De legibus-Blog

24. Juni 2012

Verhaltensgestörte Juristen

Oliver García

Alfred Hitchcock erzählte gerne diese Anekdote aus seiner Kindheit: Sein Vater schickte ihn mit einer verschlossenen Nachricht auf die Polizeiwache. Der diensthabende Wachtmeister nahm den Zettel entgegen, las ihn aufmerksam und führte daraufhin den Jungen wortlos in den hinteren Teil der Wache. Dort waren die Zellen und ehe der kleine Alfred wußte, wie ihm geschah, hatte der Polizist ihn eingeschlossen. Nach einer Weile ließ er den verängstigten Jungen wieder gehen und gab ihm die Ermahnung mit auf den Weg: „So ergeht es Kindern, die unartig sind.“

Hitchcock hatte, berichtete er, aufgrund dieser Erfahrung zeitlebens Angst vor der Polizei und es wäre ihm deshalb nie eingefallen, etwas Verbotenes zu tun. Daß er statt dessen seine kriminellen Energien in die Kunst lenkte, machte dieses frühe, traumatische Erlebnis zu einem Gewinn für die Filmgeschichte.

Als im August 2009 ein Strafrichter am Amtsgericht Eschwege einen einfach gestrickten Angeklagten, dem exhibitionistische Handlungen vorgeworfen wurden, vor sich hatte, verfiel er auf die Idee, mit ihm in den Keller des Gerichts zu gehen und ihn dort von einem Justizwachtmeister für 20 Sekunden in eine Zelle sperren lassen. Daß der Richter damit wahrscheinlich ein pädagogisches Einwirken, so wie Hitchcocks Vater, im Sinne hatte, kann man aus den Details des Hergangs schließen, vor allem aus seiner Äußerung „Sie kommen jetzt mit! Ich zeige Ihnen mal, wie Ihre Zukunft aussehen kann“. Doch das kann sein Handeln nicht entschuldigen. Die Ausübung von Strafgewalt ist mit das heikelste Verhältnis, in das der Einzelne zu staatlichen Strukturen kommen kann. Die Machtausübung, der er ausgesetzt ist, kann nur dann als gerecht angesehen werden, wenn sie sich streng in den Bahnen des Verfahrensrechts hält, wenn die beteiligten Amtsträger mit Zurückhaltung und Korrektheit vorgehen und so ihre rechtliche Gebundenheit sichtbar machen. Wenn ein Beschuldigter zum Objekt von „Showeinlagen“ gemacht wird, dann ist dies, unabhängig davon, wie es gemeint ist, ein Anschlag auf die Legitimität des Verfahrens selbst.

Der Strafrichter meinte es sicher gut und hielt seinen Einfall vielleicht für einen Ausdruck von Kreativität und echter Problemlösermentalität. Er bemerkte nicht, daß er mit seiner unorthodoxen Methode „aus der Rolle fiel“. Es fehlte ihm, jedenfalls in diesem Augenblick, die Sozialkompetenz, zu erkennen, wie sein Vorgehen auf den Betroffenen wirken mußte und vor allem welches objektive Bild es bot.

Aufgrund dieses Fehlverhaltens ist der Richter – er war noch Richter auf Probe – aus dem Dienst entfernt worden (Einzelheiten). Darüber hinaus ist er aber auch wegen Rechtsbeugung angeklagt worden. Erstinstanzlich wurde er freigesprochen. Den Freispruch hat der BGH am 31. Mai 2012 aufgehoben und die Sache an das Landgericht Kassel zurückverwiesen (2 StR 610/11).

Szenenwechsel: Landgericht Münster, 19. Juni 2012, Fortsetzungstermin in einem umfangreichen Steuerstrafverfahren. Einer der Strafverteidiger gerät in den Verdacht, einem Zeugen Geld für eine bestimmte Aussage angeboten zu haben. Ein Vertreter der Staatsanwaltschaft läßt plötzlich die Sitzung unterbrechen und eröffnet dem Strafverteidiger: „Ich nehme Sie vorläufig fest. Bitte ziehen Sie Ihre Robe aus.“ Da zuvor Presse und Fernsehen anonym Hinweise auf die bevorstehende Verhaftung bekommen hatten, konnten Journalisten und Kameras dokumentieren, wie im Gerichtssaal die Handschellen klickten, der Anwalt von seinem Platz an der Verteidigerbank fortgeschafft und durch das Gerichtsfoyer geführt wurde (Pressebericht, Fernsehbericht).

Davon, daß ein Haftgrund – hier: Verdunkelungsgefahr – vorlag, konnte die Staatsanwaltschaft den anschließend eingeschalteten Ermittlungsrichter überzeugen. Der Anwalt wurde erst drei Tage später freigelassen. Davon unabhängig ist die Frage des Wie der Verhaftung. Sie war in ihrer Form offensichtlich rechtswidrig, da von allen Möglichkeiten, die Verhaftung konkret durchzuführen, unnötigerweise diejenige gewählt wurde, die den Anwalt, jetzt Beschuldigten, am meisten öffentlich vorführte und stigmatisierte (siehe die zutreffenden Anmerkungen von Udo Vetter und Tobias Rudolph). Der von der Staatsanwaltschaft Münster abgehaltene Schauprozeß verstieß gegen Nr. 4a und 23 RiStBV, die spezielle Normierungen des durch das Grundgesetz geschützten allgemeinen Persönlichkeitsrechts sind. Mehr noch als gegen dieses Individualrecht verstieß der Staatsanwalt aber gegen die Würde seines Amtes.

Es ist nicht das erste Mal, daß Strafverfolger so drastisch den Rechtsstaat beschädigen. Fast möchte man von einer Mode sprechen. Vor einem Monat ist ein Radiomoderator mitten in einer Sendung verhaftet und unter Blitzlichtgewitter abgeführt worden. Je prominenter ein Beschuldigter ist, um so mehr scheint mancher Staatsanwalt nicht an sich halten zu können und das Wort Öffentlichkeitsarbeit gründlich mißzuverstehen. Man denke nur an die Hausdurchsuchung bei Postchef Zumwinkel im Jahr 2008 oder die Verhaftung einer bekannten Popsängerin bei einem Auftritt im Jahr 2009.

Vorabinformationen an die Presse über Verhaftungen und Durchsuchungen können nach § 353b StGB strafbar sein (siehe zu einer Anklage gegen einen Staatsanwalt den Beschluß des OLG Dresden vom 11. September 2007 – 2 Ws 163/07; man erinnere sich übrigens auch an die Verurteilung der ehemaligen Justizministerin Werwigk-Hertneck aufgrund dieser Vorschrift zu einer Gefängnisstrafe auf Bewährung: BGH, Beschluß vom 16. April 2008 – 1 StR 83/08).

Auch im jetzigen Fall aus Münster hat die Staatsanwaltschaft Anlaß, wegen der anonymen Information der Medien ein Ermittlungsverfahren nach § 353b StGB einzuleiten. Interessanter ist aber folgende Frage: Hat sich der verhaftende Staatsanwalt wegen Rechtsbeugung (§ 339 StGB) strafbar gemacht? Daß neben einem Richter auch ein Staatsanwalt eine solche begehen kann, nimmt die Rechtsprechung als selbstverständlich an (siehe nur BGH, Urteil vom 23. Mai 1984 – 3 StR 102/84).

Die Parallelbetrachtung des Falles des Eschweger Proberichters und des Münsteraner Falles legt die Frage nahe. In beiden Fällen haben Juristen bei der Leitung einer Rechtssache in krasser Weise gegen das Recht verstoßen und den Beschuldigten zum Objekt einer Inszenierung gemacht. Beide Fälle tragen den Stempel eines persönlichen Charakterfehlers, eines akuten Schubs von Verhaltensgestörtheit. Erreicht sie die Grenze der Strafbarkeit? Anders gefragt: Wenn der Eschweger Proberichter sich strafbar gemacht hat, warum nicht auch der Münsteraner Staatsanwalt? Und umgekehrt: Wenn der Staatsanwalt straflos ist, warum nicht auch der Proberichter?

§ 339 StGB ist ein Gummiparagraph, wie er im Buche steht. Was Rechtsbeugung ist, geht aus dem Wortlaut nicht hervor. Anders als bei anderen Tatbeständen wird die strafbare Handlung im Gesetz nicht näher beschrieben, sondern im wesentlichen nur mitgeteilt, daß Rechtsbeugung begeht, wer das Recht beugt. Lediglich die hohe Mindeststrafe von einem Jahr Freiheitsentzug (Rechtsbeugung ist also ein Verbrechen) und der damit regelmäßig einhergehende Amtsverlust des Täters (§ 45 Abs. 3 StGB) geben die Richtung vor. Nach der Rechtsprechung gilt: Rechtsbeugung begeht der Amtsträger, der sich bewußt und in schwerwiegender Weise von Recht und Gesetz entfernt (BGH, Urteil vom 4. September 2001 – 5 StR 92/01). Viel ist dadurch allerdings nicht gewonnen. Strafbar ist, was schwerwiegend ist. Die Grenze zwischen Verhaltensauffälligkeit und Verbrechen ist fließend.

In beiden Fällen entscheidet der individuelle Empörungsgrad der Richter, ob die Grenze zum Verbrechen übersprungen ist. Ich neige dazu, dies in beiden Fällen zu verneinen. Beim verhaltensgestörten Staatsanwalt besteht allerdings die Möglichkeit – und Notwendigkeit -, daß gegen ihn mit den Mitteln des Disziplinarrechts „ernsthaft und streng durchgegriffen“ wird (so die Formulierung des Pressesprechers der StA Münster zu dem Vorgehen gegen den Strafverteidiger).

Zitiervorschlag für diesen Beitrag:
https://blog.delegibus.com/2316

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