De legibus-Blog

25. Juli 2021

Wenn der Populismus an die Tür der Justiz klopft

Oliver García

Cum/ex ist wieder in aller Munde. Zwei Ereignisse markieren die Saison: Der BGH wird nächsten Mittwoch erstmals über diesen – angeblich – „größten Steuerraubzug in der deutschen Geschichte“ urteilen (1 StR 519/20). Und vor zwei Wochen wurde – auf Bitten der Generalstaatsanwaltschaft Frankfurt am Main – der Mann in der Schweiz verhaftet, der als Architekt von Cum/ex gilt. Die Rolle des Danny Ocean bei diesem „Steuerraubzug“ ist Hanno Berger zugedacht, bis vor etwa zehn Jahren einer der renommiertesten deutschen Steueranwälte und davor ranghoher hessischer Steuerbeamter.

In diesem Beitrag bespreche ich eine – auf zwei Beschlüsse verteilte – Entscheidung des OLG Frankfurt, die möglicherweise – oder auch doch nicht – dieser Verhaftung zugrunde liegt. Als ich den Beitrag vorzubereiten begann, da war Berger noch auf freiem Fuß. Auch ohne den Aktualitätsschub ist die Entscheidung wert, sich mit ihr als denkwürdigem Schauspiel näher zu beschäftigen. Manche würden sie vielleicht als „ausbrechenden Rechtsakt“ bezeichnen, aber dazu später mehr.

Im Hinblick auf diese vielleicht stark anmutenden einleitenden Formulierungen vorab nur der Hinweis, daß zwischenzeitlich erschienene Literaturäußerungen sprachlich noch weiter gehen (RiBGH Mosbacher, NJW 2021, 1916: „… wirkt, als würde hier nicht das Recht, sondern nur die Macht sprechen“, „richterliche Beliebigkeit und Willkür“; Redaktion, FD-StrafR 2021, 437690: „willkürliche Anwendung deutschen Rechts“, möglicherweise „kein fairer Prozess in Deutschland“; RA Sartorius, DStR 2021, 1597: „‘willkürliche Anwendung deutschen Rechts‘ noch vornehm formuliert“). Dabei befassen sich diese Entscheidungsbesprechungen im wesentlichen nur mit einem Ausschnitt, nämlich der materiell-rechtlichen Seite der Entscheidung. In diesem Beitrag versuche ich ihre darüber hinausgehende Problematik, die aus meiner Sicht vor allem in der Form und den verfahrensrechtlichen Mitteln liegt, aufzufächern. Ich würde fast sagen, daß gegenüber diesen ihre – schwerwiegenden – materiell-rechtlichen Mängel wie ein Hintergrundrauschen anmuten.

Kein Artikel über Cum/ex, der nicht wenigstens kurz beschreibt, was das ist. Um die Gefahr gering zu halten, daß bei den Lesern, deren Interesse für den Finanzmarkt und das Steuerrecht sich in Grenzen hält, die Augen schnell glasig werden, hier in äußerster Kürze: Es geht um Leergeschäfte mit Aktien, die – in der Regel gezielt – um den Dividendenstichtag herum eingegangen und ausgeführt wurden. Leergeschäfte sind eine Form des Wertpapierhandels, bei welcher der Verkäufer die Papiere verkauft, noch bevor er sie erworben hat; er muß sich also nachträglich mit ihnen eindecken. Liegt zwischen Verkauf und Ausführung des Geschäfts eine Dividendenausschüttung, so ist ein Teilwert der zu liefernden Aktien in der Dividende verkörpert (wer einmal am Aktienmarkt gespielt – oder ernsthaft investiert – hat, kennt das Prinzip: Am Tag der Ausschüttung verringert sich der Kurs typischerweise in ebendieser Höhe). Der Leerverkäufer muß zusätzlich zur Aktienübereignung noch den Wert der Dividende vergüten. Beteiligt an dem Geschäft ist auch der Fiskus in Form eines steuerlichen Einbehalts eines Teils der Dividende. Ein Gesetzesmechanismus, dessen Reichweite nun streitig ist, führte dabei dazu, daß es in bestimmten Fällen zu einer doppelten Rückerstattung des Steuereinbehalts kommen konnte. Dabei handelte es sich um einen Automatismus, es sei denn – was nicht geschah – ein Beteiligter sagte gegenüber der Finanzbehörde: „Halt! Mein Antrag beruht auf meiner Gesetzesauslegung. Vielleicht habe ich gar keinen Anspruch. Prüfen Sie noch einmal selbst.“ Aufgrund dieses Mechanismus soll es zu Doppelerstattungen in Milliardenhöhe gekommen sein (wobei ein großer Teil inzwischen – nach steuerlichen Sanierungsarbeiten – wieder zurückgeflossen sein dürfte).

Es handelte sich bei diesen geschäftlichen Gestaltungen, die ganz auf diese steuerrechtliche Lücke ausgerichtet waren, um Luftgeschäfte. Sie hatten aus sich heraus keinen weiteren wirtschaftlichen Zweck und Nutzen. Sie dienten keiner Wertschöpfung, waren unproduktiv. Luftgeschäfte in diesem Sinne mögen manchen bereits als anstößig erscheinen, doch für sich genommen sind sie unspektakulär, gehören sogar mit zum Wesen des Börsenhandels. Als Extrembeispiel sei nur der Hochfrequenzhandel genannt.

Das börsentypische Prinzip, in den vorgefundenen Abläufen Lücken und Hebel für Gewinne zu finden, wurde mit Cum/ex ins Steuerrecht verlängert. Auch das ist nicht per se ein Mißbrauch. Steueroptimierungen als solche sind kein Ausnahme-, sondern Normalfall. Hier haben wir allerdings den Fall, daß die steuerliche Optimierung dazu führte, daß vom Finanzamt Beträge „erstattet“ wurden, die nie gezahlt wurden. Daß ein Mechanismus, der so etwas ermöglicht, eine Fehlkonstruktion ist, versteht sich von selbst. Intuitiver geht’s nicht.

Dieser Befund ist aber nur der Ausgangspunkt, nicht bereits das Ergebnis einer rechtlichen (steuer- und strafrechtlichen) Beurteilung. Das Ausnutzen tatsächlich bestehender Lücken ist nicht unerlaubt und schon gar nicht strafbar. Wenn der Gesetzgeber beispielsweise sehenden Auges – zugunsten der Gesamtstimmigkeit eines Systems – Lücken und Fehlkonstruktionen im Gesetz läßt, in der später widerlegten Erwartung, sie würden nur in geringfügigem Umfang zu falschen Ergebnissen führen, dann kippt nicht bloß aufgrund des schieren Umfangs der Ausnutzung dieser Lücken erlaubtes in unerlaubtes Verhalten. Dann ist es Sache des Gesetzgebers, die Lücken zu schließen.

Es gibt Anzeichen, daß hier ein solcher Fall vorliegt. Das wäre ein Thema für sich, nicht das hiesige Thema der Besprechung einer OLG-Haftentscheidung. Ein paar Punkte gleichwohl: Wäre alles so einfach, wie viele versuchen glauben zu machen, so wäre schon der gewaltige argumentative Aufwand unverständlich, den Finanz- und Strafgerichte treiben, um zu einer Unzulässigkeit bzw. Strafbarkeit des Verhaltens zu kommen. Wäre das Problem tatsächlich ein Wissensdefizit bei den Finanzbehörden, nicht die gesetzliche Konstruktion als solche, so hätte nahegelegen, zumindest bei den ersten Anzeichen einer größeren Mißbrauchsgefahr, in das Gesetz die Kautel aufzunehmen, daß die Rückerstattungsanträge mit bestimmten Erklärungen zu verbinden sind, daß nicht diese und jene Gestaltung zugrunde liegt. Das hätte die Grenze zwischen erlaubt und unerlaubt klar definiert. Man hat so etwas versucht, ist aber bald wieder davon abgekommen, weil das System dadurch an anderen Ecken wieder knirschte. Das Steuerrecht ist nun einmal ein Teil des jeweiligen Systems, aus dem die Steuern gewonnen werden soll. Übrigens ist ein Teil der Gelder, die (sachlich ungerechtfertigt) durch die Ausnutzung der Lücke abgeflossen sind, überhaupt erst hereingeflossen durch Besteuerung von Luftgeschäften.

Die nüchterne Abgrenzungsfrage zwischen erlaubt und unerlaubt (und damit möglicherweise auch strafbar) wurde ab etwa Mitte des letzten Jahrzehnts überlagert durch eine aufpeitschende Berichterstattung in den Medien. Während frühe Aufmacher wie „Milliarden für Millionäre – Wie der Staat unser Geld an Reiche verschenkt“ und „Milliardengeschenke für Superreiche“ noch in die Richtung eines politisch zu verantwortenden Konstruktionsfehlers wiesen, begann sich der Fokus langsam auf andere „Täter“ zu verschieben: „Milliarden aus der Staatskasse: Die Steuerräuber“, „Finanzmafia“. Politiker und Beamte der hohen Steuerbürokratie – froh, daß der Zorn der Medien seine Hauptzielscheibe woanders gefunden hat – stimmen gerne ein – nach dem Motto „Haltet den Dieb“. Das oben zitierte Schlagwort vom „räuberischen Griff in die Staatskasse“, vom „größten Steuerraubzug“ aller Zeiten begann sich zu konsolidieren. Das Schöne: Die in der Finanzmarktkrise und der Eurokrise aufgestauten Ressentiments gegen ein Finanzmilieu mit schlecht faßbarer individueller Verantwortlichkeit durften sich nun auf bestimmte Personen, echte Schurken, gerecht entladen.

Es ist bezeichnend, daß bereits frühe Aufsätze in der Rechtsliteratur, die vehement für die Meinung warben, alles sei klar rechtswidrig und strafbar, an die Spitze ihrer Erörterung die Presseberichterstattung mit den genannten Schlagworten stellten, wie Spengel/Eisgruber, DStR 2015, 785. Das tut natürlich der Qualität der juristischen Erörterung keinen Abbruch, ebensowenig wie der Umstand, daß im genannten Beispiel einer der Koautoren Referatsleiter im bayerischen Finanzministerium ist (natürlich nur seine private Meinung vertretend). Erwähnenswert ist dies aber vor dem Hintergrund, daß der bis dahin gegenteiligen Meinung in der Literatur nun mehr oder weniger offen vorgeworfen wird, sie sei von den Nutznießern der Cum/ex-Geschäfte gesteuert gewesen.

Ein aktuelles Beispiel der von den Massenmedien vorangetriebenen Dämonisierung der Cum/ex-Geschäfte ist der Kommentar eines Autors der Süddeutschen Zeitung, der sich darüber ärgert, daß der frühere Generalbevollmächtigte der Warburg-Bank „nur“ zu 5 Jahren Gefängnis verurteilt wurde („Zu milde“ – „ein beunruhigendes Signal“). Die von der Staatsanwaltschaft beantragten 10 Jahre wären so schön gewesen – wohl auch als Krönung eines langjährigen journalistischen Engagements. Irgendwelche besonderen Beanstandungen zu den konkreten Strafzumessungserwägungen des Gerichts oder eine Einordung in das allgemeine Strafniveau teilt der Autor nicht mit – außer eine: Besonders ärgerlich findet er („ausgerechnet“), daß dem Angeklagten sein fortgeschrittenes Alter (77 Jahre) zugute gehalten wurde. Ein solcher Pressekommentar bleibt dem Niveau von „Hängt sie höher, die Schurken!“ verhaftet.

Was ich mit all dem sagen will, ist nicht, daß ich überzeugt wäre, die Cum/ex-Geschäfte wären straflos gewesen. Ich wäre weder überrascht noch enttäuscht, wenn der BGH nächsten Mittwoch das Urteil des LG Bonn im wesentlichen bestätigt. Was ich sagen will, ist, daß die Rechtslage nicht so einfach ist, wie die dämonisierende Medienberichterstattung glauben machen will. Und vor allem, daß eine (bis zu einem gewissen Punkt auch notwendige) Vereinfachung und Popularisierung durch die Massenmedien für die Beurteilung durch die Justiz nicht Richtschnur sein darf.

Darüber hinaus sollte sich die Justiz aber auch vor der – vielleicht unbewußten – Versuchung hüten, das Pendel in Richtung Strafbarkeit deshalb ausschlagen zu lassen, weil nur so die sachlich ungerechtfertigten Zahlungen zurück erlangt werden können – nämlich nach steuerrechtlicher Verjährung über den Weg der strafrechtlichen Gewinnabschöpfung.

Übrigens hat der BGH wohl unfreiwillig durchsickern lassen, daß er bezüglich der Angeklagten zu unterschiedlichen Ergebnisse kommen dürfte, was gegen eine Verneinung der Strafbarkeit spricht (kürzlich veröffentlichter Beschluß vom 1. Juli 2021 – 1 StR 519/20 – zur beschränkten Kameraöffentlichkeit). Dann müssen die BGH-Richter – angesichts der bei einem Freispruch zu erwartenden Medienresonanz – auch nicht unter Polizeischutz gestellt werden.

Nun aber endlich zum eigentlichen Thema:

Wenn Richter Schnappatmung bekommen

Dem mit Fackeln und Heugabeln vorgetragenen Wunsch „Hängt sie höher“ ist das OLG Frankfurt auf seine Art gefolgt, indem es sie – die Delikte – tatsächlich höher gehängt hat: Nach seinem Haftbeschwerdebeschluß vom 9. März 2021 – 2 Ws 132/20 – in der Begründung ergänzt durch Gehörsrügebeschluß vom 6. Mai 2021 – sind die Cum/ex-Fälle nicht mehr nur als Steuerhinterziehung zu verfolgen, sondern auch als Betrug, und zwar in der Form des gewerbsmäßigen Bandenbetrugs.

Dazu, wie die Entscheidung inhaltlich einzuordnen ist, habe ich oben schon ein paar Zitate gebracht. Ich werde später darauf zurückkommen. Zunächst soll es um etwas anderes gehen: Selbst für den Fall, daß die Entscheidung in ihrer strafrechtlichen Auslegungsarbeit irgendwo zwischen grundsolide und juristischem Geniestreich anzusiedeln wäre, wäre sie immer noch eine rechtsstaatliche Blamage, und zwar aufgrund ihrer Sprache.

Ich kann mich nicht erinnern, jemals eine obergerichtliche Entscheidung gelesen zu haben so voller Gift und Galle wie diese. Die Richter lassen nicht nur jedes Maß richterlicher Zurückhaltung vermissen, sondern überraschen, je mehr man liest, mit immer neuen Unterschreitungen.

Bande, Beute, Handlanger, Lügengebäude – das sind die Begriffe, von denen der Senat nicht genug bekommen kann, und die er streckenweise in jedem zweiten Satz auswirft. Wer nun einwendet: Nun ja, in einer Entscheidung, in der es darum geht, ob es sich um einen Bandenbetrug handelt, darf man sich über das Vorkommen des Wortes Bande nicht wundern. Das ist richtig. Am Ende einer mehr oder weniger stringenten Subsumtion zu dem Ergebnis zu kommen „Ja, ein Bandenbetrug – wer hätte das gedacht?“ ist völlig in Ordnung. Ebenso das Ergebnis einmal vorwegzunehmen („Urteilsstil“). Doch auf dem Weg zu diesem Ergebnis fortlaufend und mantraartig die Begriffe zu verwenden, deren Richtigkeit man (bestenfalls) begründen will, ist in hohem Maße unseriös. Zum Vergleich: Sollte ich im Verlauf dieses Beitrags (der noch viele weitere problematische Punkte abdeckt) zu dem Ergebnis kommen, aufgrund der Vielzahl der Auffälligkeiten bestehe der hinreichende Tatverdacht einer Rechtsbeugung, so wäre der Beitrag unabhängig von der Qualität seiner Argumente nicht ernstzunehmen, wenn ihn ihm von Anfang an und in hoher Frequenz statt von „OLG Frankfurt“ oder „der Senat“ von „die Rechtsbeuger“ die Rede wäre. Er würde zu Recht als aufgeregtes Geschrei gesehen werden. Damit niemand nervös wird: Ich werde – trotz aller Auffälligkeiten – nicht zu dem Ergebnis kommen, daß „der Senat“ Rechtsbeugung begangen hat. Die (allerdings unklaren) Kriterien der Staatsanwaltschaft Jena – womit ich auf meinen vorigen Beitrag verweise – gelten nicht.

Daß der Senat die genannten Begriffe so penetrant einstreut – wie um sich fortlaufend selbst anzufeuern – ist nur die Spitze des Eisbergs. Die fehlende professionelle Distanz zum Gegenstand kommt vor allem darin zum Ausdruck, daß der Senat entweder nie etwas von der Unschuldsvermutung (Art. 6 Abs. 2 MRK) gehört oder sie in der Aufregung vergessen hat. Die Angeklagten werden ausdrücklich als Täter und Schuldige behandelt und bezeichnet. Es fällt zwar an einigen Stellen routinemäßig das Wort vom (dringenden) „Tatverdacht“, aber nicht in der Weise und in dem Maße, die erforderlich wären, all die mit dem Brustton der Überzeugung gemachten Ausführungen zu relativieren, daß und warum die Angeklagten „Anfang und Ende des banden- und gewerbsmäßigen Betrugssystems“ sind, sich „von ihrem Streben nach ihrem persönlichen Vorteil in besonders anstößigem Maße leiten“ ließen und „den deutschen Steuerzahler um ca. 113 Mio. betrogen und zumindest Teile der Tatbeute außer Landes gebracht“ haben.

Um es klar zu stellen: Es geht nicht darum, Worte auf die Goldwaage zu legen. In einem Strafverfahren ist es unvermeidlich, Personen mit Straftaten in Verbindung zu bringen. Vorwürfe zu erheben und sie zu untersuchen, ist sein Zweck. Je nach Kontext versteht es sich von selbst, daß solche Vorwürfe bis zum Urteil unter dem Generalvorbehalt stehen, daß es sich um Hypothesen handelt. Dabei kommt es auch auf die Prozeßrollen an. Bei Äußerungen des Staatsanwalts oder – in Systemen, wo es diese Figur gibt – des Untersuchungsrichters wird dieser Vorbehalt ohnehin regelmäßig mitzudenken sein. Beim erkennenden Gericht oder einem Beschwerdegericht ist es nicht so einfach. Sie müssen ihrer Rolle als unparteiisches Gericht (Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MRK) gerecht werden und Vorverurteilungen sowie deren Anschein gerade vermeiden. In den Worten des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (Urteil vom 27. Februar 2014 – 17103/10):

„Die Unschuldsvermutung wird verletzt, wenn eine Gerichtsentscheidung oder eine Äußerung eines Amtsträgers im Hinblick auf eine einer Straftat angeklagte Person die Meinung widerspiegelt, die Person sei schuldig, obwohl der gesetzliche Beweis ihrer Schuld noch nicht erbracht wurde. Grundsätzlich muss unterschieden werden zwischen einer Äußerung, nach der jemand der Begehung einer Straftat nur verdächtig ist, und einer eindeutigen Erklärung – jedoch ohne rechtskräftige Verurteilung-, dass die Person die in Rede stehende Straftat begangen hat. Der Gerichtshof hat in diesem Zusammenhang die Bedeutung betont, die der Wortwahl von Amtsträgern bei Äußerungen zukommt, die diese tätigen, bevor eine Person wegen einer bestimmten Straftat verurteilt worden ist.“

Gibt demnach die Wortwahl den Ausschlag, so haben wir es hier nach meiner Meinung mit einer Verletzung der Unschuldsvermutung zu tun, wie sie kaum eindeutiger sein könnte. Es fängt bereits mit der Äußerlichkeit an, daß der Senat die Schilderung des Vorgehens der Angeklagten als Tatsachen und ihre Einordnung als Straftaten in den Teil der Prozeßgeschichte plaziert. Der für die eigentliche rechtliche Beurteilung vorgesehene Teil fängt erst in der Mitte an (bei „IV. Die Beschwerde ist gemäß § 304 StPO statthaft und zulässig, jedoch unbegründet.“), nachdem das Feuerwerk schon abgebrannt ist.

An keiner Stelle wird die Überzeugung des Senats, daß es sich hier um das „größte Betrugssystem in der Geschichte der Bundesrepublik“ handele (diese und die weiteren Formulierungen nun aus dem Mai-Beschluß) auch nur annähernd relativiert und als Möglichkeit behandelt, die im Rahmen einer Hauptverhandlung gerade zu untersuchen sein wird. Im Gegenteil: Mit dem „vorliegenden komplexen Betrugssystem“ haben die Angeklagten einen „‘beispiellosen Steuerraubzug‘ mittels Griffs in die öffentlichen Kassen zum Nachteil des deutschen Steuerzahlers veranlasst“ – stellt nicht etwa die Süddeutsche Zeitung fest, sondern amtlich das OLG Frankfurt. Außerdem weiß der Senat – vielleicht ein bißchen unsicher geworden hinsichtlich seiner Idee mit dem Betrugstatbestand – eines genau über § 370 Abs. 3 Nr. 1 AO: „Eine Strafbarkeit nach dieser Vorschrift ist auf jeden Fall gegeben.

Wem es bei diesen Beispielen – die Reihe ließe sich fortsetzen – zu begründen gelingt, es liege hier im Sinne der EGMR-Rechtsprechung doch keine eindeutige Behauptung vor, die Angeklagten hätten die verhandelten Taten begangen, dem gebührt ein Preis für sprachliche Innovationsfähigkeit. Einen Spielraum, hier noch etwas gesundzubeten, gibt es nach meiner Überzeugung nicht.

Die Frage ist auch praktisch relevant. Denn aus denselben Gründen haben sich die drei Richter des OLG-Senats für jede weitere künftige Befassung mit diesem Verfahren verbrannt. Es ist schlicht nicht vorstellbar, daß im Rahmen etwaiger künftiger Beschwerden eine Befangenheitsablehnung dieser Richter ohne Erfolg bleibt. Und dabei sind wir an dieser Stelle noch nicht einmal bei der Hälfte der problematischen Punkte der Entscheidung.

In diesem Abschnitt geht es nur um sprachliche Auffälligkeiten. Sie setzen sich fort. In seinem ungebremsten Belastungseifer geht der Senat – sachlich völlig unnötig – so weit, sogar Strafzumessungserwägungen anzustellen. Er stellt fest: Nicht nur handele es sich um eine Betrügerbande, sondern die Angeklagten ließen sich von ihrem Streben nach persönlichem Vorteil auch „in besonders anstößigem Maße“ leiten, indem sie eine Gesellschaft errichteten, um ihre Taten durchzuführen. Hoppla, wäre das – als Teil eines Urteils gedacht – kein Verstoß gegen § 46 Abs. 3 StGB? Oder wollte der Senat einfach nur noch einmal klarstellen, wie angewidert er wirklich von den Taten ist?

Weiter fallen die Beschlüsse in ihrer gehäuften Verwendung von Zeitungssprache auf: „Der deutsche Steuerzahler“ wurde betrogen. Auch der „beispiellose Steuerraubzug“ und der „Griff in die öffentlichen Kassen zum Nachteil des deutschen Steuerzahlers“ dürfen nicht fehlen. Noch einmal etwas strukturierter im Mai-Beschluß in der Abgrenzung zur Steuerhinterziehung: Der Geschädigte ist „der Fiskus – mithin die steuerzahlenden Bürger des Landes“ – da könnte man überlegen, ob nicht alle mit dem Fall befaßten (steuerzahlenden) deutschen Richter gemäß § 22 Nr. 1 StPO ausgeschlossen sind (zum Vergleich: BGH, Beschluß vom 24. März 2009 – 5 StR 394/08: Ausschluß aller BGH-Richter, die in Berlin Grundeigentum haben, in einem Betrugsfall).

Neben Zeitungssprache auch BGB-Sprache: Mehrmals beharrt der Senat darauf, daß die Angeklagten „arglistig“ getäuscht hätten. Einmal meint er sogar, „Arglist“ definieren zu müssen. Der Arglistbegriff ist im Zusammenhang mit dem strafrechtlichen Betrugstatbestand ganz ungebräuchlich. Er spielt dort keine Rolle. Weil ich mich darüber gewundert habe, habe ich den Punkt durch eine Rechtsprechungsrecherche noch einmal überprüft. Die Zusammenstellung von Betrug oder § 263 StGB und Arglist kommt – außer in den beiden Frankfurter Beschlüssen – praktisch nur bei Zitaten von Laien und in vereinzelten zivilgerichtlichen Entscheidungen vor.

Nach mehreren Stellen wie dieser habe ich mich unwillkürlich bei der Lektüre der Beschlüsse gefragt, ob sie überhaupt von Volljuristen geschrieben wurden. Doch was die „Arglist“ betrifft, ist dann doch noch der Groschen gefallen: Diese Begrifflichkeit ist dem schweizerischen Betrugstatbestand entnommen.

Nun ist es wirklich keine scharfsinnige Enthüllung, daß die beiden Beschlüsse ganz auf ein schweizerisches Publikum ausgerichtet sind. Daß es sich weniger um Haftbeschlüsse als um Auslieferung-Ermöglichungs-Beschlüsse handelt, will der Senat auch gar nicht verheimlichen. Mündet doch der März-Beschluß gerade in die Anweisung an die Staatsanwaltschaft und die Strafkammer, nunmehr – aufgrund der neuen rechtlichen Qualifikationen – die Auslieferung von Berger aus der Schweiz zu betreiben (und sein Vermögen festsetzen zu lassen). Und doch zeigt das Detail, zu diesem Zweck einer deutschen Strafnorm schweizerische Begrifflichkeit überzustülpen, aufs Schönste, daß wir hier mehr vor einer Inszenierung stehen als vor einer ernstgemeinten Strafrechtsanwendung.

Wir sind immer noch beim Thema Sprache und hierzu gehört auch folgendes Zitat aus dem Mai-Beschluß:

Dass der Betrug und dabei insbesondere der Verbrechenstatbestand des § 263 Abs. 5 StGB nicht durch die Abgabenordnung verdrängt wird, wie der Angeklagte A vertritt, hat ersichtlich keinen rechtlichen Hintergrund, sondern ist alleine dadurch begründet, dass er damit vermeintlich die Regelungen des Auslieferungsübereinkommens mit [der Schweiz] unterlaufen will.

Dieser Satz ist mehrfach sprachlich verunglückt, so daß es schwer fällt, überhaupt einen Sinn herauszuschälen. Offenbar will der Senat sagen, Berger wehre sich gegen die (neuartige) Theorie des Senats über das Verhältnis von Steuerhinterziehung und Betrug nur deshalb, weil er seine Auslieferung verhindern will und nicht um die Strafrechtsdogmatik zu schützen. Dieser bissig formulierte Vorwurf wäre schon für sich genommen schief, doch vollends grotesk ist dieser Satz, weil der Senat durch ihn – insoweit doch richtig formuliert (Freudscher Versprecher) – präzise sein eigenes Vorgehen beschreibt: Seine Rechtsauslegung hat „ersichtlich keinen rechtlichen Hintergrund“ und ist nur dafür da, die Auslieferungsschranken für Steuerdelikte zu „unterlaufen“. Hoppla – habe ich da gerade Rechtsbeugung durch die drei OLG-Richter behauptet? Nein. Jedem Richter steht es zu, größere und kleinere Rechtsprechungsänderungen anzustoßen, wenn er es für sachlich gerechtfertigt und methodisch vertretbar hält. Das gilt gleichermaßen für die Zuständigkeit von Familiengerichten in Kindesschutzverfahren, für die Frage, ob das Hanf freigegeben werden muß und dafür, ob das Konkurrenzverhältnis zwischen Deliktsgruppen neu justiert werden sollte. Richterliche Querdenker darf und soll es geben. Ob im Vordergrund die Freude an der stringenteren juristischen Begründung oder profan das Interesse am praktisch brauchbareren Ergebnis steht, kann nicht den Ausschlag geben. Das heißt für die Rechtsbeugungsfrage. Für die rechtliche Überzeugungskraft natürlich schon.

Wenn Richter das Strafrecht umschreiben

Ging es im vorigen Abschnitt vor allem um Stil und Sprache, nun zur strafrechtlichen Methode. Da zu diesem Punkt bereits die drei oben zitierten Besprechungen vorliegen, ist es nicht nötig, lange Rechtsprechungsketten aufzufahren. In die Beschlüsse des OLG genau hineinzuschauen lohnt sich aber, denn es trägt erstaunliche Details zutage:

Der Senat hat also – aus gegebenem Anlaß – entschieden, daß das bisher einhellige und als selbstverständlich praktizierte Gesetzesverständnis, wonach der Steuerhinterziehungstatbestand (§ 370 AO) den Betrugstatbestand (§ 263 StGB) vollständig verdrängt (BGH, Urteil vom 1. Februar 1989 – 3 StR 179/88; Beschluss vom 23. März 1994 – 5 StR 91/94), nicht gilt. Beide Tatbestände können gleichzeitig erfüllt sein und das ist hier der Fall. Die Fachwelt staunt und reibt sich ungläubig die Augen. Die Entscheidung bricht mit einer seit 27 Jahren restlos geklärten Rechtsprechung, so geklärt, daß man in kleineren Kommentaren im Abschnitt „Konkurrenzen“ nicht einmal mehr lesen kann, daß es überhaupt ein Abgrenzungsproblem geben könnte. Nicht staunen durfte – nach Meinung des Senats in seinem Mai-Beschluß – hingegen der Angeklagte. Es liege keine Überraschungsentscheidung vor. Deshalb war seine Anhörungsrüge unbegründet.

Im März-Beschluß, der diese Entdeckung in die Welt setzte, findet sich nicht einmal ansatzweise eine Begründung. Daß Strafbarkeit auch im „Kernstrafrecht“ gegeben sei (Hinweis auf das Auslieferungsrecht) wird apodiktisch behauptet. Mit leicht triumphierendem Unterton wird dem Angeklagten/Beschwerdeführer lediglich mitgeteilt, daß er „übersehe“, daß seine Taten auch gewerbsmäßiger Bandenbetrug seien und sein Vertrauen, in der Schweiz vor Auslieferung sicher zu sein, deshalb ein Irrtum sei.

Erst auf die Gehörsrüge hin, im Mai-Beschluß, beginnt der Senat das strafrechtliche Besteck auszupacken und setzt sich mit der Rechtsprechung und Gesetzesmaterialien auseinander. Dabei bringen die Richter es aber nicht über sich, die Karten auf den Tisch zu legen und etwa zu schreiben: Ja, wir weichen aus diesen und jenen Gründen von der bisherigen Rechtsprechungslinie ab. Statt dessen halten sie die Kulisse aufrecht – aus welchen Gründen auch immer (halten sie ihr Schweizer Publikum für so unkundig?) – und behaupten, ihre Auslegung sei „nahezu selbstverständlich“. Sie gehen sogar so weit zu erklären, ihr Ergebnis stehe „im Einklang mit der langjährigen Rechtsprechung des BGH“. Kurios die Begründung dafür: Zum einen behauptet der Senat, Betrug „könne“ nicht einmal verdrängt werden und beruft sich dafür auf eine exotische BGH-Entscheidung aus dem Jahr 1978 zum Schwangerschaftsabbruch. Sodann belehrt der Senat, daß der Angeklagte deshalb nicht überrascht sein dürfte, weil es BGH-Entscheidungen aus den Jahren 1972 und 1985 gebe. Schließlich kommt er dann doch noch auf die oben genannten Grundsatzentscheidungen, mit der auch für Grenzbereiche die frühere Rechtsprechung explizit aufgegeben wurde. Statt die Unvereinbarkeit mit dieser – in der Folgezeit unangefochtene – Auslegung einzugestehen, kommt die erstaunlichste Volte:

Der Senat stellt allen Ernstes die Argumentation an, der BGH sei vom ausschließenden Vorrang der Steuerhinterziehung nur deshalb ausgegangen, weil es sich in diesen Fällen (Grundsatzentscheidungen von 1989 und 1994) um indirekte Steuern (Umsatzsteuer) gehandelt habe und es für diese in § 370 Abs. 3 Nr. 5 AO eine Spezialregelung gebe. Dies liege der Beurteilung des BGH „zugrunde“, darauf „rekurriere“ er. Das muß man sich auf der Zunge zergehen lassen: Der Umstand, daß es für Umsatzsteuerhinterziehung ein Regelbeispiel für bandenmäßige Begehung gibt, das die Tat vom Vergehen zu einem besonders schweren Fall eines Vergehens hochstufen kann, soll bewirken, daß sonstige bandenmäßige Steuerhinterziehung (hier: Einkommensteuer) bei sonst gleicher Begehungsweise über den Betrugstatbestand zwingend (kein Regelbeispiel) zum Verbrechen hochgestuft wird. Das stellt die Auslegungsmethode des Erst-recht-Schlusses geradewegs auf den Kopf. Aber damit nicht genug: Die Behauptung, der BGH hätte § 370 Abs. 3 Nr. 5 AO seinen Entscheidungen „zugrunde gelegt“ und darauf „rekurriert“, ist frei erfunden. Der BGH konnte dies schon deshalb nicht, weil es diese Bestimmung – oder irgendeine sonstige Bestimmung dieses Sinnes – weder im Jahr 1989 noch im Jahr 1994 gab. Auch der Sache nach findet sich von der behaupteten Unterscheidung beim BGH keine Spur. Er argumentiert ganz anders, und zwar grundsätzlicher, warum § 263 StGB nicht anwendbar ist.

Jemand, der die Spur „Rechtsbeugung durch die drei OLG-Richter“ verfolgen sollte – ich tue es nicht -, würde an dieser Stelle vielleicht sagen: Es macht die Sache für die Verdächtigen nicht besser, daß sich ihr Alibi als Fälschung herausstellt.

Das Muster setzt sich fort, wo sich der Senat auf Gesetzesmaterialien beruft: Für seine Behauptung, seine Lösung werde „durch die gesetzgeberische Einordnung bestätigt“, führt er ausgerechnet das Gesetzgebungsverfahren an, in dem auf die Meinung des BGH reagiert wurde, der Tatbestand der gewerbsmäßigen oder bandenmäßigen Steuerhinterziehung (§ 370a AO) sei wegen Unbestimmtheit verfassungswidrig (BGH, Beschluss vom 22. Juli 2004 – 5 StR 85/04). Eben die Rechtslage, die der Senat über die Hintertür wieder einführen will, wurde durch Aufhebung dieser Vorschrift beendet, wobei u.a. eine engere, hier nicht einschlägige Norm, der schon erwähnte § 370 Abs. 3 Nr. 5 AO, eingeführt wurde. Der Senat behauptet allerdings unter Nennung einer Drucksachenfundstelle (BT-Drucksache 16/5846, S. 74), dem Gesetzgeber sei es nicht darum gegangen, andere Bandentaten nicht mehr zu pönalisieren (gemeint: nicht mehr besonders zu erfassen). Doch in der Fundstelle ist davon nirgends die Rede, auch auf den Folgeseiten nicht. Im Gegenteil: In der Drucksache wird dieser Punkt im umgekehrten Sinne erörtert, nämlich dadurch, daß der Bundesrat gegen die Beschränkung der Höherstufung für bandenmäßige Begehung auf Umsatz- und Verbrauchssteuern ausführlich Bedenken anmeldete (BT-Drucksache 16/5846, S. 89) und forderte, daß diese Einschränkung entfällt. Er konnte sich mit diesem Wunsch nicht durchsetzen (wiederum ausführlich die Gegenäußerung der Bundesregierung, Seite 97). Der Bundesrat hätte sich nicht träumen lassen, daß 14 Jahre später das OLG Frankfurt seinen Wunsch nicht nur erfüllen, sondern weit darüber hinausgehen würde – und das nicht trotz, sondern angeblich wegen der einschränkenden Norm. Wieder gelingt es dem Senat, en passant die Gesetzesauslegungsregeln auf den Kopf zu stellen.

Wenn Richter zuviel entscheiden

Nach Sprache und Inhalt nun etwas zum Verfahren: Eine Besonderheit der Entscheidung ist, daß der Senat zu seiner Höherstufung der angeklagten Taten nicht durch einen Antrag der Staatsanwaltschaft, sondern auf eine Haftbeschwerde des Angeklagten selbst gelangt ist. Ein klassisches Eigentor also. Da stellt sich die Frage: Geht das eigentlich? Gibt es nicht ein Verböserungsverbot, ein Verbot der reformatio in peius? Der Senat sagt zu diesem Punkt nichts, außer daß er – in seinem Maibeschluß – eine Formulierung verwendet, die man als schadenfreudiges „selbst schuld!“ deuten kann („so dass der Senat vor dem Hintergrund der vom Angeklagten selbst beantragten Haftbeschwerde eine vollumfängliche Prüfung und rechtliche Bewertung vornehmen konnte und auch musste“).

Auch wenn in einer Verfahrensordnung kein ausdrückliches Verböserungsverbot steht, so ergibt es sich häufig aus seiner Natur: In einem Antragsverfahren (wie hier) im Unterschied zu einem Verfahren, das von Amts wegen in Gang kommen kann, wird die Reichweite der möglichen Entscheidung grundsätzlich durch das Petitum, also das Rechtsschutzziel des Antragstellers abgesteckt. Davon abzuweichen ist begründungsbedürftig. Im Unterschied zum OLG Frankfurt hat das OLG München dies in einem kürzlich von ihm entschiedenen Fall zumindest erörtert (Beschluß vom 31. Mai 2021 – 1 Ws 305/21). Es führt aus, es sei nach den „allgemeinen Vorschriften über die Beschwerde“ zulässig, Tatvorwürfe und Haftgründe eines Haftbefehls auszuwechseln. Dies gelte jedenfalls, wenn sich die Änderung – wie im dortigen Fall und auch dem des OLG Frankfurt – innerhalb derselben prozessualen Tat im Sinne des § 264 StGB bewege. Das Verbot der reformatio in peius gelte insoweit nicht. Rechtliches Gehör sei aber zu gewähren (a.M. hier das OLG Frankfurt).

Eine echte Begründung liefert das OLG München dafür auch nicht, aber das Problembewußtsein war da – im Unterschied zum OLG Frankfurt. Ich denke, die Position des OLG München – und damit auch die des OLG Frankfurt – ist in Ordnung, und zwar aus einem überraschend simplen Grund, den das OLG München nicht angesprochen hat:

Das Verböserungsverbot ist für die Berufung ausdrücklich in § 331 StPO geregelt, für die Revision in § 358 Abs. 2 StPO: Das Urteil darf zum Nachteil des Angeklagten, der allein das Rechtsmittel eingelegt hat, nicht „in Art und Höhe der Rechtsfolgen“ geändert werden. Das bedeutet – und wird auch so gehandhabt -, daß es im Strafausspruch durchaus zu seinem Nachteil geändert werden darf. Nur die Rechtsfolgen bleiben gedeckelt. Das Rechtsmittelgericht kann bei einem Fehler der Vorinstanz das Urteil dadurch korrigieren, daß es eine falsche durch die richtige rechtliche Qualifikation – auch eine schwerwiegendere – ersetzt. Wenn dies aber im wichtigsten Fall für das Verbot der reformatio in peius, in seinem Kernanwendungsbereich, gilt, dann wäre es verwunderlich, wenn es im Vorfeld, im Fall einer Beschwerde nicht gelten dürfte.

Das ist also das erste und so ziemlich auch einzige Häkchen, das man beim OLG Frankfurt setzen kann. Denn richtig wird das verfahrensrechtliche Vorgehen des Senats auch in diesem Punkt dadurch nicht. Es gibt einen wesentlichen Unterschied zwischen Konstellationen wie der des OLG München und dem Vorgehen des OLG Frankfurt: Jenes beschränkte sich auf entscheidungserhebliche Punkte, während das OLG Frankfurt es von vornherein darauf angelegt hat, über die eigentlich zur Entscheidung stehende Frage (ist der Haftbefehl aufzuheben oder nicht?) hinauszugehen. Wie der Senat zur Genüge selbst klargestellt hat („Eine Strafbarkeit nach [§ 370 Abs. 3 Nr. 1 AO] ist auf jeden Fall gegeben.“), wäre nach seiner Meinung die Haftbeschwerde in jedem Fall zurückzuweisen gewesen, ohne daß es ansatzweise auf seine neuen strafrechtlichen Theorien und seine Aufschreie der Empörung ankam.

Auch wenn man anerkennt, ein Gericht dürfte auch einmal ein Verfahren „kapern“, um andere Zwecke zu verfolgen (hier: Einmal etwas Grundsätzliches klarstellen und/oder mit einem Geistesblitz eine Auslieferung herbeizuführen), so würden die Beschlüsse selbst insoweit weit über das Nötige hinausgehen.

Das ist nicht allein eine Frage der Prozeßökonomie und gehört auch nicht allein dem oben erörterten Bereich „Stil und Sprache“ an. So weit über das Petitum hinausgehende Erörterungen sind ein eigenständiges Kriterium für die schon angesprochene Frage einer Besorgnis der Befangenheit. Gerade jüngst hat das BVerfG einen Fall entschieden, in dem diese Besorgnis auch als Verletzung des Rechts auf den gesetzlichen Richters behandelt wurde; das BVerfG hat dabei darauf abgehoben, daß der Richters auch deshalb nicht mehr als unvoreingenommen gelten könnte, weil er massiv sein Prüfprogramm überschritten und weit über den entscheidungstragenden Teil hinaus (vom BVerfG sogar prozentual ausgedrückt: 85% zu 15%) räsoniert hat (BVerfG, Beschluß vom 1. Juli 2021 – 2 BvR 890/20).

Wenn Richter übergriffig werden

Das Zuviel-Entscheiden des Senats geht aber noch weiter. Wir kommen nun vollends an einen Punkt, wo man die berühmte Checkliste des VGH Bayern für „ausbrechende Rechtsakte“ in die Hand nehmen kann.

Unter Punkt VII. seines März-Beschlusses erteilt der Senat der Strafkammer und der Generalstaatsanwaltschaft Frankfurt am Main eine Reihe von Anweisungen. Die Haftbefehle seien neu zu fassen. Die Schweiz sei um Auslieferung zu ersuchen wegen der „Straftaten aus dem Kernstrafrecht“. Und es sei in der Schweiz („kleinen Rechtshilfe“) Vermögensarrest in Höhe von 113 Mio. zu veranlassen.

Ersichtlich stellt sich der Senat tatsächlich vor, mit bindender Wirkung gegenüber den Adressaten solche Anweisungen aussprechen zu können. Bei der im Befehlston vorgetragenen Auflistung handelt es sich, auch wenn sie nicht im Tenor steht, schon sprachlich nicht um „Segelanweisungen“, also gut gemeinte Hinweise, welche Schlüsse die Staatsanwaltschaft und Kammer nun in eigener Verantwortung aus den rechtlichen Erkenntnissen des Senats ziehen können. Damit übernimmt er die Regie in diesem Strafverfahren, ohne daß eine Befugnisnorm dafür ersichtlich wäre. Im Gegenteil: Die Vorgehensweise verstößt gegen Grundprinzipien des Strafverfahrensrechts.

Beginnen wir mit einer allgemeinen Frage: Ist es im Beschwerdeverfahren überhaupt möglich, daß das Beschwerdegericht der Unterinstanz bindend eine Rechtsauffassung vorschreiben kann? Schon das wird problematisiert, da es an einer § 358 Abs. 1 StPO entsprechenden Regelung fehlt. In einem Beschluß vom 18. Juni 2002 (4 Ws 222/02) setzte sich das OLG Düsseldorf mit der Frage ausführlich auseinander. Entgegen der (zumindest damaligen) herrschenden Literaturmeinung, die eine Bindung kategorisch ablehnte, bejahte das OLG sie in analoger Anwendung von § 358 Abs. 1 StPO für die damalige Konstellation. Die Konstellation war, daß die angegriffene Entscheidung als rechtsfehlerhaft aufzuheben war, aber der Sachverhalt noch nicht geklärt genug dafür war, daß das Beschwerdegericht eine eigene Entscheidung treffen konnte (wie es im Beschwerdeverfahren der Regelfall ist). Wenn das Beschwerdegericht zur besseren Sachaufklärung zurückverweist, dann kann es, so das OLG Düsseldorf, dies auch mit bindender Wirkung tun. Dem ist sicher zuzustimmen, da es sich aus der Rechtsschutzfunktion der Beschwerde ergibt. Andernfalls gäbe es eine unnötige Verfahrensverzögerung, im Extremfall eine Ping-pong-Situation.

Diese Konstellation ist mit der hiesigen Situation nicht vergleichbar, da das OLG versucht, in den Kernbereich der Zuständigkeit der Strafkammer hineinzuregieren. Ein Beschwerdegericht kann das erkennende Gericht nicht anweisen, in der Auslegung einer Strafnorm zu einem bestimmten Ergebnis und damit zu einer Verurteilung (oder Nicht-Verurteilung) zu kommen. Diese Entscheidung ist nach dem System der Strafprozeßordnung dem erkennenden Gericht, hier der Strafkammer, überlassen, solange nicht das zuständige Revisionsgericht die Rechtsfrage in einem bestimmten Sinne klärt (§ 358 Abs. 1 StPO). Dieses Prinzip kommt zum einen zum Ausdruck durch § 264 Abs. 2 StPO: Zwar kann das Beschwerdegericht eine Strafbarkeit, die das Ausgangsgericht verneint hatte, bejahen und selbst das Hauptverfahren eröffnen (§ 210 Abs. 2 und 3 StPO). Bei Meinungsverschiedenheiten kann es so ggf. eine Klärung durch das Revisionsgericht herbeiführen. Eine Verpflichtung des erkennenden Gerichts, entgegen der eigenen Auslegung eine Strafbarkeit zu bejahen, ist ausgeschlossen. Es gibt im geltenden Strafprozeßrecht kein Schuldinterlokut (und gäbe es eines, wäre es gewiß nicht beim Beschwerdegericht angesiedelt).

Der Vorrang der Einschätzung des erkennenden Gerichts in diesem Punkt vor dem Beschwerdegericht kommt aber auch in § 120 Abs. 1 Satz 2 StPO zum Ausdruck: Danach ist der Haftbefehl zwingend aufzuheben, wenn der Angeklagte freigesprochen wird. Das gilt beispielsweise auch bei einem „knappen Freispruch“, wenn zwar eine Mehrheit der Richter auf Schuldig erkannt hat, aber die nötige Zwei-Drittel-Mehrheit verfehlt wurde. Dann kann weder die Berufsrichter-Rumpfkammer, in der eine bequeme anderslautende Mehrheit besteht, noch das Beschwerdegericht in der Hoffnung auf ein anderes Ergebnis in der Revisionsinstanz den Angeklagten solange in Haft halten (siehe etwas OLG Hamm, Beschluß vom 19. Juli 2007 – 4 Ws 297/07, mit der für möglich erachteten Ausnahme bei offensichtlich begründeter Revision). Der Umstand, daß das erkennende Gericht in seiner Entscheidung frei ist und es in der Hand hat, durch Freispruch die Sperrwirkung des § 120 Abs. 1 Satz 2 StPO herbeizuführen, bewirkt, daß auch im Vorfeld des Urteils das Beschwerdegericht keine Haft anordnen kann aufgrund einer Rechtsauslegung, die das erkennende Gericht gerade nicht vertritt (vgl. BGH, Beschluß vom 19. Dezember 2003, StB 21/03, dort bezogen auf den Tatverdacht). Erst recht kann das Beschwerdegericht dem erkennenden Gericht auch keine Anweisungen erteilen, aus einer Rechtsauslegung Konsequenzen für die Schuldfrage zu ziehen, die es nicht teilt.

Der Senat überschreitet daher mit solchen Anweisungen an die Strafkammer eklatant seine Kompetenzen. Wo er die Berechtigung herleitet, der Generalstaatsanwaltschaft Aufträge zu erteilen, bleibt ebenfalls im Dunkeln. Das Beschwerdegericht ist keine übergeordnete Stelle der Staatsanwaltschaft. Die Staatsanwaltschaft ist eine gegenüber den Gerichten selbständige Behörde. Als „Wächter des Gesetzes“ soll sie gerade auch gegenüber den Gerichten auf die Einhaltung des Gesetzes achten (BVerfG, Urteil vom 19. März 2013 – 2 BvR 2628/10, Rn. 93). Damit ist es von vornherein unvereinbar, daß sie außerhalb von gesetzlich geregelten Fällen Anweisungen von Gerichten entgegennimmt.

Schließlich wird der Kompetenzüberschreitung durch den Senat dadurch die Krone aufgesetzt, daß er sie auch noch auf einen Angeklagten erstreckt, der gar nicht am Beschwerdeverfahren beteiligt war. Insoweit wird deutlich, daß der Senat gar nicht als Gericht innerhalb eines geordneten Verfahrens entschieden hat, sondern versucht, als selbstberufene Ermittlungsbehörde die Zügel des Verfahrens zu übernehmen.

Wenn Richter die Rechnung ohne den Wirt machen

Es ist, wie gesagt, keine scharfsinnige Enthüllung, sondern wird vom Senat selbst freimütig offengelegt, daß die Entscheidung in allen ihren bemerkenswerten Elementen auf den Willen ausgerichtet ist, Hanno Berger aus der Schweiz herauszubekommen. Wille und Vorstellung machen aber nicht immer die Welt. Im vorliegenden Fall haben die drei OLG-Richter etwas Entscheidendes übersehen. Sie haben die Rechnung ohne den Wirt gemacht. Der Wirt ist das Auslieferungsrecht.

Um den auslieferungsrechtlichen Grundsatz der Spezialität ging es in diesem Blog bereits mehrfach (so in den Beiträgen „Puigdemont wird so bald nicht ausgeliefert“ und „Zehn Jahre Gefängnis wegen Lesens eines BGH-Beschlusses„). Auch hier spielt er eine wichtige Rolle. Er bedeutet im Kern, daß nach Durchführung einer Auslieferung die Gerichte des ersuchenden Staates nur in dem Umfang verurteilen dürfen, wie es der ausliefernde Staat bewilligt hat. Auf die Feinheiten soll es hier nicht ankommen (die Auswirkungen dieses Prinzips im einzelnen Fall sind nicht immer ganz trennscharf). Jedenfalls führt das Prinzip im vorliegenden Fall dazu, daß ein etwaiger Plan, den Angeklagten wegen Straftat A ausliefern zu lassen und dann, hat man ihn einmal, wegen Straftat B zu verurteilen, nicht aufgehen kann. Die Schweiz wird eine etwaige Auslieferung mit der Bedingung versehen, daß nur für Straftat A verurteilt werden darf. Diese Bedingung ist von den deutschen Gerichten zu beachten (§ 72 IRG).

Hier geht das OLG Frankfurt ausdrücklich von dem Verständnis aus, daß eine Auslieferung wegen des fiskalischen Delikts der Steuerhinterziehung von der Schweiz nicht zu erreichen ist, wegen des Betrugsstraftatbestands jedoch schon („Kernstrafrecht“). Ob diese Annahme nicht ihrerseits ein Irrtum ist, darum wird es im letzten Abschnitt gehen. Die Annahme, diese Einschränkung durch eine Neuqualifikation umgehen zu können, ist in jedem Fall ein Irrtum. Ein solcher Versuch muß ins Leere gehen. Sartorius kommentiert in DStR 2021, 1597 das Vorgehen des OLG Frankfurt so: Der Zweck heiligt nicht die Mittel. Man kann ergänzen: Die unheiligen und heillosen Mittel sind zwecklos.

Wenn Richter zuwenig entscheiden

An diesem Punkt bietet der Fall die Gelegenheit, ein allgemeines Defizit des deutschen Prozeßrechts anzusprechen, das bislang zu wenig – wenn überhaupt – diskutiert worden ist und hier exemplarisch aufgezeigt werden kann.

Als vorletzte Woche Hanno Berger in der Schweiz verhaftet wurde, geschah dies allein aufgrund eines Ersuchens der Generalstaatsanwaltschaft Frankfurt am Main. Die Strafkammer war, obwohl – wie oben angesprochen – „Herrin des Hauptverfahrens“, in diesen Vorgang nicht eingebunden. Das hat mir die Pressestelle der Generalstaatsanwaltschaft bestätigt (übrigens war das Ersuchen bereits vor den Beschlüssen des OLG Frankfurt gestellt; diese wurden dann nachgereicht). Dieses Vorgehen entspricht auch den gesetzlichen Vorgaben.

Es ist fraglich, ob dieses Prozedere beim jetzigen Stand der Rechtsentwicklung noch als vereinbar mit Art. 104 Abs. 2 Satz 1 GG angesehen werden kann. Diese Verfassungsbestimmung lautet: „Über die Zulässigkeit und Fortdauer einer Freiheitsentziehung hat nur der Richter zu entscheiden.“

Bekanntlich hat es in diesem Punkt im Bereich des Europäischen Haftbefehls (der hier nicht einschlägig ist, da die Schweiz nicht zur EU gehört) Bewegung gegeben. Der EuGH hat mit Urteil vom 27. Mai 2019 – C-508/18 – die Praxis, daß in Deutschland Europäische Haftbefehle von der Staatsanwaltschaft ausgestellt wurden, für unvereinbar mit dem zugrundeliegenden Rahmenbeschluß bezeichnet. Ausstellungsberechtigte Justizbehörde müßte entweder ein Gericht sein oder eine Justizbehörde, die insoweit von der Exekutive unabhängig ist. Bei deutschen Staatsanwaltschaften war das – und ist es bis auf weiteres – wegen §§ 146, 147 GVG nicht der Fall.

Seit dieser Entscheidung werden in Deutschland Europäische Haftbefehle von den Gerichten ausgestellt (OLG Zweibrücken, 11. Juli 2019 – 1 Ws 203/19; OLG Frankfurt, Beschluß vom 12. September 2019 – 2 Ws 60/19). Daß dies, solange es keine gesetzliche Neuregelung gibt, auf eine generalklauselartige Bestimmung gestützt wird, ist nach dem Beschluß des BVerfG vom 28. September 2020 – 2 BvR 1435/20 – verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden.

Auf gesetzgeberischer Ebene geht die Tendenz aber dahin, zum alten Zustand zurückzukehren, also die Staatsanwaltschaft wieder zuständig zu machen, und dabei den Anforderungen des EuGH dadurch zu genügen, daß die Weisungsabhängigkeit vom Minister punktuell – also genau für dieses Geschäft – gesetzlich aufgehoben wird (Referentenentwurf vom 11. Januar 2021). Der weitergehende Wunsch, die Weisungsabhängigkeit ganz abzuschaffen, wie vor allem von den Grünen, der FDP, der AfD und den staatsanwaltlichen Berufsverbänden immer wieder gefordert (was ich – dies ganz nebenbei – mit dem Deutschen Anwaltsverein und der Bundesrechtsanwaltskammer für einen Irrweg halte), soll bei dieser Gelegenheit nicht erfüllt werden.

Was allerdings bei all dem nicht ausreichend bedacht wird – und anhand eines Falles wie dem vorliegenden illustriert werden kann – ist, daß die Anforderungen aus Art. 104 Abs. 2 Satz 1 GG richtig besehen eigentlich weitergehen als die Anforderungen des EuGH. Weder das EU-Recht noch die über die Grundrechtscharta auch in das EU-Recht wirkende Europäische Menschenrechtskonvention kennen einen solchen strengen Richtervorbehalt wie den in Art. 104 Abs. 2 Satz 1 GG.

In meinem Beitrag aus dem Jahr 2015 „Die Fernsteuerung deutscher Amtsgerichte durch die ägyptische Regierung“ habe ich bereits – unter Berufung auf eine wenig beachtete BVerfG-Entscheidung – den Umstand problematisiert, daß bei eingehenden Auslieferungsersuchen die Verhaftung des Betroffenen praktisch ein Automatismus ist – nach dem Motto „Erst schießen, dann fragen“. Das heißt, ausländische Stellen – es müssen nicht unbedingt Gerichte sein – können durch das bloße Übermitteln eines Festnahme- oder Auslieferungsersuchens effektiv für mindestens ein paar Tage (bis der Rauch sich gelegt hat und das Oberlandesgericht die Akten studiert hat) jemandem die Freiheit entziehen.

Hier nun der umgekehrte Fall: Deutsche Staatsanwaltschaften können außerhalb des Bereichs des Europäischen Haftbefehls – und gemäß Gesetzentwurf demnächst auch wieder in diesem Bereich – aufgrund einer eigenverantwortlichen Entscheidung die Verhaftung einer Person im Ausland durch die dortige Exekutive auslösen, welche – wenn überhaupt – erst mit einiger Verzögerung durch ein dortiges Gericht überprüft wird. Und auch dann legt das ausländische Gericht natürlich nur das dortige Recht der Prüfung zugrunde und nicht das deutsche.

Daß der Richtervorbehalt des Art. 104 Abs. 2 Satz 1 GG für diesen Fall nicht gelte, weil es sich ja um eine Freiheitsentziehung durch ausländische Hoheitsgewalt handele, halte ich für kein überzeugendes Argument in einem Fall, wo eine deutsche Stelle – die Staatsanwaltschaft – gerade mit dem Ziel einer Verhaftung einen Automatismus auslöst, der dieses Ziel erreicht. Daß die Bindungskraft der Grundrechte auch gilt, wenn die Grundrechtsbeeinträchtigung durch deutsches hoheitliches Handeln im Ausland eintritt, gehört eigentlich zum kleinen Einmaleins der Grundrechtslehre.

Erst recht kein Argument ist die Erwägung, daß den Festnahme- und Auslieferungsersuchen ja reguläre deutsche Haftbefehle zugrundeliegen, die von den zuständigen deutschen Gerichten erlassen wurden (im Vorverfahren durch den Ermittlungsrichter, danach – wie hier – durch das erkennende Gericht). Denn es geht genau darum, daß die rechtlichen Voraussetzungen für das Stellen eines Festnahme- oder Auslieferungsersuchen und die des innerstaatlich wirkenden Haftbefehls auseinanderlaufen können. Dies fängt schon damit an, ob die Beschreitung dieses Weges verhältnismäßig ist im Hinblick auf die möglichen Umstände einer Verhaftung im fremden Staat und den dortigen Haftbedingungen (ein Umstand, der für den vorliegenden Fall der Schweiz allerdings weniger einer Rolle spielt).

Der Umstand, daß unterschiedliche rechtliche Prüfungen anzustellen sind, hat das BVerfG denn auch dazu bewogen, im Jahr 1979 mit der bisherigen Vorstellung zu brechen, daß für eine Zwangsvollstreckung in einer Wohnung der (Durchsuchungs-)Richtervorbehalt nicht gelte, weil ja mit dem Titel schon eine richterliche Entscheidung vorliege (BVerfG, Beschluß vom 3. April 1979 – 1 BvR 994/76).

Daß die Verneinung eines Richtervorbehalts für den Verhaftungsmechanismus im Ausland nicht stimmen kann, läßt sich anhand des vorliegenden Falles gut illustrieren: Nehmen wir an, die Vorstellungen des OLG Frankfurt gehen zur Hälfte auf, also die Schweizer Stellen bewilligen die Auslieferung gerade deshalb, weil das OLG „Betrug“ gesagt hat. Dann werden sie, wie gesagt, diese Bewilligung mit der Bedingung verbinden, daß das LG Wiesbaden auch nur wegen Betrugs verurteilen darf. Der Angeklagte wird also – nach monatelanger Haft, während die Sache durch die Instanzen geht – überstellt. Was passiert dann? Dem LG Wiesbaden wird nichts anderes übrigbleiben, als sofort nach der Überstellung die Freilassung des Angeklagten anzuordnen. Denn aufgrund der richtigen Gesetzesauslegung, der das LG auch folgt (die Möglichkeit, daß die vom OLG gewünschte Rechtsprechungsänderung beim BGH durchkommt, geht gegen Null), weiß das LG, daß eine Verurteilung wegen Betrugs nicht in Frage kommt. Eine Verurteilung wegen Steuerhinterziehung kommt aber wegen der bindenden schweizerischen Bedingung auch nicht Frage. Es gibt also keine rechtsstaatliche Grundlage für eine Inhaftierung in Deutschland (eine Haft ist nach Art. 14 des Europäischen Auslieferungsübereinkommen nur zulässig in dem Umfang wie eine Verurteilung zulässig wäre). Das heißt, das ganze Auslieferungsverfahren, einschließlich der monatelangen Auslieferungshaft in der Schweiz, war umsonst. Und es war von vornherein umsonst, wenn man die – wie oben gesagt – allein maßgebliche Rechtsauffassung des Landgerichts zugrundelegt.

Diese Konstellation zeigt – und viele weitere andere Konstellationen, in denen sich über die Haftbefehlsfrage hinausgehende auslieferungsrechtliche Fragen stellen, zeigen -, daß es unter Grundrechtsgesichtspunkten von vornherein falsch ist, von der Staatsanwaltschaft entscheiden zu lassen, ob ein bestehender Haftbefehl im Wege des Auslieferungsverkehrs aktiviert werden soll.

Deshalb marschiert die geplante Gesetzesänderung rechtsstaatlich in die falsche Richtung. Der Status quo bei Europäischen Haftbefehlen (die Gerichte sind zuständig) sollte auf alle Fälle ausgedehnt werden. Nur das entspricht meiner Meinung nach Art. 104 Abs. 2 Satz 1 GG. Zwar hat das BVerfG im Jahr 1981 die Frage schon einmal behandelt und sie verneint (Beschluss vom 25.03.1981 – 2 BvR 1258/79). Doch in den letzten 15 Jahren ist die Sensibilität des BVerfG in Auslieferungsfragen eine ganz andere geworden (siehe dazu den Beitrag „Die Menschenwürde des Angeklagten und die nationale Identität des Königreichs Spanien„). Vielleicht bekommt das BVerfG noch einmal Gelegenheit, sich unter diesen neuen Vorzeichen mit der Frage zu befassen, wenn ein im Ausland Inhaftierter gerichtlich gegen das zugrundeliegende Festnahmeersuchen der Staatsanwaltschaft vorgeht.

Wenn Angeklagte nach allem doch ausgeliefert werden

Wie oben besprochen, haben die drei OLG-Richter allem Anschein nach die Konsequenzen des auslieferungsrechtlichen Spezialitätsgrundsatzes nicht bedacht. Damit nicht genug: Dieser Grundsatz dient seinerseits der Absicherung des Prinzips der beiderseitigen Strafbarkeit. Schon hierzu beruht die Frankfurter Entscheidung auf einem Mißverständnis.

Die Auslieferung setzt nach Art. 2 Abs. 1 des Europäischen Auslieferungsübereinkommen grundsätzlich voraus, daß die Handlung, auf die sich die Strafverfolgung bezieht, sowohl im ersuchenden als auch dem ersuchten Staat strafbar ist. Gibt es einen Ausschluß der Auslieferung für bestimmte Delikte (die Schweiz liefert nicht wegen Steuerdelikten aus), so muß die beiderseitige Strafbarkeit außerhalb dieser Delikte gegeben sein. Der Senat versucht nun, die erforderliche Deckungsgleichheit herzustellen, indem er zu einer neuen Qualifikation der Handlung auf deutscher Seite kommt.

Dieses Unterfangen war müßig, denn für die beiderseitige Strafbarkeit kommt es grundsätzlich nicht darauf an, wie die Straftatbestände heißen, sondern darauf, daß eine Strafbarkeit für den konkreten Sachverhalts überhaupt auf beiden Seiten bejaht werden kann. Hier haben wir die Besonderheit, daß Taten, die im deutschen Recht Steuerhinterziehung sind, auch wenn sie „typisch betrügerisch“ begangen werden, im schweizerischen Recht als („gemeinrechtlicher“) Betrug eingeordnet werden können. Da Betrug auslieferungsfähiges Delikt ist (es kommt aus Schweizer Sicht nur auf die dortige Qualifikation an, nicht auf die deutsche), ist in vielen Fällen trotz des Steuerzusammenhangs die Auslieferung möglich und wird auch praktiziert (Bundesgericht, Urteil vom 13. Januar 2006 – 1A.297/2005).

Ob eine Auslieferung hier nun tatsächlich zulässig ist, prüfen die schweizerischen Stellen. Die genaue Qualifikation im deutschen Recht ist ihnen dabei herzlich egal; sie nehmen die Subsumtion vor, ob die Tat, als schweizerischer Sachverhalt gedacht, nach schweizerischem Recht ein (auslieferungsfähiger) gemeinrechtlicher Betrug wäre (vgl. Bundesstrafgericht, Entscheid vom 12. Mai 2020 –RR.2020.20). Die Frage werden sie nicht „Pi mal Daumen“ beantworten, sondern im Prinzip voll durchprüfen (siehe dazu „Puigdemont wird so bald nicht ausgeliefert“ und die Entscheidung des OLG Schleswig vom 5. April 2018 – 1 Ausl (A) 18/18). Neben gemeinrechtlichem Betrug und Straflosigkeit nach Schweizer Recht kommt auch Abgabenbetrug in Betracht, der wiederum nicht auslieferungsfähig ist (wohl aber Raum für eine „kleine Rechtshilfe“ läßt). Offenbar hat das im ersten Zugriff zuständige schweizerische Bundesamt für Justiz in einer ersten Prüfung eine Strafbarkeit als gemeinrechtlicher Betrug bejaht und deshalb einen Auslieferungshaftbefehl erlassen (übrigens nicht ein Richter, was die unter „Wenn Richter zuwenig entscheiden“ beschriebene Problematik unterstreicht). Das letzte Wort werden aber – voraussichtlich – die Gerichte haben (Bundesstrafgericht und ggf. Bundesgericht).

Der Senat des OLG Frankfurt hatte zwar den „richtigen Riecher“ (was seine Versuche, die deutsche Norm mit Schweizer Begrifflichkeit aufzufüllen, belegen) und doch gehen alle seine Bemühungen ins Leere, denn die beiderseitige Strafbarkeit liegt entweder bereits vor oder sie liegt nicht vor und dann ändert sich auch nichts dadurch, daß der Senat das deutsche Strafrecht neu verföhnt. Dies ist, nach all dem Aufwand, all dem Budenzauber, die eigentliche Tragik der Frankfurter Entscheidung.

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