De legibus-Blog

3. Dezember 2012

Der Kontakt des Polizisten mit der Nadel

Oliver García

Letzten Donnerstag, dem 29. November 2012, trat in Baden-Württemberg das Gesetz zur Änderung des Polizeigesetzes und des Gesetzes zur Ausführung des Personenstandsgesetzes in Kraft. Bei der Aktualisierung von dejure.org an diesem Tag fiel mir die in diesem Zuge vorgenommene Änderung von § 60 PolG auf. Aufgrund der Gesetzesänderung darf nun auch der Polizeivollzugsdienst HIV-Tests anordnen.

Stutzig gemacht, warf ich eine Blick in die Gesetzesbegründung (LT-Drs. 15/2434, Seite 42). Die dortige Erläuterung dieser Vorschrift hat mein anfängliches ungutes Gefühl beruhigt. Es geht ihr zufolge nicht darum, daß der Verdacht einer Ansteckung als solcher neuerdings als eigenständige Polizeigefahr gesetzlich eingeordnet wird (vgl. VGH Baden-Württemberg, Beschluß vom 6. Juli. 1998 – 1 S 2630/97). Aus der Begründung geht vielmehr hervor, daß es bei dieser neuen Eingriffsermächtigung vor allem darum geht, daß dann, wenn im Zusammenhang mit einem aus anderen Gründen schon zulässigen Polizeieinsatz der Verdacht auf eine Infizierung entsteht (etwa: ein Polizist hat sich in der Wohnung eines Abhängigen an einer herumliegenden Spritze verletzt), schneller eine Untersuchung eingeleitet werden darf. In solchen Fällen soll auch ohne vorherige Einschaltung der besonders fachkundigen Beamten des Gesundheitsamtes schnell gehandelt werden können. Gegen eine Vorschrift dieses Inhalts ist, denke ich, wenig einzuwenden.

Unglücklich fand ich die Gesetzesänderung nach dieser Lektüre trotzdem, aus einem Grund, an den mich ein heute veröffentlichter Beitrag auf lto.de erinnert hat. Dieser Beitrag befaßt sich mit einer entsprechenden Gesetzesänderung, die derzeit in Sachsen-Anhalt für das dortige Polizeirecht diskutiert wird und zu der sich die Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger eingeschaltet hat („unerträgliche Stigmatisierung einzelner Bevölkerungsgruppen“) – übrigens in einer Weise, die eine äußerst zweifelhafte Einmischung des Bundes in die Angelegenheiten eines Landes darstellen dürfte.

Es handelt sich bei dem lto.de-Beitrag um einen jener beschwichtigenden und abwiegelnden rechtswissenschaftlichen Äußerungen zu Fragen des Ordnungsrechts, die in etwa dem Ausspruch „Weitergehen, es gibt hier nichts zu sehen“ eines Polizisten entsprechen, der ausgerechnet an einem Schauplatz fällt, an dem es offensichtlich gerade sehr viel zu sehen gibt.

Was der lto.de-Beitrag in seinem unkritischen Ansatz nur ganz am Rande anspricht, ist die gerade für polizeirechtliche Eingriffsnormen ganz zentrale Frage der Normenklarheit. Statt dessen begnügt sich der Autor mit den Hinweisen, man hätte in anderen Ländern, wo es eine Regelung dieser Art bereits gibt, keine negativen Erfahrungen mit ihr gemacht, und daß die Gerichte dazu aufgerufen seien, im Einzelfall die Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit zu überwachen.

Doch es geht ganz schlicht um die Frage: Warum schreibt der Gesetzgeber die genaue Umgrenzung des Anwendungsbereichs der Norm nicht in das Gesetz selbst hinein (etwa durch schlichte Einfügung von „im Zusammenhang mit einem Polizei- oder Rettungseinsatz“ nach „dass“ in § 60 Abs. 4 PolG)? Warum steht sie nur in der Gesetzesbegründung? Es überzeugt nicht, daß eine weitgefaßte Norm in Kraft gesetzt wird und dann jeder die Daumen drückt, daß die Gerichte eine enge Anwendung der Norm gewährleisten. Dafür gibt es keinen triftigen Sachgrund und es ist zudem gefährlich: Erst kürzlich hat der I. Zivilsenat des BGH erklärt, daß das, was in den Gesetzesmaterialien steht, nicht nur im Zweifel nichts gilt, sondern auch dann, wenn jeder Zweifel ausgeschlossen ist.

Zitiervorschlag für diesen Beitrag:
https://blog.delegibus.com/2687

Rückverweis URL
  1. […] für eine Diskriminierung von vermeintlichen Risikogruppen wie Homosexuellen oder Ausländern. Oliver Garcia hingegen kritisiert auf dem Blog De legibus die fehlende Normenklarheit. Seite 1/3nächste […]

    Pingback von Die juristische Presseschau vom 4. Dezember 2012: Credit Suisse und Steuerhinterziehung – Geld für Bluspende – Koka-Blätter in der Mittelschule — 4. Dezember 2012 @ 07:38