Was ist eigentlich ein Justizopfer? Und: Gibt es so etwas überhaupt? Der „immerwährende“ Vorsitzende des Rechtsausschusses im Bayerischen Landtag, Franz Schindler (SPD), ist einmal mit der Behauptung aufgefallen, es gäbe gar keine Justizopfer. Da irrte er sich gleich mehrfach. In der Begriffswelt des öffentlichen Rechts, das nicht gerade für übertriebene Skandalisierungen bekannt ist, gibt es das Opfer in der Gestalt des Sonderopfers und der Aufopferung. Wessen legitimes Privatinteresse auf dem Altar der Allgemeininteressen geopfert wurde, soll dafür – so ein alter Gerechtigkeitssatz – zumindest einen finanziellen Ausgleich erhalten. Wenn sich im Strafrecht ein (wie sich später herausstellt) Unschuldiger dem Strafverfahren – mit seinen zum Teil rüden, aber zulässigen Methoden wie einer Freiheitsentziehung – stellen muß, prallen diese beiden Interessen aufeinander wie kaum sonst und schaffen ein Opfer. Der Liquidierung dieses Opfers (der Aufopferung, nicht der Person) dient das Strafrechtsentschädigungsgesetz (StrEG). Man könnte es auch Justizopfergesetz nennen, tut es aber nicht, um Zartbesaitete wie Franz Schindler nicht aufzuregen.
Als Schindler angeblich grantelte, so etwas wie Justizopfer gäbe es nicht, hatte er sicherlich einen weniger feinsinnigen Opferbegriff im Sinne. Ihm dürfte es um den Vorwurf gegangen sein, daß Angeklagte Opfer von nicht nur ex post, sondern auch ex ante fehlerhaften Maßnahmen geworden seien. Opfer von Rechtsverletzungen, zu denen es auch schuldhaft handelnde „Täter“ gebe, nämlich Richter oder Staatsanwälte. Aber so weltfremd, zu glauben, anders als in jeder anderen Profession kämen ausgerechnet in diesen Berufsgruppen keine vorwerfbaren Kunstfehler vor, kann auch Schindler nicht sein. Hier dürfte der in Fragen von Justizirrtümern immer besonders staatstragende Ausschußvorsitzende Opfer eines gedanklichen Kurzschlusses geworden sein. Es gibt bei Richtern tatsächlich eine Sonderregelung, die sie von anderen in „gefahrgeneigten“ Berufen Tätigen unterscheidet: Gemäß § 839 Abs. 2 Satz 1 BGB lösen Fehler von ihnen selbst dann keine Haftung aus, wenn sie grob fahrlässig begangen wurden. Welche – guten oder schlechten – Gründe für dieses „Spruchrichterprivileg“ auch immer sprechen mögen – es wäre unsinnig, aus ihm zu schließen, die Fehler, für die nicht gehaftet wird, seien gar keine Fehler und die Fehlerbetroffenen keine Opfer. Denn die gesetzliche Regelung belegt gerade das Gegenteil – gäbe es keine Fehler, bedürfte es ihrer nicht.
Im „Justizestablishment“ (zu dem auch ein Ausschußvorsitzender von der Opposition gehört, zumal wenn er immer noch die Hoffnung hegt, einmal in einer Koalitionsregierung Justizminister zu werden) sind die Angst und Unsicherheit groß, wie mit Fehlern im Strafverfahren umgegangen werden soll. Als im Fall von Norbert Kuß, der fast zwei Jahre unschuldig im Gefängnis saß aufgrund einer Fehleinschätzung, die man hätte vermeiden können, dürfte es Aufregung gegeben haben, als die Presse berichtete, daß die saarländische Justizministerin Anke Rehlinger (SPD) ihn aufsuchen und sich bei ihm „entschuldigen“ wolle. Die Ministerialbürokratie dürfte daraufhin die Ministerin instruiert haben, bei dem Treffen die Erklärung abzugeben, sie dürfe sich nicht entschuldigen (aber es tue ihr doch irgendwie leid).
Welchen schweren Stand Justizopfer (im allgemeinen und im speziellen Sinne) in diesem Klima haben, zeigt der Umgang mit ihnen, wenn es um die Zuerkennung einer Entschädigung geht. Weit davon entfernt, daß ihr Opfer vom Staat gewürdigt wird, geht bei der Staatsanwaltschaft (ausgerechnet sie ist die zuständige Stelle für den Bescheid über die Anspruchshöhe) das große Rechnen los, wie man ihre Ansprüche auf ein Minimum eindämmen kann. Während in anderen Ländern Entschädigungszahlungen an Justizopfer aufgrund von Billigkeitsmaßstäben zuweilen Millionenhöhe erreichen können, wird in Deutschland der immaterielle Wert eines in Gefangenschaft verbrachten Tages mit 25 Euro taxiert (§ 7 Abs. 3 StrEG; früher: 11 Euro). Für den Ausgleich materieller Schäden wird der Anspruchssteller in das freudlose Reich des zivilen Schadenrechts verwiesen, wo – große Kulturleistung des deutschen Juristen – mit immensem intellektuellen Aufwand die tatsächlichen oder vermeintlichen Schadensposten bis ins Kleinste durchdrungen werden müssen. Es ist nicht ohne Ironie, daß das StrEG (implizit) auf das Zivilrecht und damit auf die Obsession des deutschen Ziviljuristen von der genauen Schadensermittlung verweist, verwendet doch der deutsche Strafjurist in seiner ureigenen Domäne, nämlich der Strafzumessung, nicht ein Zehntel des Begründungsaufwandes, wenn es darum geht, ein paar Jahre mehr oder weniger zuzumessen, sondern geht eher grobmotorisch vor („… unter Abwägung aller für und gegen den Angeklagten sprechenden Umstände eine Einzelstrafe von … tat- und schuldangemessen …; unter nochmaliger Würdigung aller Umstände eine Gesamtstrafe von …“).
Zwei bekannte Fälle von Justizopfern, deren Leben aufgrund von unberechtigter Haft in Trümmer gefallen ist, die die Gestalt von Schadensposten in einem streitig geführten Entschädigungsverfahren angenommen haben, sind die von Harry Wörz (LG Karlsruhe, 10 O 370/14) und Veysel Kurt (LG Potsdam, 4 O 213/15). Wörz war wegen versuchten Totschlags an seiner Frau zu elf Jahren Gefängnis verurteilt worden, Kurt wegen Totschlags an einer Liebhaberin zu neun Jahren. Beide sind später von den Vorwürfen freigesprochen worden, wobei offenkundig wurde, daß in beiden Fällen die Verurteilung das Ergebnis einseitiger Ermittlungen und einer verfrühten Festlegung auf einen Handlungsablauf durch Staatsanwaltschaft und Gericht war. Im Fall Kurt stellte sich in der zweiten Hauptverhandlung vor einem neuen Gericht heraus, daß die zwar nicht sicher feststellbare, aber doch wahrscheinlichste Ursache für den Tod der Liebhaberin die schicksalhaft aufgetretene Luftembolie war, von der das erste Gericht partout nichts hatte hören wollen und zu der es jeden Beweisantrag verärgert zurückgewiesen hatte.
Als rechnerische Bilanz seiner Rolle als Angeklagter erhielt Kurt im Mai dieses Jahres einen Bescheid der brandenburgischen Generalstaatsanwaltschaft, in der die Entschädigung für alle in Verbindung mit seiner über 17-monatigen Untersuchungshaft entstandenen Schäden auf 25.389,68 Euro festgelegt wurde, davon 13.375 Euro für den immateriellen Schaden (die 25 Euro pro Tag). Als materiellen Schaden berechnete der Sachbearbeiter 13.421,31 Euro für entgangenen Gewinn, allerdings abzüglich 2.765,49 Euro wegen ersparter Aufwendungen für Verpflegung, sowie 1.358,68 Euro für die Rechtsanwaltsgebühren im Entschädigungsverfahren.
Der Fall bietet eine Gelegenheit, sich einen Irrtum genauer anzusehen, dem die Staatsanwaltschaften bei der Anwendung des Schadenrechts – natürlich zu Lasten der Freigesprochenen – routiniert innerhalb der ohnehin engen gesetzlichen Grenzen für eine angemessene Entschädigung unterliegen. Er betrifft den Posten „ersparte Aufwendungen für Verpflegung“, der für die Antragsteller insoweit besonders ärgerlich ist, weil er – aufgrund des identischen Tagesfaktors – wie eine Kürzung des ohnehin kargen Tagessatzes von 25 Euro „Schmerzensgeld“ erscheint (obwohl insoweit eine Verrechnung erklärtermaßen gerade nicht stattfindet, dazu gleich). Die These, die im Folgenden ausgeführt werden soll, lautet: Ein solcher Abzug steht jedenfalls in den meisten Fällen mit dem geltenden Recht nicht in Einklang. Trotzdem scheint diese bisherige Praxis noch nicht in Frage gestellt worden zu sein, denn Rechtsprechung zu ihr ist nicht bekannt geworden. Im Fall Kurt beläuft sich dieser Abzug auf 2.765,49 Euro, im Fall Wörz sollen es gar 14.000 Euro sein.
Als Grundlage für diesen Abzug wird die Rechtsfigur des „Vorteilsausgleichs“ herangezogen. Daß sie einschlägig ist, wird nicht vom Staatsanwalt in jedem Verfahren neu entschieden, sondern von ihm den ministeriellen Ausführungsbestimmungen zum StrEG entnommen. Hier muß man wissen, daß diese Ausführungsbestimmungen bereits ein Rückzugsgefecht der Justizverwaltungen abbilden. In Brandenburg gibt es zwei ministerielle Ausführungsverfügungen: Zum einen die Anlage C der Richtlinien für das Strafverfahren und das Bußgeldverfahren (RiStBV) vom 25. November 1991 (JMBl/91, [Nr. 9], S.90), zuletzt geändert durch Allgemeine Verfügung vom 28. August 2015 (JMBl/15, [Nr. 9], S.85), und zum anderen die Ausführungsvorschriften zum Gesetz über die Entschädigung von Strafverfolgungsmaßnahmen vom 11. Juli 2006 (JMBl/06, [Nr. 8], S.101). Beide Verfügungen sind nahezu wortgleich (es wäre eigentlich zu erwarten, daß durch die Verfügung vom 11. Juli 2006 die Anlage C der RiStBV formell aufgehoben worden wäre, aber davon ist nichts zu finden). Sie unterscheiden sich im Wesentlichen nur durch Einschränkungen in Bezug auf die Reichweite des Vorteilsausgleichs. Die Verfügung vom 11. Juli 2006 scheint eine Reaktion auf ein Urteil des OLG Düsseldorf vom 10. Mai 2006 – 18 U 12/06 – zu sein. Das OLG hatte per Leitsatz entschieden:
Bei der Entschädigung für aufgewendete Verteidigerkosten nach § 7 Abs. 1 StrEG findet keine Vorteilsausgleichung durch Abzug der in der Untersuchungshaft ersparten Verpflegungskosten statt.
Damit hatte sich diese Erkenntnis, die das LG Frankfurt/Main schon zwanzig Jahre früher hatte (Urteil vom 29. Juni 1983 – 2/4 O 78/83) endgültig durchgesetzt. In den Ausführungsbestimmungen Brandenburgs (und denen anderer Länder) wurde die bisherige Formulierung
Beauftragt der Berechtigte einen Rechtsanwalt mit der Geltendmachung seiner Ansprüche, so sind die dafür entstandenen Gebühren (vgl. Bundesrechtsanwaltsgebührenordnung) als Teil des Vermögensschadens erstattungsfähig.
geändert in
Beauftragt der Berechtigte einen Rechtsanwalt mit der Geltendmachung seiner Ansprüche, so sind die dafür entstandenen Gebühren (vgl. § 118 Bundesrechtsanwaltsgebührenordnung) als Teil des Vermögensschadens in der Regel erstattungsfähig. Eine Vorteilsausgleichung (Nr. 2 b) findet insoweit nicht statt.
und aus der bisherigen Formulierung
Ausgaben, die der Berechtigte infolge einer Haft für Unterkunft und Verpflegung erspart hat, werden nur wie folgt angerechnet: […]
wurde
Ausgaben, die der Berechtigte infolge einer Haft für Unterkunft und Verpflegung erspart hat, werden allein bei der Geltendmachung von kongruenten Vermögensschäden (§ 7 Abs. 1 StrEG) und nur wie folgt angerechnet: […]
Was steckt dahinter? An diesen beiden Gerichten hatte man sich die Regeln des Vorteilsausgleichs, die die Rechtsprechung des BGH aufgestellt hatte, näher angeschaut. Denn trotz dem zivilrechtlichen Drang, den status ex ante nach einem Schadensereignis rechnerisch exakt wiederherzustellen, schleicht sich beim Vorteilsausgleich ein wertendes Element ein. In der BGH-Rechtsprechung wird das so beschrieben (BGH, Urteil vom 17. Mai 1984 – VII ZR 169/82):
Die im Bereich des Schadensersatzrechts entwickelten Grundsätze der Vorteilsausgleichung beruhen auf dem Gedanken, daß dem Geschädigten – jedenfalls in gewissem Umfang – diejenigen Vorteile zuzurechnen sind, die ihm in adäquatem Zusammenhang mit dem Schadensereignis zufließen. Es soll ein gerechter Ausgleich zwischen den bei einem Schadensfall widerstreitenden Interessen herbeigeführt werden. Der Geschädigte darf nicht besser gestellt werden, als er ohne das schädigende Ereignis stünde; das wäre ein unbilliges Ergebnis. Andererseits sind nicht alle durch das Schadensereignis bedingten Vorteile auf den Schadensersatzanspruch anzurechnen, sondern nur solche, deren Anrechnung mit dem jeweiligen Zweck des Ersatzanspruchs übereinstimmt, d.h. dem Geschädigten zumutbar ist und den Schädiger nicht unangemessen entlastet ([…]). Vor- und Nachteile müssen bei wertender Betrachtungsweise gleichsam zu einer Rechnungseinheit verbunden sein ([…]).
Und etwas eingehender im Urteil vom 6. Juni 1997 – V ZR 115/96:
[Nach den allgemeinen Grundsätzen der Schadenszurechnung und Vorteilsausgleichung] sind nicht alle Vorteile berücksichtigungsfähig, die durch die Nichterfüllung adäquat kausal verursacht wurden, sondern nur solche, deren Anrechnung dem Sinn und Zweck der Schadensersatzpflicht entspricht, d.h. den Geschädigten nicht unzumutbar belastet und den Schädiger nicht unbillig begünstigt ([…]). Ob dies der Fall ist, kann vor einer Gesamtsaldierung der Vermögenslagen allerdings nur in bezug auf die einzelnen Schadenspositionen beurteilt werden, weil grundsätzlich nur solche Vorteile anrechenbar sind, die mit einem bestimmten Nachteil korrespondieren. Die Vorteilsausgleichung erfolgt also nicht bei der Endsaldierung aller Aktiv- und Passivposten gegenüber dem Gesamtbetrag des Schadens, sondern betrifft nur den Schadensposten, „dem der Vorteil seiner Art nach entspricht“ ([…]), d.h. der mit dem Vorteil „kongruent“ ist ([…]). Die Rechtsprechung hat hierfür im Anschluß an Thiele ([…]) die Formulierung gebraucht, daß nur solche Vorteile als anrechenbar in Betracht kommen, die gerade mit dem geltend gemachten Nachteil in einem qualifizierten Zusammenhang stehen, der beide „gewissermaßen zu einer Rechnungseinheit verbindet“ ([…]). Diese „Rechnungseinheit“ ist nicht die Folge einer bestimmten Art der Schadensberechnung, sondern das Ergebnis einer wertenden Zuordnung von bestimmten Vor- und Nachteilen aus dem Schadensereignis.
Liegen diese Voraussetzungen nicht vor, dann ist eine (scheinbare) Besserstellung des Geschädigten nicht nur möglich, sondern sogar rechtlich erforderlich. Ausgehend von diesen Grundsätzen haben das LG Frankfurt/Main und das OLG Düsseldorf entschieden, daß der Nachteil, eine Anwaltsrechnung bezahlen zu müssen und der (vermeintliche) Vorteil, keine Verpflegungsaufwendungen gehabt zu haben, wertungsmäßig nicht zu einer „Rechnungseinheit“ verbunden sind. Daß sie über eine allgemeine Vermögenssaldierung miteinander in Beziehung stehen, reicht für die Anrechnung gerade nicht aus.
Die Landesjustizverwaltungen unterlagen einem Irrtum, wenn sie bei der Neufassung der Ausführungsbestimmungen die Meinung vertreten haben sollten, die Folgen dieser Erkenntnis seien auf den entschiedenen Fall der Anwaltsgebühren beschränkt (wofür spricht, daß sie diesen Anwendungsfall ausdrücklich in die Verfügung aufgenommen haben; wogegen spricht, daß sie darüber hinaus das Erfordernis der Kongruenz allgemein in die Anrechnungsbestimmung aufgenommen wurde). Tatsächlich ist ein Anwendungsfall einer Anrechnung von ersparten Verpflegungsaufwendungen nach den zivilrechtlichen Vorgaben eigentlich nicht denkbar. Daß die ministeriellen Ausführungsbestimmungen dadurch ins Leere gehen, spricht nicht gegen diesen Befund, denn solche untergesetzlichen Bestimmungen können die Rechtslage nicht ändern und sind jedenfalls für die Gerichte nicht bindend (vgl. OLG Köln, Urteil vom 3. März 1994 – 7 U 191/93 – zum umgekehrten Fall einer Besserstellung des Antragsstellers durch sie).
Wenn die ministerielle Ausführungsbestimmung die Höhe der angeblich ersparten Verpflegungsaufwendungen des Untersuchungs- oder Strafgefangenen aus dem Haftkostensatz/Haftkostenbeitrag errechnet, deutet dies bereits auf eine gedankliche Fehlkonstruktion hin: Die Ersparnis hat mit diesem in Wirklichkeit nichts zu tun, sondern mit den individuellen Essensgewohnheiten des Betroffenen. Die tatsächlich ersparten Aufwendungen eines Thomas Middelhoff dürften die eines Veysel Kurt oder eines Harry Wörz um ein Vielfaches übersteigen. Wenn gleichwohl die Ausführungsbestimmung an den Haftkostensatz anknüpft, so kann dies nur als Pauschalisierung auf niedrigstem Niveau verstanden werden (für Brandenburg: 5,13 Euro/Tag im Jahr 2009 und 5,24 Euro/Tag im Jahr 2010), da die Feststellung des eigentlich korrekten Betrags aufwendige Ermittlungen, zumal im Privatleben des Antragstellers, erfordern würde. Und wer wird sich beschweren, daß der Staat im Wege einer Pauschalisierung weniger abzieht, als er eigentlich dürfte? Gleichwohl baut diese Anknüpfung ein Trugbild auf: Sie verleitet dazu, bei der für den Vorteilsausgleich gebotene Prüfung der Kongruenz oder Rechnungseinheit falsche Bezugspunkte zu nehmen. Wer würde bezweifeln, daß das Essen in der JVA mit dem eingesparten Essen zu Hause (oder im Restaurant) in einem Kongruenzverhältnis steht? Genau hierin liegt der Denkfehler. Denn die Kongruenz und die Rechnungseinheit müssen zwischen einem Vorteil und einem Nachteil nachgewiesen werden. Die Ersparnis eigener Aufwendungen ist der Vorteil, aber die Verpflegung in der JVA ist gerade nicht der ausgleichpflichtige Nachteil. Er ist überhaupt kein Nachteil (von der Qualität des Essens abgesehen), sondern juristisch allenfalls eine aufgedrängte Bereicherung (für deren Geltendmachung eine Rechtsgrundlage nicht besteht). Der ausgleichpflichtige Nachteil ist der entgangene Gewinn aus einer Erwerbstätigkeit, die wegen der Inhaftierung nicht möglich war. Daß aus diesem Gewinn die Kosten für die eigene Verpflegung zu bestreiten gewesen wären, stellt zwischen diesen beiden Posten eine Beziehung her, aber es fehlt – wie im Fall der Anwaltskosten – auch hier die spezifische Kongruenz im Sinne einer Rechnungseinheit. Daß der Mensch essen muß, bietet hier keinen größeren Erkenntnisgewinn als der Umstand, daß das Leben auch sonst aus Rechnungenzahlen – wie die von Anwälten – besteht. Schadensrechtlich gilt: „Die Ersatzpflicht soll hier sicherstellen, daß der Verletzte über dasselbe Arbeitseinkommen verfügen kann wie ohne den Unfall; wie er das Geld verwendet, geht den Schädiger grundsätzlich nichts an.“ (BGH, Urteil vom 22. Januar 1980 – VI ZR 198/78). Deshalb würde es auch, ja erst recht, zum selben Ergebnis führen, wenn man nicht die ersparten Aufwendungen für die selbstbestimmte Verpflegung als den Vorteil in die Gegenüberstellung einstellt, sondern tatsächlich den Wert einer aufgedrängten, fremdbestimmten Verpflegung.
Das OLG Düsseldorf hatte in seiner zitierten Entscheidung vom 10. Mai 2006 – 18 U 12/06, die offenbar Anlaß für die Überarbeitung der Ausführungsbestimmungen war, die hier interessierende Folge der Anwendung der Vorteilsausgleichsregeln bereits angesprochen, obwohl es mit dieser Konstellation nicht befaßt war: Es wies ausdrücklich darauf hin, daß Verpflegungsaufwendungen nicht vom Verdienstausfallschaden abgezogen werden können. Diesen Hinweis, der – wie es scheint – von den Landesjustizverwaltungen geflissentlich übersehen worden ist, stützte es im Rahmen einer Hilfsüberlegung auf die Rechtsprechung des BGH, der klargestellt hatte, daß gegenüber entgangenem Gewinn zwar eingesparte Fahrtkosten, aber nicht eingesparte Verpflegungsaufwendungen abgezogen werden können (BGH, Urteil vom 22. Januar 1980 – VI ZR 198/78). Verwirrung war in diese Frage gekommen, weil es tatsächlich Konstellationen geben kann, in denen ersparte Verpflegungsaufwendungen einen verrechenbaren Rechnungsposten bilden können, nämlich dann, wenn der Geschädigte, der in ein Krankenhaus kommt, dort Verpflegungskosten zu zahlen hat. Dann bilden diese einen ersatzfähigen Schadenposten, dem ein kongruenter Ersparnisposten gegenübersteht. Wie oben gesagt, kann aber in StrEG-Fällen eine solche Konstellation nicht eintreten, da es gerade keinen Anspruch des Staates gegen einen unschuldig Inhaftierten auf den Haftkostenbeitrag gibt (und auch keinen Dritten als Schuldner, der hierfür Ersatz leisten müßte).
Im Rahmen der anhängigen Verfahren Kurt und Wörz kann die verfehlte Praxis der indirekten Geltendmachung eines Haftkostenbeitrags gegenüber Justizopfern endlich höchstrichterlich geprüft werden. Auch wenn die Beendigung dieser Praxis nur ein kleiner Schritt in Richtung einer wirklich angemessenen Entschädigung ist, ist dieser psychologisch bedeutsam: Für die Betroffenen stellt nämlich die Konstruktion der Anknüpfung an die Haftkosten nichts anderes dar als der Versuch, gerade den Nachteil der Gefangenschaft als etwas (auch) Positives zu „verkaufen“. Kurt als religiöser Muslim hatte das Vergnügen, in der JVA Cottbus-Dissenchen Schweinefleischgerichte zu essen und soll nun dafür „zahlen“.