermehrte Einzelregelungen statt Generalklauseln, kann der Normanwender erst recht nicht in sie hineinlesen.

§ 1666 Abs. 4 BGB – wie das Bürgerliche Gesetzbuch als Ganzes – beruht auf dem Kompetenztitel des Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 GG („bürgerliches Recht“). Das bürgerliche Recht regelt – wie der Name schon sagt – die Rechtsverhältnisse zwischen Bürgern (Privaten) in Abgrenzungen zu denen zwischen Staat und Bürgern (öffentliches Recht). Der Bund hat nicht die Möglichkeit, anhand dieses Kompetenztitels das gesamte öffentliche Recht zu regeln, nur weil auf der einen Seite ein Bürger (hier: ein Kind) beteiligt ist. Andernfalls hätte sich das Grundgesetz seine detaillierten Kompetenzkataloge weitgehend sparen können.

Der Umstand, daß im vorliegenden Fall kein ernsthafter Konflikt auf Kompetenzebene entstehen kann (der Bund hat für die Sachmaterie des Infektionsschutzrechts die Gesetzgebungskompetenz und hat von ihr auch Gebrauch gemacht), macht diese Betrachtung nicht hinfällig. Zum einen hat der Bund, als er § 1666 BGB in der heutigen Fassung geschaffen hat, eben keine öffentlich-rechtlichen Kompetenztitel dafür aufgerufen, zum anderen genügt auslegungsmethodisch die abstrakte Betrachtung, daß über den Einzelfall hinaus ein Auslegungsergebnis entstünde, mit dem der Bund unweigerlich in das öffentliche Recht der Länder hineinregieren würde.

Ein Norminhalt, der verfassungswidrig wäre, wenn er einstimmig von Bundestag und Bundesrat beschlossen würde, ist nicht weniger verfassungswidrig, wenn ihn ein Gericht in einem konkreten Fall herleitet. Aus diesem übergeordneten Gesichtspunkt heraus können Behörden nicht Dritte im Sinne von § 1666 Abs. 4 BGB sein.

Wie schon gesagt, hat der OLG-Senat die Luft gelassen aus der kulturkämpferischen Hyper-Emotionalisierung der Zuständigkeitsfrage (!). Er hat dies zum einen dadurch getan, daß er ohne Überstürzung, ja sogar mit großzügigen Äußerungsfristen das Verfahren betrieben hat, daß er dem Wunsch des Ministeriums, neue Zulässigkeitsnormen zu kreieren, um zur eigenen Zuständigkeit zu kommen (also Feuer mit Feuer zu bekämpfen), nicht nachgekommen ist, hat es mit der Kostenentscheidung getan (dazu später noch genauer), aber vor allem hat er es dadurch getan, daß er – wie bereits das OLG Nürnberg vor ihm (Beschluß vom 26. April 2021 – 9 WF 342/21) – gemäß § 17a Abs. 4 S.5 GVG die Rechtsbeschwerde zum BGH zugelassen hat. Man wird das nicht anders deuten können als die Aussage: Die Zuständigkeitsfrage ist zwar aus unserer Sicht mit Nein zu beantworten, aber sie ist doch diskutabel. Es ist möglich, daß der BGH sie anders sieht. Fragen, die so klar zu beantworten sind, daß jede andere Antwort abwegig wäre (oder gar zu einem Nicht-Beschluß oder ähnlichem Phänomen führen würde), sind keine Fragen mit „grundsätzlicher Bedeutung“, die zum BGH zulassungsbedürftig wären.

Wenn man will, steckt in der Rechtsbeschwerdezulassung eine Herausforderung an die Staatsanwaltschaft: Falls sie tatsächlich ihre Rechtsbeugungsermittlungen gegen den Weimarer Richter allein – wie sie es in ihren Verlautbarungen andeutet – auf dessen Zuständigkeitsberühmung (Münchener Rechtsfigur des „ausbrechenden Rechtsakts“ oder ähnliches) stützen sollte (was ich mir aber kaum vorstellen kann – dazu im nächsten Abschnitt ausführlicher), so wäre naheliegend, nun ein Ermittlungsverfahren gegen die Jenaer OLG-Richter einzuleiten wegen des Verdachts des Versuchs einer Anstiftung (des BGH) zur Rechtsbeugung (§ 30 Abs. 1 StGB).

Was ist verdächtig?

Natürlich ist diese letzte Überlegung nur gerade so ernst gemeint, wie es für ein ad-absurdum-Führen erforderlich ist. Aber sie führt auch zur eigentlichen Kernfrage des Falles: Wer hat eigentlich die Deutungshoheit darüber, ob eine in richterlicher Unabhängigkeit getroffene Entscheidung im Hinblick auf die ihr zugrundeliegenden Beurteilung der Rechtsfragen richtig oder falsch ist? Man war es bislang gewohnt, daß die im Rechtsmittelzug übergeordneten Gerichte dazu berufen sind und nicht die Staatsanwaltschaft als eine Art spezielle Rechtsaufsichtsbehörde. Erst wenn auf dem Rechtsmittelweg geklärt ist, daß eine bestimmte Entscheidung (oder Entscheidungslinie) nach dem einschlägigen Recht fehlerhaft ist, kommt überhaupt erst in Betracht, daß die richterliche Tätigkeit, wenn weitere Momente hinzukommen, strafbar gewesen sein kann.

Hier hat die Staatsanwaltschaft Erfurt das Pferd umgekehrt aufgezäumt: Wohl wissend, daß für das OLG Jena der Fall keineswegs klar ist (sonst hätte es – wie damals auch allgemein in der Presse zu lesen war – keinen Anlaß gehabt, den Beteiligten lange Fristen zur Stellungnahme zu gewähren), hat sie dem Rechtsmittelgericht vorgegriffen und lange vor dessen Entscheidung massive Maßnahmen ergriffen.

Nun sitzen in der Staatsanwaltschaft allerdings hochqualifizierte, erfahrene und in der Regel seriös arbeitende Juristen (außer natürlich, wenn gegen das „Zentrum für politische Schönheit“ ermittelt wird). Es ist für mich kaum vorstellbar, daß sie einen Durchsuchungen rechtfertigenden Rechtsbeugungsverdacht allein mit der Behauptung eines besonders krassen Rechtsverstoßes bejahen, dessen Kraßheit noch gar nicht gerichtlich geklärt ist. Was im Gesetz steht, haben nun einmal die Gerichte zu entscheiden und nicht die Staatsanwaltschaft und das kann durchaus für Überraschungen gut sein. Als der BGH in den 1950er Jahren das Institut der Entschädigung in Geld für besonders schwere Persönlichkeitsverletzungen in die Welt setzte – nicht praeter legem, sondern contra legem –, zeigte ein Juraprofessor die BGH-Richter wegen Rechtsbeugung an. Bekanntlich ist strafrechtlich nichts daraus geworden, wohl aber hatte das Rechtsinstitut  eine große Karriere.

Es wäre abenteuerlich, wenn die Staatsanwaltschaft Erfurt allein aufgrund einer abweichenden Bewertung einer nicht durch ständige Rechtsprechung oder höchstrichterlichen Entscheidung geklärten Rechtsfrage eine Durchsuchung beantragen würde. Ein Ermittlungsrichter, der auf einer solchen Grundlage eine Durchsuchungsanordnung erläßt, würde sich, denselben laxen Maßstab zugrundegelegt, in eigener Person dem Verdacht der Rechtsbeugung aussetzen. Der – von der StA Erfurt selbst durchgefochtene – seltene Fall einer Verurteilung eines Richters wegen Rechtsbeugung aufgrund einer eigenwilligen Rechtsprechungslinie (vgl. BGH, Urteil vom 22. Januar 2014 – 2 StR 479/13) bestätigt dies: Grund für die Bejahung eines besonders schweren Verstoßes war – neben weiteren Momenten, die ohnehin hinzutreten mußten – nicht das Bestehen und Umsetzen einer bestimmten ungewöhnlichen Rechtsmeinung, sondern ihr Aufrechterhalten nach wiederholten Aufhebungen durch das Rechtsmittelgericht.

Ich kann es mir deshalb nicht anders vorstellen, als daß das Tätigwerden der Staatsanwaltschaft nicht auf das Vertreten einer bestimmten Rechtsmeinung durch den Richter gestützt ist, sondern auf außerhalb davon liegende Verfahrensvorgänge – Rechtsbeugung in procedendo. Rechtsbeugung wäre zum Beispiel denkbar, wenn ein Richter durch bestimmte Verfahrensmanipulationen seine eigene Zuständigkeit herbeiführt. Einen solchen Verdachtsfall – der in der Folge nicht weiter aufgeklärt werden konnte – habe ich vor Jahren in dem Beitrag Fall Mollath: Die mysteriös liegengebliebene Akte beschrieben.

Diese Überlegungen sind spekulativ – zugunsten der Staatsanwaltschaft. Und das ist das eigentliche Problem: Nicht daß sie ermittelt, sondern daß sie – offenbar bewußt und schlimmstenfalls gezielt – die ihre Ermittlungsmaßnahmen legitimierenden Anhaltspunkte für einen Verdacht nicht gegenüber der Öffentlichkeit mitteilt. Die – soweit für mich ersichtlich – einzige authentische Äußerung der Staatsanwaltschaft Erfurt, die man überall lesen kann, lautet so:

„Es bestehe der Anfangsverdacht, dass er dafür nicht zuständig und daher nicht befugt war, eine solche Anordnung zu erlassen. Wie die Staatsanwaltschaft am Montag mitteilte, lautet der Vorwurf Rechtsbeugung. Bei der Sache soll das Verwaltungsgericht zuständig gewesen sein.“

Damit stellt die Staatsanwaltschaft in der Öffentlichkeit – zu der auch Familienrichter gehören, die mit Fällen dieser Art befaßt werden können – den Fall so dar, als ob sie einen Rechtsbeugungsverdacht bereits dann bejahe, wenn ein Richter zur Rechtsfrage der Zuständigkeit eine andere Meinung vertritt (so wie es ja inzwischen das OLG Nürnberg und das OLG Jena für möglich gehalten haben). Damit greift sie aber in eklatanter Weise in die richterliche Unabhängigkeit ein. Eine Äußerung dieser Art kann gar keinen anderen Effekt – und eigentlich auch Zweck – haben als die Richterschaft (zumindest in Thüringen) dahin einzuschüchtern, eine solche Meinung nicht zu vertreten. Dies ist so greifbar rechtswidrig, daß es eigentlich auch gesehen werden muß von Beobachtern, die – so wie ich – die Weimarer Entscheidung sowohl in ihrer verfahrensrechtlichen als auch inhaltlichen Seite für falsch halten.

Es ist nicht ungewöhnlich – und im Grundsatz auch nicht allzu kritikwürdig -, daß sich Staatsanwaltschaften zu ihren Ermittlungen bedeckt halten. Etwas anderes ist es aber, wenn sie sich so wie zitiert äußern und dadurch den Fall unvollständig und verzerrt so darstellen, daß die Äußerung der Sache nach eine Warnung an Richter ist, in einer Rechtssache nicht so oder so zu entscheiden. Wenn versehentlich dieser Eindruck entsteht (z.B. weil die Presse die differenzierteren tatsächlichen Äußerungen gekürzt hat), muß von ihr erwartet werden, daß sie aktiv wird und den falschen Eindruck klarstellt – z.B. dadurch, daß sie in einer Pressemitteilung darüber aufklärt, daß die Verdacht in Wahrheit zusätzlich an bestimmte manipulierende Vorgänge anknüpft.

Richter können Straftaten begehen (wie jeder andere auch), ihre Entscheidungen können Rechtsbeugung darstellen und die Staatsanwaltschaft ist dafür da, das zu verfolgen. Bis hierher ist alles – zwar nicht unspektakulär, aber unproblematisch. Die Staatsanwaltschaft überschreitet ihre Rolle aber, wenn sie öffentlich mitteilt (oder zumindest den Eindruck entstehen läßt), gegen welche richterlichen Entscheidungen sie repressiv vorgehen wird. In einer solchen Rolle übt sie einen grundgesetzwidrigen lenkenden Einfluß auf die Rechtsprechung aus.

Was nun die Frage einer möglichen Verfahrensmanipulation betrifft, noch einige Überlegungen. Es schwirren im Internet Informationsfetzen herum, deren Herkunft und Validität schwer einzuschätzen ist, denen zufolge eine Anwältin gezielt den maskenkritischen Richter mit passenden maskenkritischen Eltern zusammengebracht habe, nämlich über die geschäftsverteilungsplanmäßige Zuständigkeit nach Anfangsbuchstaben. Nach noch weitergehenden Gerüchten soll der Richter bei diesem Suchvorgang beteiligt gewesen sein, was die Sache in hier interessierender Hinsicht überhaupt erst relevant machen würde. Was den ersten Teil, der zum Beispiel von einer Sprecherin einer Regierungsfraktion skandalisiert worden ist, betrifft: Auch hier haben wir wieder den Fall, daß die Empörung über das Ergebnis herüberschwappt auf Verfahrensfragen, die für sich genommen entweder unverfänglich oder doch, wie hier, gang und gäbe sind. Das Aussuchen von Richtern ist in vielen Bereichen möglich und wird dementsprechend von Klägern und Antragstellern – in der Regel ihren Anwälten – jeden Tag praktiziert, beispielsweise im Bereich des fliegenden Gerichtsstands (zu dem ich in diesem Blog mehrere kritische Beiträge gebracht habe). Es gibt auch einen modischen – negativ konnotierten – englischen Ausdruck dafür – forum shopping. Auch Verbraucherschützer und Menschenrechtler klagen natürlich bei dem Gericht mit den besten Aussichten. Diese ganze Problematik im hiesigen Fall als besonders verwerflich herauszustellen, erscheint mir unredlich.

Sucht sich hingegen ein Richter selber seine Kläger und Antragsteller aus, wird das im Regelfall hochgradig problematisch sein. Zu beachten ist aber, daß es hier um ein Verfahren geht, das gerade nicht den Regelfall eines gerichtlichen Verfahrens darstellt. Das Kindesschutzverfahren nach § 1666 BGB kann von Amts wegen eingeleitet werden, bedarf also gar keines Antrags. Hat ein zuständiger Richter einen Verdacht auf eine Kindesgefährdung, ist es ihm unbenommen, mit dem Kind und/oder den Eltern Fühlung aufzunehmen, um über die Sach- und Interessenlage näheres zu erfahren. Dies nur als allgemeine Überlegung. Ob und was hier vorgefallen ist, ist ohnehin spekulativ.

Das Imperium schlägt zurück

Nach dem Motto „Wer das gekauft hat, dem wird auch dieses gefallen“ wird in diesem Abschnitt der Teil des Publikums besonders auf seine Kosten kommen, der den Weimarer Fall wegen seines Kuriositätencharakters verfolgt hat. Denn war schon der Weimarer Beschluß irgendwo zwischen falsch und verrückt angesiedelt, so kam es in der Folge – in der „Reaktionszeit“ – zu Entscheidungen anderer Gerichte, die in dieser Kategorie nicht zurückstehen.

In der aufgeheizten Stimmung, die aufgrund des Weimarer Beschlusses mancherorts entstanden ist, sind einige Familienrichter auf die Idee verfallen, von der Abwehr in den Angriff überzugehen. Um in als feindlich wahrgenommenen Kreisen jede Vorstellung von einem „Weimarer Frühling“ im Keim zu ersticken, wurde von ihnen das Kostenrecht aktiviert.

Das AG Essen hat in zwei Entscheidungen vom 07.05.2021 (106 F 83/21 und 106 F 84/21) die Anregung eines Elternpaares auf familiengerichtliche Maßnahmen ablehnend beschieden und ihnen die Kosten des Verfahrens auferlegt. Der Verfahrenswert für das Hauptsacheverfahren wurde auf 4.000 EUR für das eigene Kind (vom Gericht als Antragsteller behandelt) und „für alle weiteren Schulkinder“ auf 30.000 EUR festgesetzt. Im gleichzeitig erlassenen Beschluß der Ablehnung einer einstweiligen Anordnung, der auch fast wortgleich ist, wurden dieselben Beträge noch einmal, aber halbiert, angesetzt.

Was ist davon zu halten? Wer ein gerichtliches Verfahren einleitet, hat jedenfalls bei Erfolglosigkeit in der Regel letztlich die Kosten zu tragen. Das ist nicht weiter bemerkenswert. Im familienrechtlichen Verfahren ist die Frage der Kostentragung in § 81 FamFG geregelt und erfolgt im Wesentlichen nach gerichtlichem Ermessen, wobei der Gesetzgeber Regelbeispiele vorgibt sowie auch die ungewöhnliche Möglichkeit vorgesehen hat, ausnahmsweise auch unbeteiligten Dritten die Kosten aufzuerlegen, § 81 Abs. 4 FamFG. Letztere Regelung hat das Gericht angewandt, was aber nicht dem Stand der Rechtsprechung entspricht, da im Kindesschutzverfahren die Sorgeberechtigten auf jeden Fall Verfahrensbeteiligte sind, egal, wer was beantragt oder angeregt hat, und somit unter § 81 Abs. 2 FamFG fallen. Das vom Gericht gewollte Ergebnis hätte sich ebenso aus diesem Absatz ergeben. Letztlich kommt es darauf nicht an. Interessanter ist, daß bislang in Kindesschutzverfahren die Handhabung in der Regel so war:

Wird von einem Sorgeberechtigten – oder einem Dritten – eine mögliche Kindesgefährdung angezeigt, so ist dies – dem Charakter des Kindesschutzverfahrens als Amtsverfahren folgend – zunächst eine Anregung gemäß § 24 Abs. 1 FamFG. Das Gericht tritt in eine Vorprüfung ein. Stellt es fest, daß keine ausreichenden Anhaltspunkte für eine Kindesgefährdung vorliegen, sieht es davon ab, ein Verfahren einzuleiten und unterrichtet ggf. den Anregenden davon (§ 24 Abs. 2 FamFG). Sieht es hingegen – wie der Anregende – solche Anhaltspunkte, führt es ein Verfahren von Amts wegen durch. Da das Verfahren im Interesse des Kindes geführt wird (dem gemäß § 81 Abs. 3 FamFG keine Kosten auferlegt werden dürfen), kommt es in Betracht, die Verfahrenskosten den Beteiligten oder Nichtbeteiligten aufzuerlegen, die für die Gefährdung verantwortlich sind. Eine Anwendung der Absätze 2 und 4 – die durchaus Sanktionscharakter haben – wird in diesem Fall aber kaum je an die Anregung der Verfahrenseinleitung geknüpft werden können, denn dadurch, daß das Gericht das Verfahren über die Vorprüfung hinaus betrieben hat, hat es dem Anregenden darin recht gegeben, daß es genügenden Anlaß für das Verfahren gibt. Anders liegt es, wenn über tatsächliche Umstände getäuscht wurde, aber darum geht es in den Corona-Antragsfällen ja gerade nicht.

Diesen Prinzipien folgend sind in den gegenwärtigen Fällen die Oberlandesgerichte verfahren, soweit sie Kostenentscheidungen für das Verfahren als Ganzes zu treffen hatten. Das OLG Karlsruhe (Beschluß vom 28. April 2021 – 20 WF 70/21) hat das Verfahren mit Hinweis auf § 24 Abs. 2 FamFG eingestellt und ausgesprochen „Eine Kostenentscheidung ist entbehrlich“. Das OLG Jena hat in dem Beschluß (vom 14.05.2021 – 1 UF 136/21), in dem es die Weimarer Entscheidung aufhob, die Verfahrenskosten nicht mehr behandelt, es also dabei belassen, daß schon das AG Weimar die Nichterhebung der Gerichtskosten ausgesprochen hat. Außerdem hat es – von der Regel des § 84 FamFG abweichend – auch für die Beschwerdeinstanz von der Erhebung von Gerichtskosten abgesehen.

Das Bild wird komplettiert durch eine Entscheidung des OVG Niedersachsen (Beschluß vom 18. Mai 2021 – 13 AR 259/21), das ein Kindesschutzverfahren auf dem Weg der Rechtswegbestimmung an das AG Syke zurückgegeben hat, nachdem dieses an die Verwaltungsgerichte verwiesen hatte. Das OVG argumentiert dabei unter andem mit den Interessen des Antragsstellers und dem Kostengesichtspunkt: Der Antragsteller wollte mit der Anregung beim Amtsgericht gerade keine „fachgerichtliche und gerichtskostenpflichtige Überprüfung der Niedersächsischen Corona-Verordnung“ auslösen. Das Amtsgericht habe vielmehr Vorermittlungen und ggf. das Verfahren einzustellen. Ein Verfahrensrechtsverhältnis entstünde dadurch noch nicht.

Es sind die Obergerichte, die nicht die Nerven verlieren und mit ruhiger Hand durch die Krise steuern (hier nicht Corona-Krise, sondern Coronaanträge-Krise).

Nach diesen Maßstäben ist die Kostenauferlegung durch das AG Essen schon in Bezug auf das eigene Kind im Prinzip falsch. Mangels Verfahrensrechtsverhältnis wäre keine Kostenentscheidung zu treffen. Aber ein einzelnes Gericht ist nicht an eine allgemeine Rechtsprechungslinie gebunden, die Rechtsprechung ist ja konstitutionell uneinheitlich. Deshalb wäre dieser Punkt auch nicht weiter der Rede wert. Aber sehen wir genauer hin: In der Essener Begründung gibt es einen Anhaltspunkt, daß der Richter/die Richterin die Problematik möglicherweise gesehen hat. In den beiden (wie gesagt praktisch identischen) Beschlüssen vom selben Tag heißt es:

„Als Antragsgegner werden auf gerichtlichen Hinweis ausdrücklich der Schulleiter und die Lehrer der Schule benannt und der Antragsteller übermittelt nicht lediglich tatsächliche Informationen, sondern begehrt diesen gegenüber den Erlass einer bestimmten Regelung zu seinen Gunsten.“

Wenn ein Anzeigeerstatter/Anregender tatsächlich einen Schritt weitergeht und eine Verfahrenseröffnung und eine Verfahrensentscheidung verlangt (die ja dann auch u.U. rechtsmittelfähig ist), dann wird es nicht falsch sein, ihm – bei Vorliegen der weiteren Voraussetzungen – die Kosten aufzuerlegen. Er hat dann selbst erzwungen, daß die Phase der Vorermittlungen verlassen wurde. Allerdings: Im vorliegenden Fall spricht der Beschluß selbst dafür, daß das Gericht die Antragsteller in das Verfahren gelockt hat („auf gerichtlichen Hinweis“). Da das Gericht ersichtlich von Anfang der Überzeugung war, daß das Rechtsschutzziel der Eltern vor den Familiengerichten aus Rechtsgründen nicht erzielbar war, kann dann der Zweck solcher Hinweise nur gewesen sein, möglichst viele Kosten zu verursachen, um sie anschließend den Eltern aufzuerlegen. Daß das ein unredliches und unwürdiges gerichtliches Verhalten wäre, versteht sich von selbst.

Wenn man aber von all dem absieht (auch von der künstlichen Aufteilung in ein eA-Verfahren und ein Hauptsacheverfahren, die hier eigentlich auch nur der Kostentreiberei dienen konnte), bleibt immer noch die Verfahrenswertfestsetzung (30.000 EUR + 15.000 EUR) „für alle weiteren Schulkinder“. Jedenfalls für diesen Teil ist unter keinem Gesichtspunkt vertretbar, so zu tun, als wäre die Verfahrensanregung über eine Vorprüfung hinausgekommen. Folgerichtig hat das Gericht in dieser Hinsicht auch nichts veranlaßt (etwa die Eltern dieser Kinder eingebunden). Der Sache nach handelt es sich um einen allgemein gehaltenen Hinweis eines unbeteiligten Dritten an eine zuständige Stelle (und fällt deshalb übrigens auch in den Schutzbereich des Petitionsgrundrechts des Art. 17 GG), nicht anders als beispielsweise eine Meldung bei einer Polizeidienstelle. Und selbst wenn dem Grunde nach ein Gebührentatbestand erfüllt wäre, so wäre die Höhe der Festsetzung grob ermessensfehlerhaft. Da dieser Teil der Anregung – aufgrund der für das Gericht klaren Zuständigkeitslage – keine Mehrkosten verursacht hat, wäre eine Festsetzung in dieser Höhe mit den elementaren gebührenrechtlichen Grundsätzen der Äquivalenz und speziellen Entgeltlichkeit nicht zu vereinbaren (auch wenn diese Grundsätze in der Regel auf der Ebene des Gebührentatbestands eine Rolle spielen, kommen sie auch bei der individuellen Festsetzung zum Tragen, hier durch das Merkmal des „Umfangs der Sache“ in § 42 Abs. 2 FamGKG).

Ein anderes Gericht bestraft nicht die Eltern, sondern geht gleich an die Wurzel des Übels: Hat bereits das AG Essen im Rahmen der Prüfung des groben Verschuldens der Antragstellung die Verwendung eines Mustertexts, der ihm aus vielen Verfahren bekannt sei, hervorgehoben. so hatte ein Familiengericht die Idee, gleich dem – gänzlich verfahrensfremden – Ersteller eines solchen Mustertexts die Kosten aufzuerlegen. In einem ausführlich begründeten Beschluss (vom 3. Mai 2021 – 1 F 128/21 und 1 F 125/21) bestimmte das AG Garmisch-Partenkirchen als Kostenpflichtigen einen „Herrn X.“ Wörtlich:

Der zu den Kosten verpflichtete Herr X ist Familienrichter im Ruhestand seit zehn Jahren. Der Kostenverpflichtete hat ein bis ins Detail ausgearbeitetetes Muster im Internet zum Download angeboten, das nur durch wenige personalisierende Ergänzungen ausgestaltet werden muss. Ohne seinen Beitrag wäre es nicht zu dem hier zu entscheidenden konkreten Verfahren gekommen ([…]).

Er hat auf seiner Website „ABC-Kindesvertretung“ ein Muster für eine Anregung nach §§ 1666 Absatz 1,4 BGB wegen Kindeswohlgefährdung ins Netz gestellt und ruft dazu auf, Meldung an das jeweils zuständige Familiengericht zu machen wegen einer derzeit „bestehenden nachhaltigen Gefährdung des körperlichen, seelischen und geistigen Wohls von Kindern“ und hat diese Anregung als Download auf seine Seite gestellt: […]

Der Download, der kostenfrei ist steht dabei in unmittelbarer räumlicher Nähe zu kommerziellen Seminarangeboten des Dritten. […]

Herr X bewirbt und erläutert das Vorgehen in einem Interview, in dem er sein „Kinderschutzverfahren“ vorstellt, und das im Internet über 80.000 mal bereits abgerufen wurde: https://www.youtube.com/watch?v=SJCwQoqWne0

Zu dieser Idee ließe sich vieles sagen (etwa, daß eine Rechtsauffassung, die das OLG Nürnberg und das OLG Jena für vertretbar genug halten, daß sie den BGH mit ihr beschäftigen, schwerlich ein grob schuldhaftes Prozeßverhalten – hier in der kuriosen Konstruktion einer mittelbaren Täterschaft – sein kann). Aber auch hier ist es am einfachsten, herauszuzoomen: In dieser kreativen Entscheidung des Familiengerichts liegt eine grundlegende Verkennung des Rechts auf freie Meinungsäußerung nach Art. 5 Abs. 1 GG. Um diese Grundlagen mit den Worten des BVerfG zu sagen – und daß es jetzt pathetisch wird, ist nicht fehl am Platz:

„Die Meinungsfreiheit zählt zu den unentbehrlichen und grundlegenden Funktionselementen eines demokratischen Gemeinwesens. Sie gilt als unmittelbarster Ausdruck der menschlichen Persönlichkeit und als eines der vornehmsten Menschenrechte überhaupt, welches für eine freiheitliche demokratische Staatsordnung konstituierend ist; denn sie erst ermöglicht die ständige geistige Auseinandersetzung und den Kampf der Meinungen als Lebenselement dieser Staatsform“ (BVerfG, Beschluß vom 14. Mai 1985 – 1 BvR 233/81).

„Das Grundrecht der Meinungsäußerungsfreiheit gewährleistet jedermann das Recht, seine Meinung frei zu äußern: Jeder soll sagen können, was er denkt, auch wenn er keine nachprüfbaren Gründe für sein Urteil angibt oder angeben kann. Es ist der Sinn von Meinungsäußerungen, geistige Wirkungen auf die Umwelt ausgehen zu lassen, meinungsbildend und überzeugend zu wirken. Deshalb sind Werturteile von Art. 5 Abs. 1 GG durchweg geschützt, ohne daß es darauf ankäme, ob die Äußerung „wertvoll“ oder „wertlos“, „richtig“ oder „falsch“, emotional oder rational begründet ist“ (BVerfG, Beschluß vom 05. März 1992 – 1 BvR 1770/91).

Rechtsauffassungen sind in der Dichotomie der Meinungsfreiheitsrechtsprechung Werturteile – keine Tatsachenbehauptungen – und sind somit von vornherein nur in engeren Grenzen beschränkbar. Wollte man überhaupt soweit gehen, § 81 Abs. 4 FamFG als ein allgemeines Gesetz im Sinne von Art. 5 Abs. 2 GG in Betracht zu ziehen, das die Meinungsfreiheit in Form des öffentlichen Vertretens einer Rechtsauffassung einschränken kann, so würde jedenfalls die erforderliche Güterabwägung (BVerfG, Urteil vom 15. Januar 1958 – 1 BvR 400/51) zwischen der Meinungsfreiheit und dem einzig ersichtlichen Interesse eines Gerichts, von Anträgen aufgrund ihm abwegig erscheinenden Auffassungen verschont zu bleiben, zugunsten der ersteren ausfallen. Eine Konstruktion, wonach das Propagieren einer Rechtsauffassung im öffentlichen Diskurs eine Art mittelbare Störung der Interessen des Staates ist, hier in Gestalt des Schutzes von Justizressourcen, ist ihrerseits eine abwegige Auffassung. Die Meinungsfreiheit ist dann nicht Kollateralschaden eines legitimen Interesses, sondern Hauptangriffsziel eines illegitimen Interesses.

Wer nun meint, mit den beiden genannten Entscheidungen wäre der Vogel bereits abgeschossen, weit gefehlt: Die Sprossenleiter in den Wahnsinn führt weiter über das Amtsgericht Leipzig.

Dort hat ein Familienrichter einer Mutter, die bei ihm einen „Corona-Antrag“ stellte, postwendend am selben Tag der Antragstellung mit einem Hinweisbeschluß (vom 15. April 2021 – 335 F 1187/21) geantwortet, in dem er den Verfahrenswert vorläufig auf 1.400.000,00 Euro festlegte und mitteilte, er werde jetzt ein Verfahren einleiten, aber nicht gegen die Schule – soviel stehe fest – sondern gegen sie, weil die Antragstellung Zweifel hinsichtlich ihrer Erziehungsfähigkeit aufwerfe und sie möglicherweise kindeswohlgefährdende Entscheidungen treffe. In einem weiteren Beschluß vom Folgetag setzte er den Verfahrenswert auf 500.000,00 Euro herab, mit dem Hinweis, daß ihm die Begrenzung in § 42 Abs. 2 FamGKG aufgefallen ist. Die Höhe des Wertes begründete er damit, daß die Zahl der Schüler der beiden vom „Antrag“ umfaßten Schulen 1030 betrage, was bei einer Multiplikation mit dem Regelverfahrenswert (den er allerdings wieder der falschen Norm, § 45 Abs. 1 FamGKG, zu entnehmen scheint; richtig wäre wohl § 42 Abs. 3 FamGKG) 4.120.000,00 Euro ergebe. Deshalb sei es angemessen, auf den Höchstwert hinaufzugehen.

Nach meinen Überlegungen oben zu den 45.000 Euro aus Essen erübrigt sich eigentlich jeder weitere Kommentar dazu. Das ist schon nicht mehr satisfaktionsfähig. Nur soviel: Eine „Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls, insbesondere des Umfangs und der Bedeutung der Sache und der Vermögens- und Einkommensverhältnisse der Beteiligten“ (§ 42 Abs. 2 FamGKG) hat der Richter nicht einmal im Ansatz vorgenommen, sondern eine reine Rechenoperation mit Deckelung beim gesetzlichen Höchstwert. Einen groteskeren Widerspruch gegen den Grundsatz „iudex non calculat“ (der – neben seiner humoristischen Verwendung – bedeutet: Der Richter addiert und multipliziert die Belange nicht, sondern er gewichtet sie) bekommt man kaum je geboten.

Und ob der zweite Teil des Hinweisbeschlusses so gefaßt wurde, daß er im Empfängerhorizont wie die Androhung einer Kindeswegnahme nach dem Muster, wie in der DDR und anderen Staaten mit Feinden der Gesellschaft umgegangen wurde, wirken kann, soll auch nicht das Thema sein.

Ist das Rechtsbeugung oder kann das weg? Nach meiner Überzeugung handelt es sich bei der Entscheidung, so falsch sie ist, nicht um Rechtsbeugung, sondern um einen Rechtsprechungsexzess, wie er immer wieder einmal vorkommt – ein Ausreißer (und in diesem Sinne ein „ausbrechender Rechtsakt“), der normalerweise im Rechtsmittelweg (notfalls durch ein Verfassungsgericht) wieder eingefangen wird. Dafür existieren die gängigen, in der Rechtsprechung etablierten Kriterien für eine Annahme „richterlicher Willkür“ (die ohne Bestrafungsphantasien auskommen). Zur Klarstellung: das ordentliche Rechtsmittelgericht braucht dieses Kriterium nicht für eine Aufhebung, ein Verfassungsgericht hingegen schon.

Aber auf meiner nach oben und unten offenen persönlichen Bewertungsskala finde ich den Leipziger Beschluß verwerflicher als den Weimarer: Während bei letzterem ein gutmeinendes Anliegen des Richters (wenn auch aufgrund verfehlter rechtlicher und möglicherweise auch tatsächlicher Beurteilungen) im Vordergrund steht, verfolgt der Leipziger Richter ein reines Repressionsziel gegenüber einer Rechtssuchenden, die sich seinem Schutz anvertraut hat und deren eigene Bösgläubigkeit allenfalls fundiert hätte belegt werden müssen.

Es ist vor allem menschlich enttäuschend, wenn sich ein Richter in einen solchen Vernichtungsfuror hineinsteigert. Der Beschluß zeigt, dass in Zeiten einer gesellschaftlichen Polarisierung die Radikalisierung und Fanatisierung auf allen Seiten weit fortgeschritten ist – auch auf einer, wo man es am wenigsten erwartet.

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