Gegen die Verurteilung des „Buchhalters von Ausschwitz“ Oskar Gröning zu vier Jahren Freiheitsstrafe (LG Lüneburg, Urteil vom 15. Juli 2015 – 27 Ks 9/14) ist Revision eingelegt worden – (noch) nicht vom Angeklagten oder der Staatsanwaltschaft (die dreieinhalb Jahre beantragt hatte), sondern von einigen Nebenklägern. Sie wollen erreichen, daß der ehemalige SS-Mann nicht nur wegen Beihilfe zum Mord, sondern als Mörder verurteilt wird. Gerichtsreporterin Gisela Friedrichsen erklärte dazu gestern schneidend: „Eine Verurteilung wegen Mordes ist unmöglich“ (im Seitentitel sogar: „Revision ist Unsinn“). In der Tat ist kaum vorstellbar, daß dieses Ziel erreichbar ist, wenn man die Rechtsprechung zur Abgrenzung zwischen Täterschaft und Teilnahme im Allgemeinen und die Rechtsprechung zu NS-Verbrechen im Besonderen kennt. Was steckt also dahinter?
Zunächst einmal kann Anwalt Andreas Schulz (der bisher an dem Verfahren nicht beteiligt gewesen zu sein scheint) gar nicht anders, als diese Fahrkarte zu ziehen, wenn er den Fall, dem Wunsch seiner Mandanten gemäß, vor den BGH bringen will. Nach § 400 Abs. 1 StPO wäre eine Revision, die nur zum Ziel hat, eine höhere Bestrafung zu erreichen, von vornherein unzulässig. Das Gesetz „zwingt“ Schulz also, die nächste Leitersprosse der Strafbarkeit ins Spiel zu bringen. So kann Schulz selbst in dem wahrscheinlichen Fall der Zurückweisung der Revision erreichen, daß der BGH die Verurteilung von Gröning wegen Beihilfe zum Mord bestätigt. Das wäre die erste BGH-Entscheidung zur neuen Rechtsprechungslinie von Vernichtungslager-Personal „der zweiten Reihe“, die mit der Anklage und Verurteilung von John Demjanjuk (LG München II, Urteil vom 12. Mai 2011 – 1 Ks 115 Js 12496/08) einsetzte, und eine Absicherung derselben (zu gerade anlaufenden Verfahren gegen SS-Greise in Dortmund, Hannover und Neubrandenburg siehe Fahl, Möglichkeiten und Grenzen der späten Ahndung von Teilnahmehandlungen in Auschwitz, HRRS 2015, 210). Das Strafverfahren gegen Demjanjuk ist vom BGH eingestellt worden, weil er vor der Entscheidung über die Revision gestorben ist (Heger: „Wer früher stirbt, ist länger unschuldig“).
Die Kehrseite der Revision ist, daß auch im Fall Gröning die Verurteilung frühestens rechtskräftig wird, wenn der BGH entscheidet (oder die Revision zurückgenommen wird). Sollte Gröning bis dahin sterben, wird er genauso unschuldig bleiben wie Demjanjuk (womit übrigens auch die Erstattungsansprüche aller Nebenkläger entfallen). Aber das ist nur eine der Gefahren, die Schulz in Kauf nimmt: Seine Revision kann nach hinten losgehen und dafür sorgen, daß Gröning freigesprochen wird. Nach § 301 StPO prüft das Revisionsgericht nämlich auch bei einer zuungunsten des Angeklagten eingelegten Revision, ob das Urteil Fehler zu seinen Lasten enthält (dazu, daß dies auch bei einer Nebenklagerevision gilt: BGH, Urteil vom 19. März 1986 – 2 StR 38/86). Unwahrscheinlich ist ein solcher Ausgang nicht, immerhin wurde nach der bisherigen höchstrichterlichen Rechtsprechung eine Beteiligung wie die des „Buchhalters“ als nicht strafbar angesehen, weswegen ja auch in den letzten Jahrzehnten, bis eine neue Juristengeneration herangewachsen ist, die Betreffenden nicht angeklagt wurden (ein Strafverfahren gegen Gröning war 1985 bei demselben Kenntnisstand von der StA Frankfurt/Main eingestellt worden). Grundlage der bisherigen Linie ist das Revisionsurteil zum Frankfurter Ausschwitzprozeß, in dem der BGH den bereits erstinstanzlich erfolgten Freispruch des SS-Zahnarztes Willi Schatz bestätigte (Urteil vom 20. Februar 1969 – 2 StR 280/67):
Die bloße Zugehörigkeit des freigesprochenen Angeklagten Dr. Schatz zum Lagerpersonal und seine Kenntnis von dem Vernichtungszweck des Lagers reichen nach allem nicht aus, ihm die während seines Lageraufenthalts begangenen Tötungen zuzurechnen. Von dem konkreten Anklagevorwurf, als SS-Zahnarzt Selektionen auf der Rampe durchgeführt und das Einwerfen des Giftgases in die Gaskammer überwacht zu haben, hat ihn das Schwurgericht ohne Rechtsfehler mangels Beweises freigesprochen. In der Ausübung seiner eigentlichen Tätigkeit im Lager, der zahnärztlichen Behandlung des SS-Personals, kann objektiv und subjektiv keine Beihilfe zu den Tötungshandlungen gesehen werden.
Das waren noch andere Zeiten. Während es im Westdeutschland der 60er, 70er und – ja – 80er Jahre Mut und Standhaftigkeit erforderte, entgegen der gesamtgesellschaftlich vorherrschenden Schlußstrichmentalität ein NS-Verfahren auf den Weg zu bringen, ist dafür heute nicht einmal ein Mütchen erforderlich. Damals, als fast jeder Dreck am Stecken hatte und ein Erz-Nazi wie Eduard Dreher als „Mitläufer“ galt und an die Schaltstellen des Strafrechts gesetzt wurde (Referatsleiter im BMJ und StGB-Kommentator – Schwarz … Dreher … Tröndle … Fischer), mußte es nicht verwundern, wenn das LG Bochum „den Angeklagten der Beihilfe zum Mord an mindestens 15.000 jüdischen Menschen schuldig gesprochen, jedoch gemäß § 47 Abs. 2 des früheren Militärstrafgesetzbuches von Strafe abgesehen“ hat (aufgehoben durch Urteil des BGH vom 10. Mai 1968 – 4 StR 572/67). Ebensowenig die Argumentation des LG Hamburg im Beschluß vom 16. Januar 1981 – 80 Ks 147 Js 8/75 -, daß die (tatsächlich problematische) nachträgliche Einführung der Unverjährbarkeit des Mordes nicht für Beihilfe (wie immer in der Fallgruppe Demjanjuk und Gröning) gelte.
Was also in Wahrheit vor dem BGH verhandelt werden wird (wenn es soweit kommt), sind ein Generationenkonflikt und rechtsphilosophische Fragen des intertemporären Strafrechts. Nämlich das Pech des Angeklagten, so langlebig zu sein, daß er sich, ohne das Land gewechselt zu haben und ohne daß sich das Gesetz geändert hätte, eines Tages faktisch in einer neuen Strafrechtsordnung wiederfand.