De legibus-Blog

7. Dezember 2014

Gehört Angela Merkel hinter Schloß und Riegel?

Oliver García

„Gehe in das Gefängnis. Begib Dich direkt dorthin. Gehe nicht über Los. Ziehe keine Bonuszahlung ein.“ hieß es vor drei Wochen für den Wirtschaftskapitän Thomas Middelhoff, als ihn das Landgericht Essen wegen Untreue zu drei Jahren Gefängnis verurteilte (Urteil vom 14. November 2014 – 35 KLs 14/13) und gleichzeitig einen – zweifelhaften – Haftbefehl gegen ihn erließ.

Man kann, wie es der BGH-Richter Thomas Fischer in der ZEIT tat, diese Verurteilung und die Resonanz auf sie in der Öffentlichkeit zum Anlaß nehmen für ein still und stilvoll vor sich hin mäanderndes Psychogramm einer finanzkrisengebeutelten Gegenwartsgesellschaft. Man kann aber auch – viel bescheidener – versuchen, dieses Urteil rein juristisch zu bewerten. Um einen solchen Versuch soll es in diesem Beitrag gehen – in aller gebotenen Oberflächlichkeit, denn die schriftlichen Entscheidungsgründe liegen noch in weiter Ferne.

Die Middelhoff vorgeworfenen Untreuehandlungen (die Staatsanwaltschaft hatte aus der Insolvenzmasse der Arcandor AG ein Bündel von Anklagepunkten destilliert, von denen – nach diversen Einstellungen durch das Gericht – einige jetzt zur Verurteilung führten) lassen sich in zwei Kategorien einteilen: „Privatvergnügen“ auf Firmenkosten und „bizarre Reisekosten“ (Fischer). Der Gesamtschaden für Arcandor soll sich auf rund 500.000 Euro belaufen. Das – in der Presseberichterstattung – prominenteste Beispiel für die „Privatvergnügen“ ist eine Festveranstaltung samt Festschrift, die Middelhoff für seinen früheren Mentor bei Bertelsmann, Mark Wössner, ausrichten ließ. Bei den Reisekosten geht es etwa darum, daß Middelhoff, genervt vom vielen Stehen im Stau, sich mit dem Hubschrauber ins Büro bringen ließ. In beide Kategorien könnte es fallen, wenn Middelhoff vorgeworfen wird, daß er sich die Kosten für eine Terminswahrnehmung in New York in seiner Eigenschaft als Verwaltungsratsmitglied der New York Times von Arcandor bezahlen ließ.

Nun gibt es zu beiden Kategorien auch Anwendungsfälle – möglichen – Fehlverhaltens der amtierenden Bundeskanzlerin Angela Merkel, die allenfalls zu kleinen Affären, aber nicht zur Strafverfahren geführt haben: Wenn Merkel zum Geburtsfest im Kanzleramt für Josef Ackermann lädt, ist das nur politisch instinktlos oder auch strafrechtlich relevant? Und wie verhält es sich, wenn sich die Kanzlerin von ihrem Urlaubsort in Südtirol für 90 Minuten im Bundeswehrjet nach Sylt fliegen läßt, um in der Buchhandlung Voss in der Friedrichstraße das Buch „Angela Merkel: Das Porträt“ zu signieren? Bizarre Reisekosten und Privatvergnügen auf Kosten der Steuerzahler? Beides wohl ja, aber strafbar? Schwierig. Die Westfalenpost nahm Merkel in Schutz mit dem Hinweis, daß sie ja „irgendwie immer im Dienst“ sei. Ein Argument, mit dem Middelhoff, der dafür auch die Gepflogenheiten der Jetset-Manager US-amerikanischer Prägung anführte, bei seinen Richtern kein Gehör fand.

Der Vorsitzende Richter Jörg Schmitt wies bei der Urteilsverkündung darauf hin, daß es wohl nie zum Strafverfahren gegen Middelhoff gekommen wäre, wenn dieser Arcandor nicht an die Wand gefahren hätte. Dies war rein kausal gemeint (ohne Insolvenz kein Insolvenzverwalter, der beim Durcharbeiten der Bücher alte Verschwendungen hätte aufdecken und anzeigen können), aber natürlich hat Schmitt – ungewollt – auch atmosphärisch recht: Nicht die Sieger, sondern die Verlierer der Geschichte werden strafverfolgt. Nachdem Julija Tymoschenko bei der Präsidentschaftswahl 2010 in der Ukraine nur knapp gegen Wiktor Janukowytsch unterlegen war, wurde sie wegen Verstößen gegen das ukrainische Gegenstück zum deutschen Untreuetatbestand vor Gericht gestellt. Sie wurde von Richter Rodion Kirejew (jetzt auf die Krim geflüchtet) stotternd zu sieben Jahren Gefängnis verurteilt, vor allem weil sie als Ministerpräsidentin im Gasstreit mit Rußland gegenüber Wladimir Putin zu schlechte Bedingungen ausgehandelt habe. Natürlich – die Ukraine war und ist (obwohl Signatarstaat der Menschenrechtskonvention) kein Rechtsstaat im deutschen Sinne und deshalb könnte man sagen, eine solche absurde Ausweitung (und Instrumentalisierung) dieses Strafgesetzes sei in Deutschland undenkbar. Und doch hat der seit 81 Jahren im Tatbestandswortlaut unveränderte § 266 StGB in der Rechtsprechung der letzten zwanzig Jahren – wie von Geisterhand – eine Eigendynamik entwickelt. Wie in einer Goldgräberstimmung entdeckten Staatsanwaltschaften und Gerichte immer neue Anwendungsbereiche für den Untreuetatbestand in Wirtschaft und Politik und machten die Norm zu einer Art Generalklausel für tatsächliches oder behauptetes Fehlverhalten im Umgang mit Geld, zum „Mädchen für alles“ (Mustafa Temmuz Oğlakcιoğlu, LTO): „§ 266 StGB paßt immer“ (Andreas Ransiek, ZStW 2004, 634). Wer kann vorhersagen, wo diese Entwicklung noch hinführt?

Schauen wir uns die Vorwürfe gegen Middelhoff im Einzelnen an: Die Ehrung für Mark Wössner erscheint mir als der Anklagepunkt, der noch am ehesten beim BGH durchkommt. Für die Frage, wann Sponsoring als außerhalb des Unternehmensinteresses liegend strafbar ist, gibt es bereits höchstrichterliche Kriterien. Genannt worden sind vom BGH (Urteil vom 6. Dezember 2001 – 1 StR 215/01): Fehlende Nähe zum Unternehmensgegenstand, Unangemessenheit im Hinblick auf die Ertrags- und Vermögenslage, fehlende innerbetriebliche Transparenz sowie Vorliegen sachwidriger Motive, namentlich Verfolgung rein persönlicher Präferenzen. Hieran werden die Meinung der Strafkammer und die Gegenargumente Middelhoffs zu messen sein. Dabei ist entscheidend, daß beim Abarbeiten der Kriterien die Erfüllung eines oder mehrerer allein nicht zur Strafbarkeit führt. Eine nur lose Verbindung zum Unternehmensgegenstand kann wettgemacht werden durch erhöhte interne Publizität (BGH aaO.). Dies unterscheidet (möglicherweise) den Fall Middelhoff vom klassischen „Griff in die Kasse“ (a.M. Staatsanwalt Thomas Hochstein in seiner Urteilsanmerkung). Dieser klassische Griff ist geprägt durch Heimlichkeit und Verschleierung gegenüber den kontrollierenden internen und externen Instanzen. Jedenfalls wenn Arcandor als Ausrichter der inkriminierten Festveranstaltung nach außen hin aufgetreten sein sollte, sind wir schlicht bei der gerichtlichen Nachprüfung vernünftigen wirtschaftlichen Handels als Teil der Prüfung des Untreuetatbestands neuer Prägung. Wegen der Unschärfe der Pflichten der Unternehmungsführungen durch eine solche Ex-post-Prüfung (Angela Merkel hatte die Untreue-Anklage gegen Josef Ackermann als „Schlag gegen den Wirtschaftsstandort Deutschland“ bezeichnet) könnte man darüber nachdenken, ob nicht Geschäftsführer künftig gehalten sein sollten, riskante oder sonst potentiell unvernünftige Entscheidungen vorab der örtlich zuständigen Staatsanwaltschaft zur Begutachtung vorzulegen, um ein späteres böses Erwachen zu vermeiden (aber halt, die Staatsanwaltschaft ist ja eine repressive, keine präventive Behörde).

Middelhoffs Hubschrauber- und Privatjetfimmel als Untreue zu bewerten, erscheint mir hingegen weit hergeholt. Maßstab dafür, was strafbar ist, ist nicht die öffentliche Meinung oder das, was Richter am Landgericht für angemessene Zeiteinteilung halten (Jörg Schmitt: „Dann müssen Sie eben früher aufstehen.“), sondern die Haltung des Unternehmens, dessen Vermögen vor dem Treupflichtigen geschützt werden soll. Middelhoff hat nicht heimlich Hubschrauber und Jets auf Firmenkosten genutzt, sondern – als Teil seines Geschäftsführungsstils – vor aller Augen, vom Pförtner über das Controlling bis hin zum Aufsichtsrat. Middelhoff erhielt – laut Feststellungen des Gerichts – vom Aufsichtsrat ein Monatsgehalt von 47 000 Euro eingeräumt sowie Tantiemen von mindestens 180 000 Euro im Jahr und Bonuszahlungen von bis zu 900 000 Euro. Darüber hinaus soll er eine Einmalzahlung von 30 Millionen Euro dafür erhalten haben, daß er seinen bisherigen Posten zugunsten von Arcandor aufgab. Weitere 100 Millionen Euro sollen ihm in Aussicht gestellt worden sein, wenn es ihm gelänge, den Wert des Aktienpakets von Arcandor-Großaktionärin Madeleine Schickedanz zu verdoppeln. Vor diesem Hintergrund kann es überhaupt keinen Zweifel geben, daß der Aufsichtsrat (ggf. nach Intervention der Großaktionärin) eine ausdrückliche Klausel im Dienstvertrag akzeptiert hätte, daß Middelhoff zur Optimierung seiner Zeitplanung auf Firmenkosten seinen Fortbewegungsvorlieben frönen darf.

Hier könnte man sich überlegen, ob nicht auch im Fall Middelhoff die Idee eingreifen müßte, die der (auch für Middelhoffs Revision zuständige) 4. Strafsenat des BGH im Fall Oury Jalloh hatte: Nach seiner (allerdings durchaus zweifelhaften) Entscheidung vom 4. September 2014 (4 StR 473/13) ist ein Polizist dann nicht wegen Freiheitsberaubung strafbar, wenn eine Freiheitsentziehung zwar mangels der gesetzlich erforderlichen richterlichen Entscheidung rechtswidrig war, aber der Richter sie höchstwahrscheinlich angeordnet hätte (Verneinung der „hypothetischen Kausalität“). Ebenso wie dort verengt sich dann im Fall Middelhoff der strafrechtliche Vorwurf auf einen formellen Verstoß. Die Parteien von Middelhoffs Dienstvertrag haben offenbar – anders als nun das Landgericht Essen – angenommen, daß es einer schriftlichen fixierten Regelung über die Freiheit des Vorstandsvorsitzenden zur Wahl seiner Verkehrsmittel nicht bedarf.

Jedenfalls indiziert die Duldung des Aufsichtsrats dessen, was Middelhoff vor aller Augen als „gelebte Praxis in Großkonzernen“ ansah, daß der Aufsichtsrat es als im Unternehmensinteresse betrachtete. Da er dasjenige Organ der Aktiengesellschaft ist, das für die Entscheidung über die finanziellen Zuwendungen an den Vorstand abschließend zuständig ist, hat das Gericht in diesem Punkt seine Vorstellungen vom Unternehmensinteresse nicht an die Stelle derjenigen des Aufsichtsrats zu setzen (volenti non fit iniuria). Ebenso wie der Aufsichtsrat Middelhoff ein Monatsgehalt von 1 Mio. Euro statt 47 000 Euro hätte bewilligen können, ist es für das Gericht bindend, daß er ihm die – weitaus preiswertere – Vergünstigung gewährte, auf Firmenkosten zu reisen. Erst mit Wirkung vom 5. August 2009 (also nach der Ära Middelhoff bei Arcandor) hat der Gesetzgeber die wirtschaftliche Einschätzungsprärogative des Aufsichtsrats beschränkt und damit die Möglichkeit einer gerichtlichen Überprüfung und abweichenden Bewertung geschaffen (§ 87 AktG n.F.). In seiner Mannesmann-Entscheidung (Urteil vom 21. Dezember 2005 – 3 StR 470/04) hatte der BGH zwar bereits zuvor Grenzen aufgezeigt, wie weit der Aufsichtsrat spendabel sein darf (Klaus Tolksdorfs bekanntem Diktum aus der mündlichen Urteilsbegründung nach ist nicht nur der Vorstand, sondern auch der Aufsichtsrat „Gutsverwalter, nicht Gutsherr“), doch war dies auf Extremfälle gemünzt (der Aufsichtsrat hatte dem Vorstand noch Prämien nachgeworfen, nachdem Mannesmann als eigenständiges Unternehmen praktisch schon abgewickelt war), von denen im Fall Middelhoff keine Rede sein kann. Im übrigen trifft eine Vermögensbetreuungspflicht hinsichtlich der (ausdrücklich oder stillschweigend gewährten) Zuwendungen an den Vorstand allein den Aufsichtsrat, nicht auch den Vorstand (BGH, aaO.).

Nach Middelhoffs Revision dürfte von den diversen Anklagepunkten nur so viel übrigbleiben, daß allenfalls eine Bewährungsstrafe realistisch ist. Auch das sollte das OLG Hamm bei seiner anstehenden Entscheidung über die Haftbeschwerde berücksichtigen.

Zitiervorschlag für diesen Beitrag:
https://blog.delegibus.com/4054

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