Von wegen „Das Internet vergißt nicht“. Der EuGH scheint mit seinem Google-Urteil vom letzten Dienstag diese alte Gewißheit über den Haufen geworfen zu haben. Suchmaschinenbetreiber können, so der EuGH, datenschutzrechtlich verpflichtet sein, bei Suchen nach Personennamen nicht mehr alle Treffer anzuzeigen, die es zu Personen dieses Namens im Internet gibt. Die Tragweite dieser Entscheidung ist noch gar nicht abzusehen und zu ihren Opfern könnten der EuGH und der EGMR werden.
Keine 24 Stunden nach der Entscheidung des EuGH erhielt ich als Geschäftsführer von dejure.org folgende E-Mail:
Sehr geehrte Damen und Herren,
mit folgendem Anliegen und der dringenden Bitte um Abhilfe möchte ich mich an Sie wenden. Ich leide sehr unter der Veröffentlichung meines Namens in Zusammenhang mit der Veröffentlichung eines Gerichtsurteils durch Ihren Verlag. Bei Namenseingabe „****“ bei den einschlägigen Suchmachinen (insbes. Google) im Internet erscheint eine ** Jahre alte Urteilsveröffentlichung mit der Namensnennung und Fallbeschreibung zu einem jetzt ** Jahre zurückliegenden Vergehen.
Persönliche Nachteile im Berufsleben, Familien- und Bekanntenkreis entstehen mir bis heute vielfach. Aus diesem Grund möchte ich Sie bitten, die Namensveröffentlichung zu löschen, sodaß zukünftig bei Eingabe meines Namens in einer der zahlreichen Suchmaschinen nicht mehr automatisch zu Ihrer Seite weitergeleitet wird. Die Empfehlung, mich direkt an Sie als den Betreiber dieser Seite mit Urteilsveröffentlichungen zu wenden, habe ich sowohl vom Europäischem Datenschutzbeauftragten als auch von den zuständigen Stellen am Europäischen Gerichtshof erhalten. In diesem Sinne und in Erwartung Ihrer baldigen Antwort.
Mit freundlichen Grüßen,
****
Tatsächlich: Gibt man in Google den Namen des Absenders ein, dann erscheint als erster Treffer ein Eintrag in der Rechtsprechungsdatenbank von dejure.org, der eine EuGH-Entscheidung dokumentiert. Es folgen auf der ersten Google-Seite weitere entsprechende Treffer, beim EuGH selbst sowie bei anderen Rechtsprechungsdatenbanken.
Daß in der betreffenden Entscheidung des EuGH der Name des Absenders auftaucht, beruht nicht auf einem Versehen, sondern hat Methode: Es ist seit jeher gängige Praxis des EuGH, die Verfahrensbeteiligten nicht nur beim Namen zu nennen, sondern ihre Namen (zumindest den des Klägers) sogar zum amtlichen Titel der Entscheidung zu machen. Nicht anders verfahren der Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg (EGMR) und in vielen Ländern allgemein die Gerichte, etwa in Großbritannien und den USA. Der Eigenname, mit dem eine Entscheidung versehen wird, fungiert so als eine Art Stichwort, um die Entscheidung griffig zitieren zu können. Sowohl in der Rechtsprechung des EuGH und anderer Gerichte als auch in der Literatur wird die ursprüngliche Entscheidung dann auf diese Weise „adressiert“.
Man denke nur an grundlegende EuGH-Entscheidungen wie Francovich, Keck, Christel Schmidt, Bosman, Tanja Kreil, Mangold, Kadi I, Kadi II und Kücükdeveci.
Allein in meinem Beitrag Dürfen Unionsbürger an die USA ausgeliefert werden? habe ich aus der EuGH-Rechtsprechung folgende Entscheidungen zitiert, die allesamt benannt sind nach Personen, gegen die ein Strafverfahren anhängig war: Bickel und Franz, Kozowski, Wolzenburg und Lopes Da Silva Jorge.
Die im vom EuGH jetzt entschiedenen Fall liegende Ironie ist bereits vielfach aufgegriffen worden: Der Schriftsachverständige und Dozent für nichtverbale Kommunikation Mario Costeja González störte sich daran, daß im Online-Archiv der katalanischen Zeitung La Vanguardia eine 15 Jahre alte amtliche Bekanntmachung über ein Zwangsvollstreckungsverfahren gegen ihn weiterhin abrufbar war und daß Google diesen Eintrag als Treffer auswarf, wenn man nach seinem Namen suchte. Costeja legte Beschwerde bei der Datenschutzbehörde ein und diese entschied, daß die weitere Veröffentlichung der Bekanntmachung durch die Zeitung nicht zu beanstanden sei, daß aber Google nicht im Rahmen einer personenbezogenen Suche auf sie verlinken dürfe. Diese Entscheidung wurde von Google gerichtlich angefochten und so landete die Frage vor dem EuGH. Im EuGH-Urteil von Dienstag wird nun alle Welt über Costejas Namen und sein zurückliegendes Zwangsvollstreckungsproblem unterrichtet. Wäre es Costeja tatsächlich darum gegangen, daß diese Angelegenheit „vergessen“ wird, wäre der Schuß offensichtlich nach hinten losgegangen – ein typischer Fall von Streisand-Effekt. Doch offensichtlich ging es Costeja mehr ums Prinzip als um das tatsächliche Vergessen, denn schon lange vor der EuGH-Entscheidung suchte er gutgelaunt die Öffentlichkeit, um von seinem Kampf gegen Google zu berichten, etwa in einem Zeitungsinterview vom letzten Jahr. Da Costeja seine „Internetidentität“ aus eigener Kraft von „Zwangsvollstreckungsschuldner“ in „Google-Bezwinger“ umgestellt hat, wird es ihm sicher nichts ausmachen, wenn aufgrund seiner erlangten Prominenz Googles Klage vor dem spanischen Verwaltungsgericht nun doch noch erfolgreich ist: Ein überwiegendes öffentliche Interesse an Costeja ursprünglichem Zwangsvollstreckungsproblem dürfte gerade aufgrund des EuGH-Urteils entstanden sein.
Von seiner Praxis der Namensnennung weicht der EuGH nur in Ausnahmefällen ab. Für die Frage, wer dafür zuständig ist zu entscheiden, wann in Vorabentscheidungsverfahren eine Ausnahme vorliegt, hat er vor drei Jahren einen Passus in seine Handreichung an die nationalen Gerichte aufgenommen. Dort heißt es seitdem:
25. Im Rahmen des Vorabentscheidungsverfahrens übernimmt der Gerichtshof grundsätzlich die in der Vorlageentscheidung enthaltenen Angaben, einschließlich der Namensangaben und personenbezogenen Daten. Es ist daher Sache des vorlegenden Gerichts, die von dem Ausgangsrechtsstreit betroffene(n) Person(en), wenn es dies für erforderlich hält, in seinem Vorabentscheidungsersuchen zu anonymisieren.
Vorausgegangen und wahrscheinlich anlaßgebend für diesen Hinweis war ein Fall, in dem eine unterlassene Anonymisierung selbst für den Ausgang des Vorabentscheidungsverfahrens entscheidend war: Das OVG Nordrhein-Westfalen hatte über das Asylgesuch eines Iraners zu entscheiden, der Verfolgung wegen seiner Homosexualität in seinem Heimatland geltend machte. Nach der bisherigen deutschen Rechtsprechung wäre die Klage abzuweisen gewesen, denn nach ihr ist Homosexualität in einem homophoben Land (der Iran sieht Todesstrafe vor) dann kein Asylgrund, wenn dort in der Praxis heimlich gelebte Homosexualität geduldet wird und dem Betroffenen zuzumuten ist, sie nicht nach außen hin bekannt werden zu lassen. Das OVG stellte allerdings dem EuGH die Frage, ob nach einer EU-Richtlinie das Ergebnis ein anderes sein müsse. Die Anhängigkeit dieses Vorlageverfahrens wurde vom EuGH im Amtsblatt und im Internet bekannt gemacht – wie üblich mit Nennung der Namen der Beteiligten. Damit wurde nun die Homosexualität des Klägers europa- und sogar weltweit bekannt und dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge blieb nichts anderes übrig, als die Asylberechtigung des Klägers anzuerkennen. Das Verfahren vor dem OVG wurde deshalb eingestellt (Beschluß vom 15. Februar 2011 – 13 A 1013/09).
Von solchen Sonderfälle abgesehen, in denen sich aus der Natur der Sache eine Anonymisierung rechtfertigt, erscheint mir die Offenlegung der Namen der Verfahrensbeteiligten, wie sie – nicht nur – vom EuGH und EGMR praktiziert wird, als konsequent und angemessen, als Ausdruck des Grundsatzes der Öffentlichkeit von Gerichtsverfahren (Art. 6 MRK). Wieviel würdevoller in einer freien und offenen Gesellschaft ist dies doch als die Ängstlichkeit und Datenschutzhuberei der deutschen Gerichte, die der Anonymisierung einen Altar errichtet haben (und die sich nicht einmal daran stören, wenn der Schematismus zur Lächerlichkeit wird: „Republik G.“ bei einer – übrigens erfolgreichen – Verfassungsbeschwerde Griechenlands). Daß nun ausgerechnet die Große Kammer des EuGH die institutionalisierten deutschen Empfindlichkeiten in Sachen Datenschutz überholen würde – wer hätte das gedacht?
Doch was bedeutet die Entscheidung für die Erfassung von Eigennamen in Gerichtsurteilen durch Suchmaschinen? Daß der EuGH in das Fadenkreuz seiner eigenen Entscheidung kommen könnte, hatte der Generalanwalt in seinen Schlußanträgen bereits angedeutet:
29. Aufgrund dieser Entwicklungen ist der potenzielle Anwendungsbereich der Richtlinie in der modernen Welt überraschend weit geworden. Zu denken ist etwa an einen Professor für Europarecht, der von der Website des Gerichtshofs die wesentliche Rechtsprechung des Gerichtshofs auf seinen Laptop herunterlädt. Nach der Richtlinie lässt sich dieser Professor als ein „für die Verarbeitung Verantwortlicher“ im Hinblick auf personenbezogene Daten bezeichnen, die von einem Dritten stammen. Der Professor besitzt Dateien mit personenbezogenen Daten, die bei der Suche und Abfrage im Rahmen von nicht ausschließlich persönlichen oder familiären Tätigkeiten automatisiert verarbeitet werden.
Die Parallele der Anfrage, die mich erreicht hat, zum Fall Costeja ist frappierend (so sehr, daß ich zunächst an einen Scherz dachte, bis ich genug Anhaltspunkte dafür hatte, daß der Absender tatsächlich der Betroffene ist): Ebenso wie bei der Zwangsvollstreckungsanzeige handelt es sich bei den EuGH-Entscheidungsveröffentlichungen um amtliche Bekanntmachungen, die für sich wohl datenschutzrechtlich hinzunehmen sind. Da aber der EuGH im Google-Urteil entschieden hat, daß die datenschutzrechtlichen Pflichten von Suchmaschinenbetreibern nicht akzessorisch seien und auch der Zugang zu zulässig veröffentlichten (sogar amtlichen) Informationen im Einzelfall von den Suchmaschinen „gesperrt“ werden müsse, könnte man auf den ersten Blick meinen, daß Suchen nach Entscheidungsnamen, soweit sie Eigennamen sind, nicht mehr zulässig sind, jedenfalls nach Aufforderung durch den Betroffenen. Aber eben nur auf den ersten Blick. Warum ich meine, daß auch nach der Google-Entscheidung die Entscheidungsnamen weiterhin gesucht und gefunden werden dürfen, habe ich in meiner Antwort auf oben zitierte Löschaufforderung so begründet:
So sehr ich Ihren Wunsch nach Löschung Ihres Namens auch nachvollziehen kann, bin ich der Meinung, daß wir – auch nach den Maßstäben der EuGH-Entscheidung – berechtigt sind, ihn im Rahmen unserer Rechtsprechungsdokumentation zu veröffentlichen. Ich möchte Ihnen hierfür zwei Gründe anführen:
Es ist seit jeher Praxis des EuGH (und übrigens auch des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte – EGMR), Verfahren und Entscheidungen nicht nur mit den Namen der Parteien zu veröffentlichen, sondern auch diese Entscheidungen so zu „benennen“. Sowohl in der nachfolgenden Rechtsprechung als auch in der Rechtsliteratur werden diese Entscheidungen dann unter diesen Namen zitiert. Nehmen Sie nur die „Tanja Kreil“-Entscheidung (nach der Frau, die es durchgesetzt hat, entgegen dem Grundgesetz Bundeswehrsoldatin zu werden) oder die Entscheidung „Görgülü“ (nach dem Vater, den deutsche Behörden und Gerichte von seinem Sohn trennen wollten und der erst durch den EGMR zu seinem Recht gekommen ist). Entscheidungen des EuGH (und des EGMR) haben typischerweise den Charakter von Präzedenz- und Referenzfällen und haben deshalb für das öffentliche (juristische) Interesse kein „Verfallsdatum“. Dies ist der Unterschied zum Fall von Mario Costeja in der Google-Entscheidung des EuGH: Dort ging es um einen Einzelfall einer Zwangsversteigerung, für die mit zunehmenden Zeitablauf nach dem Versteigerungstermin das öffentliche Interesse immer mehr abnimmt. Die juristische Konvention hingegen, daß Gerichtsentscheidungen nach dem Namen der Parteien zitiert werden, begründet ein zeitlich unbegrenztes berechtigtes Interesse daran, daß Entscheidungen auch mit dem Namen dieser Personen auch aufgefunden werden können. Wenn in einem juristischen Beitrag etwa von der Entscheidung „***“ die Rede ist, müssen Suchmaschinen die Möglichkeit bieten, diese Entscheidung auch aufzufinden. Daß es diese juristische Konvention gibt, ist zwar überhaupt der springende Punkt, warum Sie sich in Ihren Persönlichkeitsrechten beeinträchtigt sehen, aber sie kann jedenfalls nicht mehr rückwirkend geändert werden (in den letzten Jahren hat der EuGH Möglichkeiten der Anonymisierung für neu anhängig gemachte Fälle aufgezeigt).
Aus diesem Grund bin ich der Meinung, daß es bereits zulässig ist, daß eine Google-Suche nach Ihrem Namen zu der EuGH-Entscheidung führt, die Ihren Namen trägt. Darüber hinaus wären wir als spezialisierte juristische Datenbank aber auch dann berechtigt, die EuGH-Entscheidungen mit den vom EuGH vergebenen Namen zu veröffentlichen, wenn nach den Kriterien der Google-Entscheidung vom Dienstag Google die entsprechenden, Sie betreffenden Suchergebnisse sperren müßte. Der EuGH argumentierte insoweit damit, daß die das gesamte Internet umfassende Suche bei Google eine Profilbildung zu Personen ermögliche und gerade daraus sich die Eingriffstiefe in den Datenschutz ergebe. Dieser Gesichtspunkt trifft auf spezialisierte Suchmaschinen wie die unsere nicht zu: Wer bei dejure.org nach Ihrem Namen sucht, weiß bereits oder rechnet damit, daß es Entscheidungen zu Ihrer Person gibt. Es handelt sich von vornherein um eine gezielte Suche, wie in einem Register amtlicher Informationen. Unabhängig davon, ob Sie gegenüber Google durchsetzen, daß bei einer Suche nach Ihrem Namen dejure.org nicht mehr in den dortigen Suchergebnissen erscheint, legen wir Wert darauf, unseren Nutzern den Zugang zu EuGH-Entscheidungen auch mit ihrem amtlichen Titel anbieten zu können.
Es tut mir leid, daß ich aus diesen Gründen Ihrer Bitte nicht entspreche.