Heute vor 140 Jahren, am 15. Mai 1871, wurde das Strafgesetzbuch für das Deutsche Reich vom 15. Mai 1871 (RGBl. 1871 S. 128—203) verkündet. Seitdem wurde es durch 259 Gesetze mit 1899 Änderungsbefehlen geändert, wodurch 62757 alte Wörter entfernt und 74234 neue Wörter hinzugefügt wurden (siehe die Diagramme unten). Der ursprüngliche Text wurde dadurch im Lauf der Zeit bis zur Unkenntlichkeit umgestaltet. Der stärkste Eingriff erfolgte jeweils mit Wirkung zum 1. Januar 1975 durch das Zweite Gesetz zur Reform des Strafrechts (2. StrRG) vom 4. Juli 1969 (BGBl. I 1969 S. 717—742) und das Einführungsgesetz zum Strafgesetzbuch (EGStGB) vom 2. März 1974 (BGBl. I 1974 S. 469—650). Wohl vor allem aufgrund der Benennung des letztgenannten Änderungsgesetzes, vielleicht aber auch aufgrund seiner Änderungstiefe ist selbst unter Juristen die Vorstellung verbreitet, 1975 sei ein neues Strafgesetzbuch in Kraft getreten, welches das Reichsstrafgesetzbuch abgelöst habe. In der Wikipedia finden sich dementsprechend auch zwei – inzwischen weitgehend redundante – Einträge für ein und dasselbe Gesetz (RStGB und StGB). Genauso falsch ist der fast ausnahmslos gebrauchte Titel „Strafgesetzbuch“. Der Bundesminister der Justiz wurde durch Art. 10 des Dritten Strafrechtsänderungsgesetzes vom 4. August 1953 (BGBl. I 1953 S. 735—750) lediglich ermächtigt, den Gesetzeswortlaut unter der Überschrift „Strafgesetzbuch“ in der geltenden Fassung bekanntzumachen. Das von den insgesamt sechs ministeriellen Bekanntmachungen (1876, 1953, 1969, 1975, 1987 und 1998, siehe die Markierungen in den Diagrammen) zu unterscheidende Parlamentsgesetz selbst wurde dadurch nicht umbenannt.
Heute vor einem Jahr, am 15. Mai 2010, habe ich mein inzwischen in 4. Auflage vorliegendes und in der internationalen Strafrechtswissenschaft offenbar erfreut angenommenes „Strafgesetzbuch für das Deutsche Reich vom 15. Mai 1871. Historisch-synoptische Edition. 1871—2011“ zusammen mit einem 50-seitigen Editionsbericht veröffentlicht. Den heutigen Jahrestag möchte ich nutzen, um noch einige Beobachtungen zu den eingesetzten historischen Änderungsstilen anzubringen. Aufgrund seiner – in formeller Hinsicht – außerordentlichen Langlebigkeit (älter ist nur die Gewerbeordnung für den Norddeutschen Bund vom 21. Juni 1869 [BGBl. 1869 S. 245—282]) bietet sich das Strafgesetzbuch nämlich geradezu an, den Lernprozess des Gesetzgebers bei Gesetzesänderungen nachzuvollziehen. Das im Strafgesetzbuch zum Ausdruck kommende Langzeitexperiment ist allerdings schiefgegangen, ohne dass der Gesetzgeber korrigierende Konsequenzen daraus gezogen hätte. Meine sorgfältig begründete These, das Strafgesetzbuch sei – in materieller Hinsicht – inzwischen in weiten Teilen nichtig, hat sich überraschenderweise auch noch nicht in der Strafrechtspraxis niedergeschlagen, weshalb ich die Gelegenheit nutzen will, weiter darauf aufmerksam zu machen.
Im Folgenden gliedere ich – ohne dass dies a priori mit einer Aussage verbunden wäre – grob nach Verfassungsperioden und gehe dabei nur auf das jeweils erste gehäufte Auftreten eines Änderungsstils ein.
Deutsches Kaiserreich
Die Geschichte des Strafgesetzbuchs für das Deutsche Reich vom 15. Mai 1871 beginnt im Grunde mit einem Änderungsgesetz, nämlich dem Gesetz, betreffend die Redaktion des Strafgesetzbuchs für den Norddeutschen Bund als Strafgesetzbuch für das Deutsche Reich vom 15. Mai 1871 (RGBl. 1871 S. 127). Dieses enthält nur einen einzigen Paragrafen, der wie folgt lautet:
„Einziger Paragraph. Das Strafgesetzbuch für den Norddeutschen Bund vom 31. Mai 1870 erhält unter der Bezeichnung als ’Strafgesetzbuch für das Deutsche Reich‘ vom 1. Januar 1872 an die beiliegende Fassung.“
Der Gesetzgeber versuchte auf diese Weise, einerseits Kontinuität zwischen dem Vorgänger- und dem Nachfolgergesetz herzustellen und andererseits selbst ein neues Gesetz zu verkünden. Auf Änderungen zwischen dem alten und dem neuen Text wurde damit zugunsten seiner Lesbarkeit nicht eigens aufmerksam gemacht.
Das Motiv der Lesbarkeit bereits aus dem Verkündungsorgan heraus steht auch noch bei dem Gesetz, betreffend die Abänderung von Bestimmungen des Strafgesetzbuchs für das Deutsche Reich vom 15. Mai 1871 und die Ergänzung desselben vom 26. Februar 1876 (RGBl. 1876 S. 25—38) im Vordergrund. Art. I des Gesetzes vom 26. Februar 1876 nennt einleitend zunächst die zu ändernden Paragrafen beziehungsweise deren Untergliederungen und führt dann die jeweils neuen Fassungen im Block vollständig auf. Die damit verbundenen Änderungen waren überwiegend wenig tiefgreifend und deshalb trotz dieser Selektion nur schwer erkennbar. Durch die Artt. IV, V des Gesetzes vom 26. Februar 1876 wurde zugleich die Thalerwährung auf die Reichswährung umgestellt, allerdings ohne Feststellung des sich daraus ergebenden Wortlauts (der Umrechnungskurs war ein Thaler zu drei Mark). Hierzu wurde vielmehr der Reichskanzler ermächtigt. Dieser stellte die Erkennbarkeit des Gesetzestextes sofort durch seine Bekanntmachung, betreffend die Redaktion des Strafgesetzbuchs für das Deutsche Reich vom 26. Februar 1876 (RGBl. 1876 S. 39—120) sicher. Es handelt sich hier um einen Grenzfall zwischen formeller und materieller Derogation mit einer Tendenz noch zur ersteren. Bei der formellen Derogation wird der Gesetzeswortlaut durch eine unselbständige Vorschrift ausdrücklich geändert. Und bei der materiellen Derogation wird der Gesetzesinhalt durch eine selbständige Regelung lediglich überlagert. Auf diese Unterscheidung wird noch zurückzukommen sein.
Durch Art. 2 Abs. 2 des Gesetzes, betreffend die Änderung des Gesetzes über den Unterstützungswohnsitz und die Ergänzung des Strafgesetzbuchs vom 12. März 1894 (RGBl. 1894 S. 259—261) wurde erstmals gezielt eine Wortgruppe in den bestehenden Text eingefügt. Diese Implementierung erfolgte aufgrund ihrer Kürze noch dazu ohne Darstellung eines Sinnzusammenhangs. Dieser Änderungsstil wurde mit den Artt. I, V, VII, VIII und IX des Einführungsgesetzes zum Bürgerlichen Gesetzbuche vom 18. August 1896 (RGBl. 1896 S. 604—650) fortgesetzt. Die Einfügungen werden dabei allerdings, wenn auch in eng begrenztem Umfang, im Sinnzusammenhang dargestellt. Bei dem Gesetz vom 18. August 1896 dürfte es sich im Übrigen um eines der ersten (Teil-) Mantelgesetze handeln. Die mit diesen beiden Gesetzen praktizierte Vorgehensweise ist bis heute für Änderungen maßgeblich. Sie zeichnet sich durch relativ geringen Textbedarf, hohe Erkennbarkeit des Änderungsobjekts und mäßige Erkennbarkeit des Sinnzusammenhangs aus. Die Einstufung des Sinnzusammenhangs als „mäßig“ betrifft dabei nur das jeweilige Änderungssubjekt. Sobald sich mehrere Änderungen in diesem Stil hintereinander häufen, ist der Sinnzusammenhang aus dem Verkündungsorgan heraus durch bloßes Lesen nicht mehr zu erschließen. Abhilfe lässt sich nur noch durch Konsolidieren des Gesetzestextes, also das textliche Ausführen der Änderungsbefehle, schaffen. Ministerielle Bekanntmachungen eines Gesetzes erfüllen in diesem Zusammenhang eine wichtige verfassungsrechtliche Funktion. Sie dienen der Erkennbarkeit des durch den Text definierten Rechts und damit dem Bestimmtheitsgrundsatz und dem Gebot der Normenklarheit im Sinn der Artt. 20 Abs. 3, 103 Abs. 2 GG. Ohne regelmäßige ministerielle Bekanntmachungen des Gesetzestextes verfallen Änderungskaskaden mangels Erkennbarkeit des Rechts schnell der Nichtigkeit. Dazu eignen sich ministerielle Bekanntmachungen aber nur dann, wenn sie den vom parlamentarischen Gesetzgeber gewollten Gesetzeswortlaut sklavisch korrekt wiedergeben, weil sie andernfalls das Erkennbarkeitsproblem noch vertiefen.
Weimarer Republik und Drittes Reich
Mit den §§ 1 Abs. 1 S. 1, Abs. 2 und 3, 2 des Gesetzes zur Erweiterung des Anwendungsgebiets der Geldstrafe und zur Einschränkung der kurzen Freiheitsstrafe vom 21. Dezember 1921 (RGBl. 1921 S. 1604—1605) wendete der Gesetzgeber erstmals die meines Erachtens jedenfalls durch Zeitverlauf zur Nichtigkeit führende Änderungstechnik der eindeutig bloß materiellen Derogation von Strafandrohungen ungenannter Strafvorschriften an. Beispielsweise heißt es in § 1 Abs. 1 des Gesetzes vom 21. Dezember 1921:
„Der Höchstbetrag der Geldstrafe, die in reichs- oder landesrechtlichen Strafvorschriften bei Verbrechen, Vergehen oder Übertretungen angedroht sind, wird auf das Zehnfache, bei Verbrechen oder Vergehen aber auf mindestens einhunderttausend Mark erhöht.“
Hier muss der Normadressat dauerthaft zwei Regelungskomplexe heranziehen und anwenden, um zu erkennen, mit welcher Sanktion ein ihm verbotenes Verhalten belegt ist. Diese Änderungstechnik ist deshalb so gefährlich, weil sich die Kluft zwischen Änderungsobjekt und -subjekt durch Zeitverlauf immer weiter öffnet, bis ein Sinnzusammenhang zu dem Änderungsgesetz nicht mehr hergestellt werden kann. Die unserer Rechtsordnung damals wie heute inhärente Fiktion, das vom Gesetzgeber gesetzte Recht sei aus dem Verkündungsorgan erkennbar, ist an dieser Stelle gesprengt.
Eine mit der Unterscheidung zwischen formeller und materieller Derogation in Zusammenhang stehende Unklarheit trat erstmals im Siebenten Teil § 1 der Dritten Verordnung des Reichspräsidenten zur Sicherung von Wirtschaft und Finanzen und zur Bekämpfung politischer Ausschreitungen vom 6. Oktober 1931 (RGBl. I 1931 S. 537—568) auf. Danach sollen die Vorschriften des Strafgesetzbuchs über den Hochverrat in einer bestimmten Form „anzuwenden“ sein. Dieser Begriff und der Umstand, dass die Änderung auf einer Verordnung des Reichspräsidenten nach Art. 48 Abs. 2 der Verfassung des Deutschen Reichs vom 11. August 1919 (RGBl. 1919 S. 1383—1418) beruht und damit eigentlich nur vorübergehenden Charakter hätte, sprechen dafür, von einer materiellen Derogation auszugehen. Ich habe mich beim Konsolidieren dennoch für eine formelle Derogation entschieden, weil dies – auch bei weiteren „Anwendungs“-Änderungen in der Folgezeit – anscheinend dem herrschenden Verständnis entsprach.
Auf die Spitze getrieben wurde der unsaubere Änderungsstil der materiellen Derogation bei Aufhebungen. In § 27 der Reichsapothekerordnung vom 18. April 1937 (RGBl. I 1937 S. 457—460) heißt es, dass § 300 des Strafgesetzbuchs insoweit außer Kraft trete, als er sich auf den Apothekerberuf im Sinn des Gesetzes vom 20. April 1937 beziehe. Konsoldierungstechnisch lässt sich dies sogar durch einen – unzulässigen (!) – freien Eingriff in den Gesetzestext nicht mehr lösen. Hier hilft nur noch eine Anmerkung durch Fußnote. Eine weitere Rarität weist § 1 der Verordnung zur Ergänzung der Strafvorschriften zum Schutz der Wehrkraft des Deutschen Volkes vom 25. November 1939 (RGBl. I 1939 S. 2319) auf. Dessen Absätze 1—4 regeln die Wehrmittelbeschädigung abweichend von § 143a StGB. In Absatz 5 der Bestimmung ist dabei ausdrücklich klargestellt, dass sie an die Stelle des § 143a StGB tritt. Es handelt sich also um einen Fall der ausdrücklich als solche gekennzeichneten materiellen Derogation. Diese wurde sodann durch § 5 des Gesetzes zur Änderung des Reichsstrafgesetzbuchs vom 4. September 1941 (RGBl. I 1941 S. 549—550) formell in das Strafgesetzbuch übernommen. Erfinder der bis heute vielfach praktizierten Gesetzgebungstechnik, den Gesetzeszweck einleitend klar und damit dauerhaft verbindlich zu benennen, war der nationalsozialistische Gesetzgeber (vergleiche Bernd Rüthers, Die unbegrenzte Auslegung, 6. Auflage 2005, S. 185—188). Diese Technik wurde in § 4 des Gesetzes vom 4. September 1941 erstmals auch bei der formellen Derogation einer Vorschrift des Strafgesetzbuchs angewendet. Im Änderungsbefehl wird nämlich dessen Zweck, hier die schärfere Bekämpfung des Mißbrauchs von Ausweispapieren, genannt.
Bundesrepublik Deutschland
Unter dem Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland vom 23. Mai 1949 (BGBl. 1949 S. 1—20) wurde nun aus diesen Kuriositäten bitterer Ernst, denn nun war und ist das strafrechtliche Bestimmtheitsgebot des § 103 Abs. 2 GG mit der dazu ergangenen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts in Rechnung zu stellen. Gleichwohl brachte auch der bundesdeutsche Gesetzgeber die Technik der Überleitung von Strafandrohungen ungenannter Vorschriften im Weg der bloßen materiellen Derogation zur Anwendung, und das im großen Stil:
- Art. 7 Abs. 1 S. 1 des Zweiten Gesetzes zur Sicherung des Straßenverkehrs vom 26. November 1964 (BGBl. I 1964 S. 921—927)
- Artt. 3—8 des Ersten Gesetzes zur Reform des Strafrechts (1. StrRG) vom 25. Juni 1969 (BGBl. I 1969 S. 645—682)
- Artt. 10—17 des Einführungsgesetzes zum Strafgesetzbuch (EGStGB) vom 2. März 1974 (BGBl. I 1974 S. 469—650)
Diese Vorgehensweise ist Ausdruck des damals bestehenden Problems, nicht datenbankgestützt auf das Material zugreifen zu können, um alle zu ändernden Vorschriften zusammenzutragen. Das Bundesjustizministerium erkannte dieses Problem durchaus. Dasselbe wurde deshalb nämlich durch Kabinettsbeschluss vom 12. September 1973 beauftragt, eine Rechtsdatenbank zu entwickeln, die wir heute unter der Bezeichnung „juris“ kennen (siehe dazu Thomas Fuchs, Die Weiterverwendung der gemeinfreien Rechtsdatenbank „juris“). Bei den nachfolgenden, heute noch geltenden Vorschriften des Strafgesetzbuchs wurde so jedenfalls – mit ungeahnten Auswirkungen – die Strafandrohung in 57 Fällen einfach und in 60 Fällen sogar zweifach bloß materiell überlagert:
- Friedensverrat:
- Vorbereitung eines Angriffskrieges (§ 80 StGB) und Aufstacheln zum Angriffskrieg (§ 80a StGB).
- Hochverrat:
- Hochverrat gegen den Bund (§ 81 Abs. 1, Abs. 2 StGB), Hochverrat gegen ein Land (§ 82 Abs. 1, Abs. 2 StGB) und Vorbereitung eines hochverräterischen Unternehmens (§ 83 Abs. 1, Abs. 2 StGB).
- Gefährdung des demokratischen Rechtsstaates:
- Fortführung einer für verfassungswidrig erklärten Partei (§ 84 Abs. 1 S. 1, Abs. 2, Abs. 3 S. 1 StGB), Verstoß gegen ein Vereinigungsverbot (§ 85 Abs. 1 S. 1, Abs. 2 StGB), Verbreiten von Propagandamitteln verfassungswidriger Organisationen (§ 86 Abs. 1 StGB), Agententätigkeit zu Sabotagezwecken (§ 87 Abs. 1 StGB), verfassungsfeindliche Sabotage (§ 88 Abs. 1 StGB), verfassungsfeindliche Einwirkung auf Bundeswehr und öffentliche Sicherheitsorgane (§ 89 Abs. 1 StGB), Verunglimpfung des Bundespräsidenten (§ 90 Abs. 1 StGB), Verunglimpfung des Staates und seiner Symbole (§ 90a Abs. 1, Abs. 3 StGB) und verfassungsfeindliche Verunglimpfung von Verfassungsorganen (§ 90b Abs. 1 StGB).
- Landesverrat und Gefährdung der äußeren Sicherheit:
- Landesverrat (§ 94 Abs. 1, Abs. 2 S. 1 StGB), Offenbaren von Staatsgeheimnissen (§ 95 Abs. 3 S. 1 StGB), landesverräterische Ausspähung; Auskundschaften von Staatsgeheimnissen (§ 96 Abs. 1 StGB), Preisgabe von Staatsgeheimnissen (§ 97 Abs. 1, Abs. 2 StGB), landesverräterische Agententätigkeit (§ 98 Abs. 1 S. 1, S. 2 StGB), geheimdienstliche Agententätigkeit (§ 99 Abs. 1, Abs. 2 S. 1 StGB), friedensgefährdende Beziehungen (§ 100 Abs. 1, Abs. 2 S. 1, Abs. 3 StGB) und landesverräterische Fälschung (§ 100a Abs. 1, Abs. 4 S. 1 StGB).
- Straftaten gegen ausländische Staaten:
- Angriff gegen Organe und Vertreter ausländischer Staaten (§ 102 Abs. 1 StGB), Beleidigung von Organen und Vertretern ausländischer Staaten (§ 103 Abs. 1 StGB) und Verletzung von Flaggen und Hoheitszeichen ausländischer Staaten (§ 104 Abs. 1 StGB).
- Straftaten gegen Verfassungsorgane sowie bei Wahlen und Abstimmungen:
- Nötigung von Verfassungsorganen (§ 105 Abs. 1, Abs. 2 StGB), Nötigung des Bundespräsidenten und von Mitgliedern eines Verfassungsorgans (§ 106 Abs. 1, Abs. 3 StGB), Wahlbehinderung (§ 107 Abs. 1 StGB), Wahlfälschung (§ 107a Abs. 1 StGB), Fälschung von Wahlunterlagen (§ 107b Abs. 1 StGB), Verletzung des Wahlgeheimnisses (§ 107c StGB), Wählernötigung (§ 108 Abs. 1 S. 1 StGB), Wählertäuschung (§ 108a Abs. 1 StGB) und Wählerbestechung (§ 108b Abs. 1 StGB).
- Straftaten gegen die Landesverteidigung:
- Wehrpflichtentziehung durch Verstümmelung (§ 109 Abs. 1, Abs. 2 StGB), Wehrpflichtentziehung durch Täuschung (§ 109a Abs. 1 StGB), Störpropaganda gegen die Bundeswehr (§ 109d Abs. 1 StGB), Sabotagehandlungen an Verteidigungsmitteln (§ 109e Abs. 1, Abs. 4, Abs. 5 StGB), sicherheitsgefährdender Nachrichtendienst (§ 109f Abs. 1 S. 1 StGB) und sicherheitsgefährdendes Abbilden (§ 109g Abs. 1, Abs. 2, Abs. 4 StGB).
- Straftaten gegen die öffentliche Ordnung:
- schwerer Hausfriedensbruch (§ 124 StGB), Landfriedensbruch (§ 125 Abs. 1 StGB), Bildung krimineller Vereinigungen (§ 129 Abs. 1 StGB), Amtsanmaßung (§ 132 StGB) und Nichtanzeige geplanter Straftaten (§ 138 Abs. 1, Abs. 3 StGB).
- Falsche uneidliche Aussage und Meineid:
- falsche uneidliche Aussage (§ 153 StGB), Meineid (§ 154 Abs. 1, Abs. 2 StGB), falsche Versicherung an Eides Statt (§ 156 Abs. 1 StGB) und Verleitung zur Falschaussage (§ 160 Abs. 1 StGB).
- Beleidigung:
- üble Nachrede und Verleumdung gegen Personen des politischen Lebens (§ 188 Abs. 1, Abs. 2 StGB) und Verunglimpfung des Andenkens Verstorbener (§ 189 Abs. 1 StGB).
- Straftaten gegen das Leben:
- Mord (§ 211 Abs. 1 StGB), Totschlag (§ 212 Abs. 1, Abs. 2 StGB) und fahrlässige Tötung (§ 222 StGB).
- Straftaten gegen die persönliche Freiheit:
- Verschleppung (§ 234a Abs. 1, Abs. 2, Abs. 3 StGB) und politische Verdächtigung (§ 241a Abs. 1, Abs. 4 StGB).
- Diebstahl und Unterschlagung:
- Entziehung elektrischer Energie (§ 248c Abs. 1 S. 1 StGB).
- Betrug und Untreue:
- Untreue (§ 266 Abs. 1 S. 1 StGB).
- Urkundenfälschung:
- Urkundenfälschung (§ 267 Abs. 1 StGB), Fälschung technischer Aufzeichnungen (§ 268 Abs. 1 StGB), mittelbare Falschbeurkundung (§ 271 Abs. 1 StGB), Urkundenunterdrückung; Veränderung einer Grenzbezeichnung (§ 274 Abs. 1 StGB), Fälschung von Gesundheitszeugnissen (§ 277 StGB), Ausstellen unrichtiger Gesundheitszeugnisse (§ 278 StGB) und Gebrauch unrichtiger Gesundheitszeugnisse (§ 279 StGB).
- Strafbarer Eigennutz:
- unerlaubte Veranstaltung eines Glücksspiels (§ 284 Abs. 1 StGB), Vereiteln der Zwangsvollstreckung (§ 288 Abs. 1 StGB), Pfandkehr (§ 289 Abs. 1 StGB) und unbefugter Gebrauch von Pfandsachen (§ 290 StGB).
- Sachbeschädigung:
- gemeinschädliche Sachbeschädigung (§ 304 Abs. 1 StGB) und Zerstörung von Bauwerken (§ 305 Abs. 1 StGB).
- Gemeingefährliche Straftaten:
- gefährliche Eingriffe in den Bahn-, Schiffs- und Luftverkehr (§ 315 Abs. 5, Abs. 6 StGB), Gefährdung des Bahn-, Schiffs- und Luftverkehrs (§ 315a Abs. 1, Abs. 3 StGB), gefährliche Eingriffe in den Straßenverkehr (§ 315b Abs. 1, Abs. 3, Abs. 4, Abs. 5 StGB), Gefährdung des Straßenverkehrs (§ 315c Abs. 1, Abs. 3 StGB), Trunkenheit im Verkehr (§ 316 StGB), Störung öffentlicher Betriebe (§ 316b Abs. 1 StGB) und Störung von Telekommunikationsanlagen (§ 317 Abs. 1, Abs. 3 StGB).
- Straftaten im Amte:
- Abgabenüberhebung; Leistungskürzung (§ 353 Abs. 1 StGB), Vertrauensbruch im auswärtigen Dienst (§ 353a Abs. 1 StGB) und Parteiverrat (§ 356 Abs. 1, Abs. 2 StGB).
Diese Vorschriften drohen nach ihrem Wortlaut, anders als gemeinhin angenommen, nicht Freiheitsstrafe mit bestimmten Mindest- und Höchstmaßen, sondern nach wie vor die weiland geltenden Strafarten „Haft“, „Gefängnis“ oder „Zuchthaus“ in bestimmten anderen Abstufungen an. Auch die gegebenenfalls in Kombination damit angedrohte Geldstrafe folgt in Wirklichkeit einem ganz anders austarierten System. Der heute bekannte falsche Gesetzeswortlaut kam durch die Bekanntmachungen des Bundesjustizministeriums vom
- 25. August 1953 (BGBl. I 1953 S. 1083—1130),
- 1. September 1969 (BGBl. I 1969 S. 1445—1501) und
- 2. Januar 1975 (BGBl. I 1975 S. 1—79)
zustande. Dieses arbeitete, wie aus den nachfolgenden Synopsen hervorgeht, in atemberaubender Überschreitung seiner Kompetenzen den Änderungssinn der materiellen Überlagerungen in den Ausgangstext ein (links ist mein [bedingt wahrer] Anknüpfungstext, rechts die falsche ministerielle Bekanntmachung):
- Synopse zur Bekanntmachung vom 25. August 1953,
- Synopse zur Bekanntmachung vom 1. September 1969 und
- Synopse zur Bekanntmachung vom 2. Januar 1975.
Die Rechtsquellen für alle Einzeländerungen sind in meiner Edition in den Anmerkungen genannt. Dort, wo als „Rechtsquelle“ eine ministerielle Bekanntmachung angegeben ist, erfolgte ein unzulässiger Texteingriff durch das Bundesjustizministerium (siehe auch die Verknüpfungen der betroffenen Vorschriften in der obigen Auflistung).
Das Ausweichen auf materiell-derogative Änderungen und deren freies Einarbeiten in den Gesetzestext stellten, wie ich im Editionsbericht nachgewiesen habe, hinsichtlich der Erkennbarkeit des Rechts einen schweren, zur Nichtigkeit führenden Fehler dar. Bei den genannten Vorschriften war das Bundesjustizministerium auch nicht klug genug, den parlamentarischen Gesetzgeber im Lauf der Zeit zu entsprechenden formell-derogativen Änderungen zu veranlassen. Betroffen ist davon aber nicht nur das Strafgesetzbuch, sondern sind auch zahlreiche Vorschriften des Nebenstrafrechts, zum Beispiel das „Raubkopieren“ nach § 106 Abs. 1 UrhG. Zwecks Herstellung rechtsstaatlicher Verhältnisse bleibt nur zu hoffen, dass die Strafverteidiger bald aufwachen und die Nichtigkeit dieser Vorschriften endlich geltend machen. Die Mandanten hätten nichts zu verlieren und alles zu gewinnen. Im Übrigen winkt Ruhm vor dem Bundesverfassungsgericht, das seine „Chaostheorie“ der bloßen Unvereinbarkeitserklärung (BVerfG, Urteil vom 4. Mai 2011 – 2 BvR 2365/09, jurisRdnr. 168) angesichts des Rückwirkungsverbots kaum fortzusetzen wagen dürfte. Diejenigen Strafverteidiger, die ihre Mandanten in verfassungsrechtlicher Hinsicht weiterhin kampflos für eines der oben genannten Scheindelikte verurteilen lassen, sollten sich dagegen bewusst machen, dass ihnen dafür die Anwaltshaftung droht. Recht und Moral wieder in Einklang zu bringen ist dabei allein Sache des Gesetzgebers.