De legibus-Blog

1. März 2012

Richterliche Eigenmacht am Bundesgerichtshof

Oliver García

Kürzlich sorgte der 2. Strafsenat des Bundesgerichtshofs mit einem Beschluß für Aufsehen, in dem er sich – mit drei zu zwei Stimmen – für handlungsunfähig erklärte. Er sei wegen Mängeln in seiner personellen Zusammensetzung nicht mehr gesetzlicher Richter (Art. 101 Abs. 2 Satz 2 GG, § 16 Satz 2 GVG). Nachdem die drei Verfechter von „Legitimation durch Verfahren“ vom Präsidium des BGH fürsorglich – manch einer sagte: inquisitorisch – ins Gebet genommen worden waren, sind sie jedoch eingeknickt: Die ausführliche Begründung, warum ein Verstoß gegen den Anspruch auf den gesetzlichen Richter vorlag, war vier Wochen später Makulatur. Laut Pressemitteilung erachteten die Richter nunmehr das gegenteilige Ergebnis „- unter Aufrechterhaltung ihrer Rechtsauffassung – mit Blick auf das rechtsstaatliche Beschleunigungsgebot sowie das verfassungsrechtliche Gebot der Rechtsschutzgewährung für geboten“. Also einerseits ist der Senat nicht gesetzlicher Richter, andererseits soll er doch entscheiden dürfen.

Das war schon mal kein gutes Zeichen.

Die damit angedeutete Tendenz beim Bundesgerichtshof, Zuständigkeitsfragen eher nach Gutdünken statt in strenger Gesetzesbindung zu behandeln, hat nun ein Ermittlungsrichter des BGH fortgesetzt. Mit Beschluß vom 9. Februar 2012 – 3 BGs 82/12 – hat er sich in einem Fall für zuständig erklärt, in dem es um die Ausgestaltung eines Untersuchungshaftvollzugs geht. Die Entscheidung betrifft eine Kontroverse um die Auslegung des Grundgesetzes, die seit der Föderalismusreform 2006 geführt wird. Damals war das Strafvollzugsrecht einschließlich des Rechts des Untersuchungshaftvollzugs aus der Gesetzgebungszuständigkeit des Bundes herausgenommen worden (Änderung von Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 GG). Die Materie sollte künftig ausschließlich der Landesgesetzgebung unterliegen.

Demgegenüber verblieb aber das Strafprozeßrecht bei der Bundesgesetzgebung. Und so stellte sich die Frage, ob Maßnahmen des Untersuchungshaftvollzugs, die Interessen des Strafverfahrens dienen sollen, kompetenzrechtlich weiterhin dem Strafprozeßrecht („gerichtliches Verfahren“) zuzuordnen sind (außerhalb von „ohne das Recht des Untersuchungshaftvollzugs“).

Die Kontroverse wird sowohl auf gesetzgeberischer als auch auf gerichtlicher Ebene geführt: Der Bund beharrt – wenig überraschend – darauf, daß er weiterhin zuständig sei und hat sich demgemäß für berechtigt angesehen, ein „Gesetz zur Änderung des Untersuchungshaftrechts“ zu erlassen, das mit Wirkung vom 1. Januar 2010 Regelungen über Beschränkungen in der Untersuchungshaft in §§ 119 und 119a StPO verortete. Einige Länder hingegen – und das ist schon eher überraschend, sind diese doch historisch völlig ungeübt darin, in Kompetenzfragen dem Bund Paroli zu bieten – nehmen die neue Regelung in Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 GG beim Wort und sehen sich für zuständig an, jede Art von Beschränkungen im Untersuchungshaftvollzug zu regeln. So insbesondere Niedersachsen. Das Niedersächsische Justizvollzugsgesetz (NJVollzG) vom 14. Dezember 2007 trifft in seinen §§ 133 bis 166 umfassende Regelungen über das Untersuchungshaftregime, im Hinblick auf die Anstaltssicherheit als auch auf die Belange des Strafverfahrens.

Bereits in ihrem ursprünglichen Gesetzesentwurf hatte die niedersächsische Regierung ausgeführt, daß die bisherige bundesrechtliche Regelung (§ 119 StPO a.F.) durch Landesrecht ersetzt werden solle (Drucksache 15/4325, S. 176):

Schließlich stehen der vorgesehenen Regelung auch keine kompetenzrechtlichen Bedenken entgegen. Mit der Zuordnung des Untersuchungshaftvollzuges zum gerichtlichen Verfahren, vor allem aber mit der ausdrücklichen Herausnahme dieses Gebietes aus dem Bereich der konkurrierenden Gesetzgebung wollte der verfassungsändernde Gesetzgeber ersichtlich nur die Gesetzgebungskompetenz für das Gebiet des Untersuchungshaftvollzuges auf die Länder verlagern. Es wäre geradezu widersinnig anzunehmen, dass die Länder nunmehr zwar das Gebiet des Untersuchungshaftvollzuges regeln, dabei aber die durch § 119 StPO vorgegebene Zuständigkeitsverteilung nicht verändern dürften. Damit wäre ein wesentlicher Bestandteil des Gebietes des Untersuchungshaftvollzuges, ohne den eine sinnvolle Regelung dieses Gebietes kaum möglich ist, von der Gesetzgebungskompetenz der Länder ausgenommen. Dies kann nicht gewollt gewesen sein.

Dem hat sich der Landtag – unter Auseinandersetzung mit der Gegenmeinung der Bundesregierung – angeschlossen (Drucksache 15/4325, S. 44). Bei der letzten Änderung des Untersuchungshaftrechts, im Jahr 2009, ist die Landtagsmehrheit bei ihrer Position geblieben (Drucksache 16/942, S. 1):

Die Diskussion erfolgte vor dem Hintergrund, dass es – wie schon vor Inkrafttreten des Niedersächsischen Justizvollzugsgesetzes – weiterhin unterschiedliche Rechtsauffassungen über die Reichweite der Gesetzgebungskompetenz des Landes für das Recht des Untersuchungshaftvollzuges nach Artikel 74 Abs. 1 Nr. 1 des Grundgesetzes (GG) gibt. Während die Vertreter der Regierungsfraktionen nach wie vor die umfassende Gesetzgebungskompetenz des Landes einschließlich der Kompetenz zur Regelung von Befugnissen zur Abwehr von Flucht-, Verdunkelungs- und Wiederholungsgefahr für gegeben erachten, halten die Vertreter der Oppositionsfraktionen die Auffassung der Bundesregierung für zutreffend, die in dem von ihr vorgelegten Entwurf für ein Gesetz zur Änderung des Untersuchungshaftrechts (Bundesrats-Drucksache 829/08) davon ausgeht, dass dem Bund die vorrangige Gesetzgebungskompetenz für derartige Regelungen zustehe und das Land nur zur Regelung von Befugnissen zur Aufrechterhaltung von Sicherheit und Ordnung der Anstalt berechtigt sei.

Der Position des niedersächsischen Gesetzgebers hat sich in einer ausführlich begründeten Entscheidung das OLG Celle angeschlossen (Beschluß vom 9. Februar 2010 – 1 Ws 37/10). Ein anderes niedersächsisches Oberlandesgericht – das OLG Oldenburg – solidarisierte sich hingegen mit dem Bund und hielt das NJVollzG insoweit für verfassungswidrig, als es den Bereich des § 119 StPO an sich zog. Es rief deshalb gemäß Art. 100 Abs. 1 GG das Bundesverfassungsgericht an. Dieses erklärte die Vorlage durch Senatsbeschluß vom 28. Mai 2008 – 2 BvL 8/08 – mit 5 zu 2 Stimmen für unzulässig, weil in der konkreten verfahrensrechtlichen Situation nicht das Oberlandesgericht, sondern das Amtsgericht hätte vorlegen müssen.

Sehr viel Verfahrensrecht ist also im Spiel und es war auch ein verfahrensrechtlicher Einstieg, den der Ermittlungsrichter des BGH im nun entschiedenen Fall nehmen mußte: Bei Anwendbarkeit des NJVollzG wäre er nicht zuständig, denn dessen § 134a Abs. 1 Satz 2 (eingefügt durch die Änderung im Jahr 2009) erklärt für den vorliegenden Fall, daß für Haftbeschränkungsentscheidungen das Amtsgericht am Vollzugsort zuständig ist. Bei Anwendbarkeit der StPO hingegen ist der Ermittlungsrichter des BGH zuständig.

In – gegenüber dem OLG Celle sehr knapper Form – entschied sich der Ermittlungsrichter für die Anwendbarkeit der StPO und erklärt die entgegenstehenden Regelungen (sowohl verfahrensrechtlicher als auch materieller Art) des NJVollzG für unwirksam:

Soweit die Landesgesetze – wie hier das NJVollzG – bezüglich der Regelung von Maßnahmen, die der Zweck der Untersuchungshaft erfordert, von der Strafprozessordnung, namentlich von § 119 StPO, abweichende Regelungen enthalten, ist entsprechendes Landesrecht im Hinblick auf die Sperrwirkung des Art. 72 Abs. 1 GG unwirksam.

Es soll hier nicht diskutiert werden, ob diese Rechtsmeinung zutrifft oder nicht (sie ist jedenfalls gut vertretbar, gerade in einem Bereich wie dem vorliegenden, der Strafgerichtsbarkeit des Bundes betrifft). Aber eines ist klar: Die Entscheidung des Ermittlungsrichters des BGH ist ein eklatanter Verstoß gegen Art. 100 Abs. 1 GG. Die Entscheidung, ob ein Parlamentsgesetz gegen das Grundgesetz oder sonstiges Bundesrecht verstößt, ist nach dieser Vorschrift dem Bundesverfassungsgericht vorbehalten. Ein anderes Gericht ist zu einer Normverwerfung nicht befugt. Dies hat der Ermittlungsrichter in krasser Weise verkannt. Ich frage mich, ob es ein mildernder oder erschwerender Umstand ist, daß er nicht einmal ansatzweise begründete, warum eine Vorlagepflicht für ihn nicht bestehen sollte. Im oben genannten Beschluß vom 28. Mai 2008 – 2 BvL 8/08 – hatte das Bundesverfassungsgericht das Amtsgericht Meppen für weitaus geringeres (dieses hatte nicht endgültig entschieden, sondern dem Oberlandesgericht vorgelegt) gerügt:

Indem es sich für unzuständig erklärt und damit diese Regelung unangewendet gelassen hat, hat es die Frage in verfassungswidriger Weise selbst entschieden, obwohl es aufgrund von Art. 100 Abs. 1 Satz 1 GG verpflichtet war, die Frage dem Bundesverfassungsgericht zur Entscheidung vorzulegen.

Die Vorgehensweise des Ermittlungsrichters des BGH ist unter keinem Gesichtspunkt haltbar. Sicherlich – es gibt Fälle, in denen eine Vorlage an das BVerfG unterbleiben kann und sogar unterbleiben muß. So etwa, wenn eine verfassungskonforme Auslegung der für verfassungswidrig gehaltenen Norm möglich ist. Übertragen auf den vorliegenden Fall hätte der Ermittlungsrichter zu argumentieren versuchen müssen, daß das NJVollzG einschränkend so ausgelegt werden kann, daß es hier doch nicht anwendbar sei und deshalb kein Normenkonflikt vorliege. Abgesehen davon, daß der Ermittlungsrichter sich jede Argumentation erspart hat, wäre eine solche aber seriöserweise auch nicht möglich gewesen: Wie gesehen, kommt es dem niedersächsischen Gesetzgeber durchaus darauf an, seine Position von der vollen Gesetzgebungszuständig gegenüber der Bundesposition durchzusetzen. Gesetzeswortlaut, -konzeption und -materialien lassen keinen Zweifel daran, daß der niedersächsische Gesetzgeber von einer ausschließlichen Geltung seiner Regeln (auch gegenüber dem Bund) ausgeht. Der Versuch, dies wegzudiskutieren, müßte scheitern. Vielleicht hat der Ermittlungsrichter den Versuch deshalb nicht einmal unternommen. Die Figur der verfassungskonformen Auslegung ist nicht dafür da, die gesetzgeberische Regelung in eine andere zu verfälschen, um einer Vorlagepflicht an das Verfassungsgericht auszuweichen (hierzu BVerfG, Beschluß vom 19. September 2007 – 2 BvF 3/02).

Allerdings gibt es im vorliegenden Fall in der Tat eine Besonderheit: Entscheidungen in Haftsachen unterliegen – auch aus grundrechtlichen Gründen – dem Beschleunigungsgebot. Wenn, wie hier, die Entscheidung einer Haftsache eine Normverwerfung einschließt, für die das Bundesverfassungsgericht zuständig ist, würde dessen Einschaltung die Entscheidung über Monate oder gar Jahre verzögern. Dies wäre ersichtlich in den meisten Fällen nicht akzeptabel (auch wenn hierauf das BVerfG in seinem Beschluß vom 28. Mai 2008, in dem es auf Vorlage an sich pochte, nicht einging). Andererseits beansprucht auch in diesen Fällen Art. 100 GG Geltung, zumal wenn, wie hier, die Entscheidung unanfechtbar ist (§ 304 Abs. 5 StPO; BGH, Beschluß vom 12. Januar 2012 – StB 19/11). Auch das Beschleunigungsgebot macht den (Fach-)Richter nicht zum Herrn über das Gesetzesrecht. Die Lösung kann deshalb nur in einem Mittelweg liegen: Der Richter kann eine einstweilige Regelung auf der Grundlage der von ihm ausgesprochenen Normverwerfung treffen, muß aber gleichzeitig das Bundesverfassungsgericht anrufen und bis zu einer dann endgültigen Entscheidung das Verfahren aussetzen.

Vor einiger Zeit fragte ich, aus Anlaß eines Falles von richterlicher Eigenmacht am BFH: „Wer hält diese Richter auf?“ Hier kann ich eingrenzen: Wer hält diesen Ermittlungsrichter auf?

Zitiervorschlag für diesen Beitrag:
https://blog.delegibus.com/2097

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