De legibus-Blog

1. Februar 2023

Parteiischer Richter in Mordsache ist keine Mordssache

Oliver García

Es gibt unter deutschen Strafrichtern ein Phänomen wie kein anderes. Stellt ein Verurteilter einen Wiederaufnahmeantrag, kann dies auf Richter eine ganz eigentümliche Wirkung haben. Es macht etwas mit ihnen. Ein überschießender Abwehrreflex wird bisweilen aktiviert, der rational nicht mehr erklärbar ist. Ich habe dieses Phänomen vor einigen Jahren, in der plakativen Sprache dieses Blogs, als „geistigen Ausnahmezustand“ bezeichnet. Andere Autoren, die zu dem Phänomen geschrieben haben, haben ähnliche Begriffe verwendet (Strate: „pseudologische Distinktionen, wie sie wirklich nur Juristen einfallen können“). Die Justiz, die „kratzt und beißt“, wenn ein Wiederaufnahmeantrag eingeht, ist ohnehin ein geflügeltes Wort.

Eine neuere Entscheidung fügt sich in diese Linie justizkultureller Beobachtungen ein. Das OLG Frankfurt hat im letzten Jahr einen Wiederaufnahmeantrag abgelehnt, mit dem eine Frau ihre Verurteilung wegen Ermordung ihres Mannes angriff (Beschluß vom 8. Juli 2022; 1 Ws 21/22). Von Einfügen zu sprechen ist dabei eine Untertreibung. Tatsächlich schießt die Entscheidung auf diesem Gebiet den Vogel ab. Sie entfernt sich in ihrer wiederaufnahmefeindlichen Argumentation von allgemeinen Rechtsgrundsätzen in einer solch unverständlichen Weise, daß sie die Grenze zur Willkür im verfassungsrechtlichen Sinne überschreiten dürfte (unter dem Aktenzeichen 2 BvR 1699/22 ist beim BVerfG eine Verfassungsbeschwerde gegen sie anhängig).

Hintergrund des Wiederaufnahmeantrags ist, daß die Antragstellerin gegen ihre Verurteilung wegen Mordes erfolgreich vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) vorgegangen war. Der EGMR stellte fest, daß die strafrechtliche Anklage gegen die Antragstellerin nicht vor einem unparteiischen Gericht verhandelt worden war, verurteilte mithin Deutschland wegen Verletzung von Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MRK (Beschluß vom 16. Februar 2021 – 1128/17). Der anschließend gestellte Wiederaufnahmeantrag war deshalb auf § 359 Nr. 6 StPO gestützt.

Die durch die Ablehnung des Antrags heraufbeschworene völkerrechtliche Problematik ist bereits an anderer Stelle erörtert worden (Boe, VerfBlog, 2022/8/29: „Die Nichtberücksichtigung verfassungs- und völkerrechtlicher Überlegungen bei der Auslegung einer zentralen Scharniernorm zwischen deutscher Rechtsordnung und EMRK ist befremdlich und beunruhigend.“). Im vorliegenden Beitrag soll demgegenüber im Mittelpunkt stehen, daß die Entscheidung des OLG Frankfurt bereits auf der Ebene des einfachen Rechts kraß falsch ist – dies vom eigenen Ausgangspunkt des Senats aus, da er, um das angestrebte Ergebnis zu erreichen, die Rechtsprechungsgrundsätze, auf die er sich bezieht, geradezu auf den Kopf stellt.

Doch der Reihe nach:

Ausgangsverfahren: Die Zeugin wird vom Gericht überführt

Die Antragstellerin (im Folgenden: S. M.) und ihr Ehemann (M. M.) lebten schon seit über einem Jahr getrennt, als dieser im Dezember 2009 Opfer eines Tötungsverbrechens wurde. Beide hatten neue Lebensgefährten. G. S., der Lebensgefährte von S. M., geriet in den Fokus der Ermittlungen, weil eine Reihe von Indizien auf ihn hindeuteten. Er wurde vor dem Landgericht Darmstadt angeklagt, wobei die Staatsanwaltschaft von Alleintäterschaft ausging. S. M., die Witwe, war als Zeugin geladen, machte aber von ihrem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch, da sie inzwischen mit G. S. verlobt war. Das Schwurgericht überzeugte sich aufgrund der Beweiserhebung von der Täterschaft des G. S. – aber nicht nur das: Die gerichtliche Aufklärungsarbeit förderte etwas Neues zu Tage, nämlich daß G. S. keineswegs Einzeltäter war, sondern die Tat zusammen mit der – am Tatort allerdings nicht anwesenden – S. M. begangen hatte, wobei diese geradezu die treibende Kraft der Tat gewesen war. Das Schwurgericht verurteilte deshalb G. S. als eine Hälfte eines Mittäter-Duos mit Urteil vom 11. Juli 2011 zu lebenslanger Freiheitsstrafe. S. M., die nicht auf der Anklage-, sondern auf der Zeugenbank gesessen hatte, wurde in der – auch schriftlichen – Urteilsbegründung ausführlich der Mittäterschaft an dem Mord überführt. So heißt es etwa in den Urteilsgründen:

… hatten der Angeklagte und S. M. erfahren, dass und in welchem Umfang M. M. der … GmbH Kapital entzog und seiner Lebensgefährtin zuführte. … Sie realisierten endgültig, von M. M. auf legalem Wege nicht die finanziellen Zuwendungen zu erhalten, die sie sich von ihm erhofften und die sie für das (wirtschaftlich) sorgenfreie Leben … benötigten, von dem sie träumten.

Sie beschlossen daher, M. M. zu töten. …

Solchermaßen in dem mit dem Angeklagten gemeinsam gefassten Plan bestärkt, M. M. zu töten, um sich dessen Vermögen habhaft zu machen, bereitete S. M. nunmehr die Tat selbst sowie die Sicherung des Vermögens des M. M. weiter vor. …

Insbesondere war in diesem Zusammenhang die Rücksichtslosigkeit zu berücksichtigen, mit welcher der Angeklagte und S. M. vorgingen und mit welcher sie durch die Ermordung (von M. M.) versuchten, statt diesem in dessen Geschäfte einzutreten und die hierbei entstehenden Gewinne selbst zu vereinnahmen.

Auf diese Weise belehrt betrieb die Staatsanwaltschaft nun ein Ermittlungsverfahren gegen S. M.. Offenbar hielt sie trotz der festen Überzeugung des Schwurgerichts von S. M.‘s Täterschaft die Sache beweismäßig noch nicht für anklagereif. Die Staatsanwaltschaft benutzte vielmehr diese Urteilsbegründung selbst als Hebel, nämlich indem sie unter Hinweis auf das Urteil die Schwester von G. S. (dem verurteilten Mittäter) und schließlich diesen selbst (der die Tat weiterhin leugnet) dazu bewegte, an der Erlangung von Beweisen gegen S. M. mitzuarbeiten. Irgendwann einmal ist es soweit (das staatsanwaltliche Aktenzeichen im Verfahren gegen S. M. ist aus dem Jahr 2012, also einem Jahr nach der Verurteilung von G. S.) und es wird Anklage gegen S. M. erhoben. Den Vorsitz in der für diese Anklage zuständigen Schwurgerichtskammer führt Richter am Landgericht Mü., der im vorangegangenen Verfahren gegen G. S. bereits mitgewirkt hatte, und zwar als Berichterstatter.

Derselbe Richter, der einer Kammer angehörte, die jenseits jeden vernünftigen Zweifels von der (Mit-)Täterschaft der jetzt Angeklagten überzeugt war und wegen dieser Tat eine lebenslange Freiheitsstrafe verhängt hatte, soll also nun in die Rolle eines gänzlich unvoreingenommenen, nach allen Seiten ergebnisoffenen und aufgeschlossenen Richters schlüpfen können, gegebenenfalls gerne bereit, das vorangegangene Urteil als peinliches Fehlurteil zu entlarven? Gleich zwei Spruchkörper des LG Darmstadt beschäftigen sich mit dieser Frage (einmal auf Anzeige von Richter Mü., einmal auf ein Befangenheitsgesuch von S. M. hin) und bejahen sie. Die StPO und das deutsche Richterbild machen es möglich. Die Vorbefassung eines Richters – unter anderem die Mitwirkung in einem Verfahren gegen andere Tatbeteiligte – sei nach der Rechtsprechung des BGH grundsätzlich kein Ablehnungsgrund, denn Berufsrichter seien in der Lage, sich ihr Urteil allein aufgrund des jeweiligen Verfahrens zu bilden. Anderes gelte ausnahmsweise bei unsachlichen Äußerungen oder vorverurteilenden Werturteilen. Hier lägen solche nicht vor, denn alle Feststellungen zu S. M. im vorherigen Verfahren seien sachlich notwendig für die prozeßordnungsgemäße Verurteilung von G. S. gewesen.

Wer nun denkt, daß es keinen klareren Fall einer Vorverurteilung geben kann als die vorangegangene Äußerung einer festen und sicheren Überzeugung („ohne den Hauch eines Zweifels“) von der Mittäterschaft der nunmehrigen Angeklagten, wird vom LG Darmstadt eines besseren belehrt. Aber nicht nur das: Nachdem S. M. von der Schwurgerichtskammer unter Vorsitz von Richter Mü. tatsächlich wegen mittäterschaftlichen Mordes verurteilt wurde und im Rahmen der Revision die Befangenheitsfrage auch dem BGH gestellt wurde, bestätigte dieser, daß das Landgericht alles richtig gemacht habe (Beschluß vom 10. Februar 2016 – 2 StR 533/14).

Eine Verfassungsbeschwerde hiergegen blieb erfolglos. Dann beschäftigte sich der EGMR mit dem Fall und kam – fünf Jahre später – einstimmig zu dem oben mitgeteilten Ergebnis: Richter Mü. war kein unparteiischer Richter. Das Verfahren war menschenrechtswidrig. Der EGMR verwies auf seine ständige Rechtsprechung, die im Ausgangspunkt mit der des BGH übereinstimmt: Die Vorbefassung eines Richters mit Verfahren gegen andere Tatbeteiligte begründet nicht schon als solche die Besorgnis der fehlenden Unparteilichkeit. Wie der BGH geht der EGMR davon aus, daß jedenfalls Berufsrichter sich in neuen Verfahren von den Eindrücken des alten Verfahrens freimachen können. Wenn im Einzelfall besondere Umstände hinzutreten, ist hingegen die Unparteilichkeit in Frage gestellt. Hier sieht der EGMR im Unterschied zum BGH solche Umstände. Wo genau allerdings die Standpunkte von BGH und EGMR auf Obersatzebene auseinanderlaufen ist, schwer zu sagen. Zum einen referiert der EGMR die Meinung des BGH, daß „die […] Hinweise des Landgerichts auf die feste Überzeugung von der Mittäterschaft der Beschwerdeführerin als Grundlage für die Verurteilung von G. S. notwendig gewesen seien“, stellt dem dann aber ohne weitere Erklärung seine eigene Meinung gegenüber, „dass die rechtliche Würdigung der Handlungen der Beschwerdeführerin über das hinausging, was notwendig war, um die Tat von G. S. rechtlich einzustufen“.

Da der EGMR sicherlich nicht den Anspruch erheben will, besser zu wissen als der BGH, welche Anforderungen das deutsche Strafprozeßrecht an die für eine Verurteilung erforderlichen Urteilsausführungen stellt, kann man vielleicht diesen scheinbaren Widerspruch so auflösen, daß der EGMR unausgesprochen folgendes meint: Eine Auslegung des innerstaatlichen Prozeßrechts ist konventionswidrig, wenn sie das Spannungsverhältnis zwischen strafprozessualen Aufklärungs- und Darlegungsanforderungen auf der einen Seite und dem Recht auf einen unvoreingenommenen Richter auf der anderen Seite schematisch zu Lasten des letzteren löst. Wenn es tatsächlich nicht möglich sein sollte, die ersteren Anforderungen in diesen Fällen angemessen zurückzunehmen, dann muß eben ein Recht auf ein neuen, nicht vorbefaßten Richter gewährt werden.

Wiederaufnahme, ja wieso denn?

Nachdem nun durch den EGMR festgestellt war, daß der menschenrechtliche Anspruch von S. M. auf ein unparteiisches Gericht verletzt worden war, stellte deren Verteidiger Antrag auf Wiederaufnahme des Strafverfahrens. Die seit 1998 hierfür geltende Vorschrift des § 359 Nr. 6 StPO lautet:

Die Wiederaufnahme eines durch rechtskräftiges Urteil abgeschlossenen Verfahrens zugunsten des Verurteilten ist zulässig,
[…]
6. wenn der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte eine Verletzung der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten oder ihrer Protokolle festgestellt hat und das Urteil auf dieser Verletzung beruht.

Die Staatsanwaltschaft trat dem Antrag der Verteidigung bei. Doch sowohl das Landgericht als auch das danach angerufene Oberlandesgericht lehnten den Antrag ab – er wurde bereits wegen Unzulässigkeit verworfen. Die Gerichte sind der Meinung, daß die Verteidigung auch zur zweiten Voraussetzung der Vorschrift Substantiiertes vortragen müsse, also dazu, daß das Urteil des LG Darmstadt auch auf der festgestellten Konventionsverletzung „beruht“. Ausdrücklich das OLG:

Es ist […] Aufgabe der Beschwerdeführerin darzutun, dass Anhaltspunkte vorliegen, aus denen sich ergibt, dass sich der Konventionsverstoß auf die Verurteilung durch das Landgericht Darmstadt ausgewirkt haben kann und also ihre Verurteilung durch das Landgericht Darmstadt bei Beachtung der verletzten Konventionsnorm möglicherweise anders ausgefallen wäre.

Anders wäre es – so LG und OLG weiter -, wenn hier § 338 Nr. 3 StPO entsprechend anwendbar wäre, also im Sinne eines absoluten Revisionsgrundes das Beruhen unwiderleglich zu vermuten wäre. Das sei aber nicht der Fall. Die Gesetzesmaterialien verweisen auf die Vorschrift des § 337 StPO, nicht auf die des § 338 Nr. 3 StPO. Es sei wegen der großen Bedeutung der Rechtskraft „auch nicht sachgerecht, den Rechtsgedanken der Vorschrift des § 338 StPO, nämlich, für schwerwiegende Verfahrensverstöße, bei denen der Kausalitätsnachweis schwer zu führen ist, eine Beruhensvermutung aufzustellen, im Falle des Wiederaufnahmebegehrens entsprechend heranzuziehen. Hier ist vielmehr die Anlegung eines engen Maßstabes, mithin die Feststellung des Beruhens, gefordert.“

Da der Verteidiger über den festgestellten Konventionsverstoß hinaus keine weiteren Tatsachen vorgetragen habe, sei der Antrag unzulässig.

Bevor es um den zentralen Fehler der zu besprechenden OLG-Entscheidung geht, zunächst ein paar Lockerungsübungen: Welche Art von Beruhen, das vom Gericht festzustellen und zunächst vom Antragsteller darzulegen ist, stellt sich das OLG eigentlich vor? Daß das Urteil des LG Darmstadt in einem logischen Sinne auf dem Konventionsverstoß beruht, bedarf keiner weiteren Feststellungen. Der Konventionsverstoß war die Mitwirkung von Richter Mü. und ohne seine Mitwirkung hätte es dieses Urteil in genau dieser Gestalt, nämlich von ihm verkündet und mit seiner Unterschrift unter den Urteilsgründen, nicht gegeben. Der Konventionsverstoß kann also nicht weggedacht werden, ohne daß auch dieses Urteil entfiele. Das OLG meint es natürlich anders: Hätte es ein Urteil mit einem anderen Ergebnis gegeben, wenn Richter Mü. weggedacht und ein anderer Vorsitzender hinzugedacht wird? Das OLG verknüpft also die Befangenheitsfrage mit der Qualität der Wahrheitsermittlung, letztlich mit der Schuldfrage. Dies wird deutlich, wenn es formuliert:

Der Verurteilung liegt eine 23 Tage umfassende Hauptverhandlung zugrunde. Die Kammer hat zahlreiche Zeugen gehört sowie Sachverständige zu kriminaltechnischen und rechtsmedizinischen Fragen; es wurden Urkunden verlesen, Unterlagen und Lichtbilder in Augenschein genommen und Telekommunikationsdaten und Verbindungsnachweise ausgewertet. Die mit den Urteilsgründen getroffenen Feststellungen beruhen auf einer umfangreichen Würdigung der erhobenen Beweise, wobei sich die Beweiswürdigung über 77 Seiten erstreckt.

Demzufolge stellt sich das OLG unter den von ihm vermißten Darlegungen zum Beruhen wohl solche vor, die Unzulänglichkeiten des Verfahrens betreffen, ausgelöst durch eine Voreingenommenheit von Richter Mü., die spezifischer ist als die, die der EGMR hat ausreichen lassen, um das Verfahren als von einem Menschenrechtsverstoß betroffen anzusehen. Das OLG scheint sich damit vorzustellen, daß die Verteidigung in diesem Stadium detektivisch etwas herausfinden sollte, das sie, wenn es ihr früher bekannt gewesen wäre, bereits erfolgreich in der Revision hätte verwenden können.

Mittels der Beruhensklausel scheint damit das OLG die inhaltliche Aussage der EGMR-Entscheidung auf ein mit deutschen Vorstellungen verträglicheres Maß zurückschrauben zu wollen. Bestätigt wird diese Tendenz dadurch, daß das OLG verzerrend behauptet:

Das Urteil des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte enthält indessen nicht die Feststellung, dass die Verurteilung der Beschwerdeführerin auf dem Konventionsverstoß beruht.

Tatsächlich hatte der EGMR geschrieben:

Der Gerichtshof erinnert ferner daran, dass ein höheres oder oberstes Gericht Mängel des erstinstanzlichen Verfahrens unter bestimmten Umständen beseitigen kann ([..]). Allerdings hat der Bundesgerichtshof, der das Urteil des Landgerichts mit der Begründung, dass Letzteres nicht unparteiisch gewesen sei, hätte aufheben können, die Verurteilung der Beschwerdeführerin bestätigt. Folglich hat das höhere Gericht den in Rede stehenden Mangel nicht beseitigt.

Damit gibt der EGMR zu erkennen, daß die Aufhebung des Urteils die menschenrechtlich gebotene Reaktion auf den Verfahrensverstoß gewesen wäre, daß also dieser auf das Urteil als solches durchschlug.

Auch eine grundsätzliche Überlegung zeigt, daß der Ansatz des OLG, an die „Richtigkeit“ der Entscheidung anzuknüpfen, an dem Wesen des hier festgestellten Verfahrensverstoßes vorbeigeht: Ein Strafprozeß ist das, was der Name sagt – ein „Prozeß“. Ein Vorgang mit vielen Variablen, die in ihrem Zusammenspiel bewirken sollen, daß das Ziel der Wahrheitserforschung und richtigen Rechtsanwendung erreicht wird. Das Austauschen einzelner Variablen kann sich – und soll sich gegebenenfalls – auf das Ergebnis auswirken. Der Prozeß hat kein außerhalb seiner Bestandteile vorgegebenes Ergebnis, sondern er schafft es selbst. Die Behauptung, der Austausch einer so zentralen Variablen wie der Person eines Richters sei vorbehaltlich konkrete Anhaltspunkte nicht geeignet, sich auf das Ergebnis auszuwirken, negiert die Eigenschaft einer strafrechtlichen Hauptverhandlung als Prozeß schlechthin.

Auf seine Weise nimmt das Revisionsrecht genau diesen Gedanken auf in der Art und Weise, wie die Revisionsgründe tatsächlich gehandhabt werden – und dies ist der Punkt, wo die OLG-Entscheidung entgleist:

Das OLG legt (wie das LG vor ihm) seiner Entscheidung die Vorstellung zugrunde, im Falle von absoluten Revisionsgründen (wie bei § 338 Nr. 3 StPO, dessen analoge Anwendung abgelehnt wird) handele es sich in Bezug auf das Beruhen um unwiderlegliche Vermutungen, während bei den übrigen auf Verfahrensfehler gestützte Revisionen das Beruhen eigens festgestellt werden müßte. Dem ist aber im allgemeinen Revisionsrecht gerade nicht so. Gemäß ganz einhelliger Praxis gilt auch außerhalb der absoluten Revisionsgründe eine Vermutung für das Beruhen, nur eben keine unwiderlegliche, sondern eine widerlegliche Vermutung. Ausgedrückt wird dies durch Formulierungen wie die folgende (BGH, Urteil vom 23. Juli 2015 – 3 StR 470/14):

Nach ständiger Rechtsprechung beruht ein Urteil auf einem Rechtsfehler, wenn es ohne diesen möglicherweise anders ausgefallen wäre. An einer solchen Möglichkeit fehlt es, wenn ein ursächlicher Zusammenhang mit Sicherheit ausgeschlossen werden kann bzw. rein theoretischer Natur ist. Insbesondere bei Verstößen gegen das Verfahrensrecht hängt die Entscheidung über das Beruhen stark von den Umständen des Einzelfalles ab.

Das heißt, das Beruhen wird ohne weiteres bei Verfahrensverstößen bejaht, wenn nicht das Gericht im Einzelfall, das heißt im Ausnahmefall (BGH, Urteil vom 15. November 1968 – 4 StR 190/68), es sicher ausschließen zu können glaubt.

Wenn das Beruhen die Regel und das Nichtberuhen aufgrund besonderer Umstände die Ausnahme ist, so hat dies – von besonderen Konstellationen abgesehen – in verfahrensrechtlicher Hinsicht zur Folge, daß zum Beruhen auch nichts vorzutragen ist. Eine solche Darlegungsanforderung wäre ja auf Negativa (Nichtvorliegen von Tatsachen) gerichtet, was ganz allgemein eine prozeßrechtliche Anomalie wäre („negativa non sunt probanda“). Auch das ist im Revisionsrecht der StPO ganz allgemeine Auffassung und Praxis (BGH, Urteil vom 24. Juli 1998 – 3 StR 78/98):

Nach § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO ist grundsätzlich nur die Angabe der den Verfahrensmangel selbst enthaltenden Tatsachen, nicht aber die Darlegung des Beruhens vorgeschrieben (RGSt 66, 10, 11; BGH NStZ 1992, 294, 295; Herdegen NStZ 1990, 513, 517).

Eben diese Grundsätze (Beruhen wird vermutet und hierzu muß nicht vorgetragen werden) sind nach den Vorstellungen des Gesetzgebers auch im Rahmen des § 359 Nr. 6 StPO anwendbar (BT-Drs. 13/10333, S. 5):

Der im Wiederaufnahmeverfahren anzuwendende Prüfungsmaßstab entspricht damit den Voraussetzungen, unter denen nach § 337 Abs. 1 der Strafprozeßordnung im Revisionsverfahren eine Verletzung des Gesetzes mit Erfolg gerügt werden kann.

Von eben dieser Prämisse behauptet auch das OLG auszugehen, verkehrt aber gleichzeitig diese Grundsätze für die Wiederaufnahmekonstellation in ihr Gegenteil. Es zitiert sogar die erste Hälfte des allgemeinen Obersatzes an einer Stelle seines Beschlusses („Der Verstoß muss vielmehr für das Urteil kausal sein, wobei ein ursächlicher Zusammenhang bereits anzunehmen ist, wenn das Urteil ohne die Gesetzesverletzung möglicherweise anders ausgefallen wäre.“). Ein paar Absätze weiter behauptet es aber – entgegen dem Revisionsrecht –, es sei eine Feststellung des (positive) Beruhens erforderlich („Hier ist vielmehr die Anlegung eines engen Maßstabes, mithin die Feststellung des Beruhens, gefordert.“), während in Wahrheit nur eine sichere Feststellung des Nichtberuhens durch das Gericht zur Erfolglosigkeit führt.

Es genügt, aus der Fülle der revisionsgerichtlichen Rechtsprechung zur Beruhensfrage ein Beispiel herauszugreifen, um zu illustrieren, wie abwegig die Vorstellungen des OLG Frankfurt sind:

In seinem Urteil vom 30. März 1995 – 4 StR 33/95 – befaßte sich der BGH mit der Verfahrensrüge, daß der Vorsitzende der Strafkammer Rechtsstudenten zu den Beratungen im Beratungszimmer zugelassen hatte. Dies wurde vom BGH als Verfahrensverstoß angesehen, da nach § 193 GVG nur Rechtsreferendare und bestimmte andere ausdrücklich genannte andere Juristen zugelassen werden können. Aber beruhte das Urteil auch auf diesem Fehler? Hierzu der BGH:

Der Senat vermag nicht mit Sicherheit auszuschließen, daß das Urteil auf dem Verstoß gegen § 193 GVG beruht (vgl. OLG Bremen aaO; OLG Karlsruhe NJW 1969, 628, 629): Angesichts der großen Bedeutung, die § 193 GVG für die Freiheit und Unabhängigkeit richterlicher Urteilsfindung zukommt, ist bei Verstößen gegen diese Vorschrift ein besonders strenger Maßstab anzulegen, zumal Vorgänge im Beratungszimmer im allgemeinen nicht nachgeprüft werden können (vgl. BGHSt 18, 165, 167; 331, 332; OLG Koblenz VRS 46, 449, 453). Das Urteil muß daher in vollem Umfang aufgehoben werden.

Man muß es sich auf der Zunge zergehen lassen: Sind Jurastudenten als Zuhörer bei einer Urteilsberatung anwesend, so ist das Beruhen des Urteil auf diesem Verfahrensfehler nach dem allgemeinen Verständnis von § 337 Abs. 1 StPO zu bejahen. Dieselben Grundsätze sollen aber – meint das OLG Frankfurt – zur Verneinung eines Beruhens führen, wenn ein Richter, der gar nicht an dem Verfahren hätte mitwirken dürfen, nicht bloß anwesend ist, sondern die Beratung leitet, mitdiskutiert und mitentscheidet. Das ist bizarr.

Daß die Entscheidung des OLG Frankfurt demnach einfach-rechtlich unhaltbar ist, liegt auf der Hand. Doch was bedeutet das für den vorliegenden Fall und die gegen die Entscheidung anhängige Verfassungsbeschwerde? Das BVerfG prüft Entscheidungen nicht auf ihre einfach-rechtliche Stimmigkeit nach, seine Kontrolle ist verjüngt auf die Beachtung des spezifischen Verfassungsrechts. Neben spezielleren verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten, die hier nicht weiter betrachtet werden sollen, ist das Willkürverbot relevant. Wer das Willkürverbot aufruft, muß sich aber bewußt sein, daß es sich um keinen beliebig einsetzbaren verfassungsrechtlichen Joker handelt. Es ist kein Einfallstor dafür, daß das BVerfG letztlich doch in allen Fragen der richtigen Auslegung des einfachen Rechts mitregieren kann. Eine gängige Umschreibung, wann diese verfassungsrechtliche „Notbremse“ zum Einsatz kommt, ist diese (etwa BVerfG, Beschluß vom 8. Oktober 2015 – 1 BvR 455/14):

Ein Richterspruch verstößt nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts dann gegen den allgemeinen Gleichheitssatz in seiner Ausprägung als Verbot objektiver Willkür (Art. 3 Abs. 1 GG), wenn er unter keinem denkbaren Aspekt rechtlich vertretbar ist und sich daher der Schluss aufdrängt, dass er auf sachfremden Erwägungen beruht. Das ist anhand objektiver Kriterien festzustellen. Schuldhaftes Handeln des Richters ist nicht erforderlich. Fehlerhafte Rechtsanwendung allein macht eine Gerichtsentscheidung nicht objektiv willkürlich. Schlechterdings unhaltbar ist eine fachgerichtliche Entscheidung vielmehr erst dann, wenn eine offensichtlich einschlägige Norm nicht berücksichtigt, der Inhalt einer Norm in krasser Weise missverstanden oder sonst in nicht mehr nachvollziehbarer Weise angewendet wird (vgl. BVerfGE 89, 1 <13 f.>; 96, 189 <203>).

Bei aller Enge des Willkürbegriffs halte ich die Voraussetzung, daß „der Inhalt einer Norm in krasser Weise mißverstanden oder sonst in nicht mehr nachvollziehbarer Weise angewendet“ wurde, bei der Entscheidung des OLG Frankfurt für gegeben. Die Entscheidung erscheint geradezu als Paradefall hierfür. Daß das Gericht den Zugang zu einer Wiederaufnahme unter Heranziehung revisionsrechtlicher Grundsätze versperrt, diese Grundsätze aber im gegenteiligen Sinne der ganz einheitlichen revisionsrechtlichen Praxis anwendet, stellt eine in krasser Weise nicht mehr nachvollziehbare Normanwendung dar.

Zitiervorschlag für diesen Beitrag:
https://blog.delegibus.com/5097

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