De legibus-Blog

20. Mai 2012

Wie der BGH gegen den BGH ermittelt

Oliver García

Der Besetzungsstreit am BGH setzt sich fort. Die vom Präsidium des Gerichts beschlossene Zuweisung des Vorsitzenden Richters Ernemann an den 2. Strafsenat löste im Januar eine aufsehenerregende Entscheidung dieses Senats aus, wonach er nicht korrekt besetzt sei. Daraufhin tagte das Präsidium erneut, hörte einen Teil der an dieser Entscheidung beteiligten Richter an, in einer Form, die von Teilnehmern als „inquisitorisch“ bezeichnet wurde. Kurz darauf erließ der Senat in derselben Besetzung (Spruchgruppe 2) ein nicht weniger aufsehenerregendes Urteil, in dem er einerseits daran festhielt, nicht korrekt besetzt zu sein, aber andererseits erklärte, gleichwohl entscheiden zu müssen (BGH, Urteil vom 8. Februar 2012 – 2 StR 346/11).

Dieser Fall von richterlicher Schizophrenie hat in weiter anhängigen Verfahren bei Spruchgruppe 2 des 2. Strafsenats dazu geführt, daß Befangenheitsanträge gestellt wurden. Drei dieser Anträge sind durch Beschlüsse vom 9. Mai 2012 nun beschieden worden (2 StR 620/11, 2 StR 622/11 und 2 StR 25/12). Diese Beschlüsse stammen formell vom „2. Strafsenat“. Da aber dessen Mitglieder überwiegend abgelehnt wurden oder Selbstanzeige nach § 30 StPO gemacht haben, entschieden – mit einer Ausnahme – nur Mitglieder des Stellvertretersenats, nämlich des 4. Strafsenats (ironischerweise der Senat, der sich mit dem 2. den Vorsitzenden teilt, was das Problem überhaupt auslöste).

Die Ablehnungsgesuche wurden als unbegründet zurückgewiesen. Um es vorwegzunehmen: Die Begründung, mit der dies geschah, gereicht dem BGH nicht zur Ehre.

In einem früheren Beitrag habe ich bereits begründet, warum ich die Entscheidung des Präsidiums, Ernemann dem 2. Strafsenat zuzuweisen, für rechtlich in Ordnung halte. Die Einwände, die die Spruchgruppe 2 des 2. Strafsenats dagegen mehrheitlich erhebt, teile ich nicht. Aber die Mitglieder des 2. Strafsenats haben sie nun einmal erhoben und dadurch ihre richterliche Unabhängigkeit ausgeübt. Wenn das BGH-Präsidium in jener, als „inquisitorisch“ bezeichneten Anhörung in einer Weise mit ihnen umgesprungen sein sollte, die unvereinbar mit der richterlichen Unabhängigkeit war, wenn er sie unter unzulässigen Druck gesetzt haben sollte und dies ursächlich war dafür, wie sie letztlich entschieden, dann wären die Voraussetzungen des § 24 Abs. 2 StPO zu bejahen gewesen.

Die fragliche Anhörung durch das Präsidium kann andererseits aber auch rechtlich unbedenklich gewesen sein. Die Sitzung des Präsidiums war einberufen worden, um über die Konsequenzen des Beschlusses der Spruchgruppe 2 des 2. Strafsenats zu beraten. In diesem war das Präsidium aufgefordert worden, den Geschäftsverteilungsplan erneut zu ändern. Für diesen Fall sieht § 21e Abs. 2 GVG die Anhörung von Richtern ausdrücklich vor. Daß in einem solchen Rahmen gegensätzliche Standpunkte diskutiert werden, liegt im Wesen von Beratungen.

Die Ablehnungsgesuche wurden aber darauf gestützt, daß die Vorgänge in dieser Präsidiumssitzung die Grenzen des rechtlich unbedenklichen überschritten hätten. Eine korrekte Behandlung der Ablehnungsgesuche setzte deshalb zweierlei voraus: Eine Ermittlung des umstrittenen Sachverhalts, hier der Vorgänge in der Präsidiumssitzung. Und die Prüfung, ob dieser Sachverhalt eine Überschreitung der Grenzen des rechtlich Zulässigen darstellte.

In seinen Beschlüssen vom 9. Mai 2012 hat sich das als 2. Strafsenat tagende Richterkollegium dieser Aufgabe entzogen und hat dadurch den Angeklagten Rechtsschutz im Zwischenstreit über die Richterablehnung verweigert. Die zentrale Passage in den Beschlüssen lautet:

Unerheblich ist der von zwei der abgelehnten Richter in ihren dienstlichen Erklärungen aus ihrer subjektiven Wahrnehmung geschilderte Ablauf ihrer Anhörung am 18. Januar 2012 vor dem Präsidium. Ebenso kann dahinstehen, ob ansonsten durch das Präsidium – wie ein anderer abgelehnter Richter, der am 18. Januar 2012 nicht angehört wurde, dienstlich erklärt hat – nach seinem subjektiven Eindruck und Empfinden ein hoher Druck aufgebaut wurde, die Rechtsprechung der Spruchgruppe 2 des Senates zu ihrer Besetzung aufzugeben. Weiterer Aufklärung, etwa durch Anhörung der Mitglieder des Präsidiums, bedarf es daher nicht. Selbst wenn die Behauptung, das Präsidium – das, mit Ausnahme des Präsidenten, aus von allen Richtern am Bundesgerichtshof gewählten Richtern am Bundesgerichtshof besteht – habe wie auch immer gearteten Druck auf die abgelehnten Richter ausgeübt, zutreffen sollte, bezog sich dieser Druck auch nach den dienstlichen Erklärungen der abgelehnten Richter nicht etwa inhaltlich auf die Entscheidung über das Rechtsmittel des Angeklagten, sondern ausschließlich darauf, dass den bei der Spruchgruppe 2 des 2. Strafsenates anhängigen Verfahren – also auch dem die Beschwerdeführer betreffenden – Fortgang gegeben wird.

Hieran fällt auf, daß der Senat zunächst insoweit ermittelt hat, als er von den Richtern der Spruchgruppe 2 dienstliche Erklärungen anforderte. Als diese vorlagen, sollte es aber auf ihren Inhalt nicht mehr ankommen. Der Senat behilft sich stattdessen mit einer Wahrunterstellung: Selbst wenn das Präsidium „wie auch immer gearteten Druck“ – also auch unzulässigen – ausgeübt hätte, so würde dieser Druck nicht auf das Recht der Angeklagten auf unabhängige und unparteiische Richter eingreifen. Allerdings stand die vom Senat nun angedeutete Variante, daß das Präsidium auf einen bestimmten Verfahrensausgang hätte hinwirken wollen (daß die Spruchgruppe 2 die Revision für begründet oder unbegründet erklärt), bislang überhaupt nicht im Raum. Eine solch eklatant verfassungswidrige Einmischung war mit den Ablehnungsgesuchen nicht behauptet worden. Warum hatte der Senat also die dienstlichen Erklärungen der Richter angefordert, wenn es nach seiner Meinung auf sie nicht ankommen konnte? Es liegt nahe, daß aufgrund des Inhalts dieser Erklärungen (sie wurden im Wortlaut nicht mitgeteilt) auch vom Senat ein unzulässiger Druck nicht mehr verneint werden konnte, jedenfalls weitere Ermittlungen, insbesondere die Anhörung der Mitglieder des Präsidiums, geboten gewesen wären, und es erst deshalb der Senat richtig fand, seine rechtliche Einordnung so nachzujustieren, daß es auf die Erklärungen nicht mehr ankäme.

Und wie ist es um diese rechtliche Einordnung bestellt? Der Senat versucht eine erstaunliche Unterscheidung einzuführen: Richter, die von Dritten mit dem Ziel eingeschüchtert werden, entgegen ihre Überzeugung eine Revision zurückzuweisen oder ihr stattzugeben, sind nicht mehr unabhängig. Richter hingegen, die von Dritten mit dem Ziel eingeschüchtert werden, entgegen ihre Überzeugung ihre Zuständigkeit zu bejahen oder zu verneinen, sind unabhängig. Es liegt auf der Hand, daß auf diese feinsinnige Unterscheidung niemand kommen würde, wenn jene Dritten einer italienischen oder russischen Mafia angehören würden. Wenn aber, wie hier von den Antragsstellern behauptet, diese Dritten dem Präsidium des BGH angehören, scheint eine gewisse Ehrfurcht dem Senat Hemmungen aufzuerlegen, dem schweren Vorwurf nachzugehen oder ihn zu bestimmen, nachdem er ihm nachgegangen ist und schon zu tief geblickt hat, diesen Weg abzubrechen. Stattdessen flüchtete er sich in Füllmaterial wie den völlig subsumtionsirrelevanten Hinweis, daß das Präsidium ja aus gewählten Richtern bestehe (oder ist der Grad des zulässigen Druckes davon abhängig, ob die Richter gewählt oder durch ein Rotationsprinzip bestimmt werden?).

Nachtrag

Die im Beitrag gestellte Frage „Warum hatte der Senat also die dienstlichen Erklärungen der Richter angefordert, wenn es nach seiner Meinung auf sie nicht ankommen konnte?“ läßt sich auch einfacher beantworten, worauf ich später hingewiesen worden bin: Nach § 26 Abs. 3 StPO ist von einem abgelehnten Richter immer eine dienstliche Äußerung einzuholen.

Zitiervorschlag für diesen Beitrag:
https://blog.delegibus.com/2208

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