De legibus-Blog

9. April 2017

Polizeiliche Aussetzer

Oliver García

Strafverfolgung von Polizeibeamten – schwieriges Thema. Die deutsche Justiz tut sich seit jeher ungewöhnlich schwer mit der strafrechtlichen Aufarbeitung von polizeilichem Fehlverhalten. Das wird voraussichtlich auch im gerade in die Nachrichten gekommenen Fall aus Stuttgart nicht anders sein. Dort war – bereits Mitte Februar – ein Mann von einer Gruppe Polizisten gemeinschaftlich verprügelt worden. Hintergrund ist, soweit bisher bekannt, daß er einer (berechtigten) polizeilichen Anweisung nicht nachgekommen und „frech geworden“ war. Zwei der vier Polizisten, gegen die seit einer Anzeige des Mannes ermittelt wird, sind erst jetzt – vom Innenministerium – suspendiert worden, weil seit einigen Tagen ein Video von dem Vorfall „in den sozialen Netzwerken kursiert“ – deren Bändigung unter den Stichworten „Fake news“ und „Hate speech“ gerade politische Priorität hat. Die Gefährlichkeit des Internets ist auch hier ein Thema: Für den Landespolizeipräsidenten Gerhard Klotter ist es nicht die Tat, sondern das Video, das eine „verheerende Wirkung“ hat und geeignet ist, „das Vertrauen in die Polizei zu erschüttern“.

Gefährliche Videos

So ist es: Der Trend zu immer mehr Videoaufnahmen im öffentlichen Raum bedeutet für übergriffige Polizisten erstmals eine ernsthafte Gefahr, sich nicht mehr auf eine Kultur der faktischen Straflosigkeit verlassen zu können, die sich innerhalb von Polizei und Justiz herausgebildet hat – und die ich im Folgenden mit einigen Beispielen illustrieren will. Vorerst muß allerdings die Beunruhigung unter den schwarzen Schafen im Polizeidienst nicht allzu groß sein, denn die zweite Bastion hält noch: Die der ungewöhnlichen Strafmilde, wenn sich Anklage und Verurteilung nicht ganz vermeiden lassen. So im Fall des Ermittlungsverfahrens gegen Polizisten, die 2013 im rheinland-pfälzischen Westerburg einen festgenommenen Verdächtigen, der mit hinter dem Rücken gefesselten Händen am Boden saß, mit Faustschlägen gegen den Kopf und Fußtritten traktierten, angeblich in Notwehr, weil er sie bespuckt habe. Dieser Fall wäre sicherlich nicht zur Anklage gekommen, wenn es nicht ein Video von Anwohnerinnen aus einem gegenüberliegenden Haus gegeben hätte. Zu einer Bestrafung der Polizeibeamten kam es jedoch nicht, denn der Strafrichter bejahte zwar die Strafbarkeit des Vorfalles, beließ es aber bei einer Verwarnung mit Strafvorbehalt (§ 59 StGB). Das Opfer, den Nebenkläger, ließ er nur gefesselt im Gerichtssaal zu; dies sei aufgrund dessen „strafrechtlicher Karriere“ durchaus gerechtfertigt. Eine Richterablehnung, gestützt darauf, daß diese Äußerung auf Voreingenommenheit hindeute, da der Nebenkläger bislang nur durch gewaltlose Diebstähle in Erscheinung getreten sei, war erfolglos geblieben.

Ebenfalls aufgrund eines „in sozialen Netzwerken kursierenden Videos“ wurde 2015 ein Polizist in Oberhausen verurteilt („Das Opfer liegt bäuchlings auf dem Boden, der Polizist kniet auf seinem Rücken. Dennoch schlägt der Beamte mindestens fünf Mal auf den Betrunkenen ein. Im Prozess sagte der Angeklagte: ‚Als ich ihn nicht sichern konnte, habe ich im Kopfbereich und Schulterbereich einzelne Schläge getätigt.‘“). Das Urteil: Sechs Monate auf Bewährung. Die Staatsanwaltschaft hatte weniger gefordert.

Diese spezifische Gefährlichkeit von Videoaufnahmen polizeilicher Einsätze wird auf ihre eigene Weise bekämpft: Es gibt Staatsanwälte, die Bürger anklagen, die Polizisten im dienstlichen Einsatz (wohlgemerkt: nicht in ihrer Freizeit) filmen und es gibt sogar Richter, die sich bereit finden, eine solche Strafbarkeit zu bejahen (übrigens in Abweichung von der zivilrechtlichen Rechtsprechung des BGH). Dies ist nicht der einzige Punkt beim Thema Justiz und Polizei, der mehr an ein oppressives Regime ostasiatischer Prägung denken läßt als an einen Rechtsstaat.

Manipulierte Videobilder

Die Videogefahr kann auch woanders lauern, zum Beispiel im eigenen Streifenwagen: Im Juni 2014 erregte der Fall des Polizisten Aufsehen, der im Zusammenhang mit einer Verkehrskontrolle in Herford dem Autofahrer Hüseyin E., der sich – so das spätere Urteil – ihm gegenüber „arrogant und patzig“, im übrigen aber ruhig verhalten hatte, überraschend von hinten den Arm umdrehte und in der Eskalation mit Pfefferspray auf ihn losging. Der Polizist löste gegen den Autofahrer ein Ermittlungsverfahren wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte (§ 113 StGB) aus, indem er behauptete, E. hätte ihn angegriffen. Er versuchte sogar, per Anruf beim Eildienst des Amtsgerichts zu erreichen, daß E. längere Zeit in einer Zelle des Polizeigewahrsam bleibt. Später forderte er von diesem Schmerzensgeld. In seiner Falschdarstellung wurde er von Kollegen unterstützt, unter anderem offenbar vom ermittelnden Beamten. Dieser erstellte für die Akten aus dem Video von dem Vorfall, das vom Streifenwagen aus aufgezeichnet worden war, eine Fotosequenz, die es erscheinen ließ, als wäre der Angriff von E. ausgegangen. Auf dieser Grundlage erhob die Staatsanwaltschaft Anklage gegen E.. Das Video selbst war weder von der Staatsanwaltschaft noch vom Strafrichter für den Eröffnungsbeschluß gesichtet worden. Der Verteidiger durfte es erst kurz vor der Hauptverhandlung ansehen. E. wurde freigesprochen und erst da wurden die Ermittlungen gegen den Polizisten aufgrund der schon lange vorliegenden Anzeige E.’s aufgenommen.

Am 27. September 2016 wurde der Polizist vom Schöffengericht des AG Herford wegen Verfolgung Unschuldiger, Körperverletzung im Amt und versuchten Betrugs zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und drei Monaten auf Bewährung verurteilt (3 Ls 87/15). Über die vom Angeklagten eingelegte Berufung ist noch nicht entschieden. Die für ein Strafverfahren gegen einen Polizisten ungewöhnlich hohe Strafe erklärt sich daraus, daß bereits der Tatbestand der Verfolgung Unschuldiger (§ 344 StGB) ein Mindestmaß von einem Jahr vorsieht, sofern kein minder schwerer Fall bejaht werden kann. Damit ist in der Regel die Grenze von einem Jahr überschritten, die bei Rechtskrafteintritt eine automatische Entfernung des Beamten aus dem Dienst bedeutet (§ 24 BeamtStG). Diese Grenze steht auch für ein paradoxes Verhältnis zwischen Theorie und Praxis: Nach der gesetzlichen Wertung ist eine Körperverletzung durch einen Polizisten grundsätzlich strafwürdiger als die durch eine Privatperson (erhöhter Strafrahmen des § 340 StGB gegenüber § 223 StGB). Darüber hinaus sieht das Gesetz in § 358 StGB vor, daß bei einer Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe von mindestens sechs Monaten das Strafgericht als Nebenfolge auf Entfernung aus dem Beamtenverhältnis erkennen kann. Beides klingt in der Praxis eher wie Science Fiction. Strafgerichte pflegen vielmehr, wenn es überhaupt zu einer Verurteilung eines Polizisten kommt, sorgfältig darauf zu achten, unter der magischen Ein-Jahres-Grenze zu bleiben. Strafrichter, so gewohnt sie es auch sind, in anderen Fällen Angeklagten zu langjährigen Freiheitsstrafen zu verurteilen und sonstige schwere Entscheidungen zu treffen, haben bei Polizisten, aber auch bei anderen Beamten, die größte Skrupel, den beamtenrechtlichen Schalter selbst umzustellen, auch wenn es der Fall nahelegt. Die darüber hinausgehende Regelung des § 358 StGB spielt deshalb praktisch keine Rolle. Möge dieses heiße Eisen anschließend in einem etwaigen disziplinarrechtlichen Verfahren angefaßt werden. So war es etwa im Fall des Rosenheimer Polizeichefs, der auf seiner Polizeiwache einen 15-jährigen Schüler mißhandelt hatte und dafür vom Landgericht zu elf Monaten auf Bewährung verurteilt wurde (magische Grenze minus 1; irrelevante Grenze plus 5). Die heikle Aufgabe der Entfernung aus dem Dienst mußte dann das Verwaltungsgericht übernehmen.

Hund beißt Mann, Mann wird angeklagt

Im Herforder Fall war der Sprecher der Staatsanwaltschaft Bielefeld gefragt worden, warum nicht gleich auf die Anzeige von Hüseyin E. hin Ermittlungen gegen den Polizisten aufgenommen wurden. Seine Antwort: Das sei üblich. Wenn einer Anzeige eine Gegenanzeige folgt, würde das zweite Verfahren zunächst ruhen. „Man wartet dann erstmal das erste Verfahren ab“. Demnach hing es dort also von dem Zufall ab, daß Hüseyin E. seine Anzeige als zweiter angebracht hatte. Diese schlichte Regel scheint aber bei umgekehrt verteilten Rollen nicht zu gelten, zumindest nicht in einem Fall, der sich im Zuständigkeitsbereich der Staatsanwaltschaft Freiburg im Breisgau vor rund 10 Jahren ereignet hatte. Dort hatte ein Bürger, Kingsley O., Strafanzeige gegen Polizeibeamte gestellt, die – nach seiner Meinung – ohne berechtigenden Anlaß einen Polizeihund auf ihn gehetzt hatten. Erst daraufhin reagierte die Polizei mit der Einleitung eines Strafverfahrens gegen ihn wegen Widerstands – ein immer wiederkehrendes Muster bei Vorwürfen von Polizeigewalt. Das Verfahren gegen die Polizisten wurde rasch eingestellt; gegen den Anzeigeerstatter wurde Strafbefehl erlassen. Mit dem vorgeworfenen Widerstand war übrigens keine Gewaltanwendung gemeint, sondern daß O. versucht habe, sich einer polizeilichen Festhaltung zu entziehen. Der Hergang war folgender (auf der Grundlage eines ausführlichen und juristisch fundierten Berichts von der Verhandlung vor dem AG Freiburg nach Einspruch gegen den Strafbefehl): Kingsley O. hatte selbst die Polizei zu einem Haus gerufen, das – nach Berichten einer Frau, die ihn angesprochen hatte und die sich später als verwirrt herausstellte – Schauplatz eines Verbrechen gewesen sein sollte. Als die Polizei eintraf, hatte sich das Ganze schon als falscher Alarm entpuppt. O. stellte sich als der Anrufer vor und die Situation wurde aufgeklärt. Die Polizisten wollten daraufhin – durchaus nachvollziehbar – die Personalien von O. aufnehmen, was O., der die Sache für erledigt hielt, allerdings verweigerte (siehe § 163b Abs. 2 StPO zur Identitätsfeststellung bei Zeugen und den dabei vorgesehenen Begrenzungen). Auf offener Straße entwickelte sich eine sich aufheizende Auseinandersetzung zwischen ihm und den zahlreichen anwesenden Polizisten, in deren Verlauf er immer nervöser wurde, weil er – nach seiner Schilderung – zu seinem 8-jährigen Sohn wollte, der auf der anderen Straßenseite allein stand, und Sorge hatte, dieser könnte auf die Straße laufen (zumal an dieser Straße ein paar Stunden zuvor ein Kind überfahren worden war). Als er sich schließlich eigenmächtig entfernen wollte, wurde der Hund auf ihn gehetzt, der ihn zu Boden warf und biß. Zusätzlich stürzten sich Polizisten auf ihn; einer von ihnen versetze – auch nach seiner eigenen Aussage – O. Faustschläge ins Gesicht (angeblich aus Sorge, daß O. nach seiner Dienstwaffe greifen würde – im Herforder Fall hatte der verurteilte Polizist ebensolches Motiv angegeben, das, selbst wenn es geglaubt würde, die Frage der Gebotenheit der konkreten Maßnahme offen ließe). Trotz all des Aufwandes interessierte sich am Ende niemand für die Personalien von O.. Die Polizei zog ab, ohne diese aufzunehmen. Die neutralen Zeugen sagten aus, daß sie vom Ausmaß der Brutalität geschockt waren. Das Ergebnis der mehrtägigen Hauptverhandlung: O wurde zu einer Geldstrafe von 50 Tagessätzen (gegenüber 25 im Strafbefehl) verurteilt. In der Berufungsinstanz, in der O. nur noch die Strafhöhe angriff, wurden sie wieder reduziert (Audiobericht von der Berufungsverhandlung).

Der Verfolgungseifer der Staatsanwaltschaft – und letztlich auch des erkennenden Richters – speiste sich vor allem daraus („penetrantes Nachtatverhalten“), daß Kingsley O., Deutscher mit schwarzer Hautfarbe, auch behauptete, die Polizistin, die den Hund auf ihn hetzte (soweit unstreitig), habe dies mit den Worten „Friß den Neger“ getan, ein Detail, das sich weder in den Zeugenvernehmungen der beteiligten Polizisten noch in denen neutraler Zeugen bestätigen ließ (von letzteren aber auch nicht ausgeschlossen werden konnte).

Es braucht nicht viel Phantasie für die Annahme, daß auch dieser Fall gänzlich anders ausgegangen wäre, wenn es hier ebenfalls zufällig ein Video des Vorfalls gegeben hätte und nicht aufgrund der Beweisregel „Ich gehe davon aus, daß Polizeibeamte vor Gericht die Wahrheit sagen“ (so Richter Leipold in seiner Urteilsbegründung) entschieden worden wäre. Bereits zu Beginn der Verhandlung hatte Richter Leipold O., der seinen Einspruch mit dem Beharren auf seiner Darstellung begründete, mit den denkwürdigen Worten zur Einspruchsrücknahme zu bewegen versucht: „In den Akten steht es anders, Herr O.“ – in den Akten, wohlgemerkt, die in dieser Aussage-gegen-Aussage-Konstellation von der Gegenseite angelegt wurden.

Die Ampel: Polizisten sehen rot

Unverläßlichkeit von Polizistenaussagen? Soll es geben – selbst in Fällen, wo von der Aussage nicht die eigene Strafbarkeit abhängt. Im Jahr 2011 wurden zwei Fuldaer Polizisten wegen Verfolgung Unschuldiger angeklagt, nachdem sie ein Bußgeldverfahren gegen eine Autofahrerin eingeleitet hatten, die kurz nach Mitternacht beim Abbiegen eine rote Ampel überfahren haben soll. Was die Polizisten nicht wußten, war, daß die Ampel jede Nacht um 23 Uhr automatisch in einen Gelb-Blink-Warn-Modus umschaltet. Nachdem eine technische Überprüfung übergab, daß diese Automatik auch in fraglicher Nacht einwandfrei funktionierte, wurde die Autofahrerin freigesprochen und die Ermittlungen richteten sich sodann gegen die Polizisten. Vor dem Amtsgericht wurden sie zu Geldstrafen verurteilt. Der Strafrahmen lautet zwar drei Monate bis fünf Jahre Freiheitstrafe (§ 344 Abs. 2 StGB), aber wenn man im untersten Bereich bleibt (wie es bei Polizisten grundsätzlich geboten ist), hilft § 47 Abs. 2 StGB. Der junge Richter versäumte auch nicht, zu erkennen zu geben, wie unangenehm es ihm ist, die Polizisten zu verurteilen („Kein Richter verurteilt gerne einen Polizisten“). Eleganter wurde der Fall in der Berufungsinstanz gelöst: Freispruch, weil sich die Polizisten nur geirrt haben, also kein Vorsatz vorlag. – Was wäre übrigens, wenn sich Kingsley O. bei „Friß den Neger“ aufgrund seiner Streßsituation nur verhört hat, also das strafschärfend festgestellte „penetrante Nachtatverhalten“ nur auf Irrtum und nicht Vorsatz beruhte?

Polizisten und die Wahrheitspflicht

Unverläßlichkeit von Polizistenaussagen? Soll es geben – vor allem in Fällen, wo von der Aussage die eigene Strafbarkeit oder die von Kollegen abhängt. Davon wußte der Vorsitzende Richter Manfred Steinhoff bei der Urteilsverkündung der ersten Hauptverhandlung um den Feuertod von Ouri Jalloh (LG Dessau-Roßlau, 6 Ks 4/05) ein Lied zu singen:

„Es ist schon erschreckend, in welchen Maße hier schlicht und ergreifend falsch ausgesagt wurde.“, stellt er zum Verhalten zahlreicher Polizeibeamten vor Gericht fest. Später macht er dieses Aussageverhalten direkt für das Scheitern des Verfahrens verantwortlich: „Die Wahrscheinlichkeiten reichen nicht aus, um irgendjemanden zu verurteilen. Das Ganze hat mit Rechtsstaat nichts mehr zu tun.“ Schließlich ergänzt er: „Das, was hier geboten wurde, war kein Rechtsstaat mehr und Polizeibeamte, die in einem besonderen Maße dem Rechtsstaat verpflichtet waren, haben eine Aufklärung verunmöglicht. All diese Beamten, die uns hier belogen haben, sind einzelne Beamte, die als Polizisten in diesem Land nichts zu suchen haben.“ Gänzlich resigniert meint Steinhoff: „Ich habe keinen Bock mehr, zu diesem Scheiß mehr zu sagen.“

Strafverfahren aufgrund von Anzeigen gegen Polizisten scheinen unter anderen Vorzeichen geführt zu werden als sonstige Strafverfahren. Angefangen bei den Ermittlungen durch die Polizei, oft sogar geführt von der eigenen Dienststelle des Beschuldigten. Anzeigeerstatter und andere Zeugen können sich bei der Aufnahme ihrer Aussage leicht in einer Atmosphäre der Feindseligkeit mit einer Note Einschüchterung wiederfinden („Sie stehen unter Wahrheitspflicht! Bleiben Sie wirklich bei Ihrer Aussage?”). Der Aufklärungseifer von – auch unbeteiligten – Polizisten kann spürbar geringer ausgeprägt sein als in anderen Fällen:

Mit einer Rüge bedachte Götz auch die Aussage einer internen Ermittlerin der Polizei: Sie war dafür verantwortlich, die Anzeigen gegen die Polizisten zu prüfen – und damit eigentlich die perfekte Belastungszeugin, um die angeblichen Lügen aufzudecken. Stattdessen offenbarte sie den verblüfften Anwälten eine andere Begründung für die Einstellung der Ermittlungen gegen die Polizeibeamten: Sie sehe grundsätzlich keinen Sinn darin, Aussagen ihrer Kollegen in Uniform in Frage zu stellen. Nach Erklärungen für Widersprüche zwischen den Darstellungen der Polizisten und ihren Protokollen aus der fraglichen Nacht habe sie gar nicht erst gefragt.

Sollte ein Fall doch zur Anklage gelangen, läuft das gerichtliche Aufklärungsbemühen regelmäßig gegen die Mauer des Korpsgeistes (Motto eines SEK-Kommandoführers aus einer internen polizeilichen Vernehmung: „Es gibt keine falschen Maßnahmen, es gibt nur falsche Begründungen.“), so in einem Fall aus dem letzten Jahr vor dem AG Karlsruhe:

Nur ein Polizeipraktikant hatte den angeklagten Beamten beschuldigt, dem 17-Jährigen ins Gesicht getreten zu haben. Ein anderer räumte ein, er selbst habe das Opfer möglicherweise beim Anlegen von Handschellen verletzt und so den fünffachen Nasenbeinbruch verursacht. Er könne sich aber nicht genau erinnern.

Die Richterin bekommt einen Brief

Ein Richter, der im Einzelfall doch einmal zu dem Ergebnis kommt, ein Polizist habe sich strafbar gemacht, muß sich warm anziehen. Der oben zitierte Richter, der sich für die Verurteilung quasi entschuldigte, ist dafür ein Beispiel („Vor dem Gesetz sind alle gleich – das sagt unser Grundgesetz“). Das ganze Ausmaß öffentlichen Mobbings erlebte eine schleswig-holsteinische Richterin, die es im Jahr 2011 wagte, aus der stillschweigenden Kultur der Straflosigkeit auszuscheren und einen Polizisten zur denkbar milden Strafe von 90 Tagessätzen verurteilte (AG Elmshorn, Urteil vom 6. Juni 2011 – 30 Ds 309 Js 30050/10). Der Fall: Ein Nachbar hatte sich über Lärmbelästigung aus der Wohnung des späteren Geschädigten G. beschwert. Der später angeklagte Polizist und ein Kollegen begaben sich zu dieser Wohnung und unterrichteten G. von der Beschwerde. Zufällig hatten die Polizisten und G. ein paar Stunden zuvor schon miteinander zu tun: sie hatte G. im Rahmen einer anderen Auseinandersetzung aus der Wohnung von dessen Freundin verwiesen, ohne daß es zu einem Zwischenfall gekommen wäre. G. behandelte die Polizisten unfreundlich und abweisend, verwies zutreffend darauf, daß jetzt ja keine Musik laufe und schloß die Tür. Die Polizisten warten daraufhin eine Weile im Hausflur. Nach ein paar Minuten ertönte laute Musik. Die Polizisten klingelten erneut. Der weitere Hergang war laut Urteil folgender:

Der Zeuge G. öffnete die Tür. Der Angeklagte teilte ihm mit, dass er nun in Gewahrsam genommen werde. Der Zeuge G. nahm dies zur Kenntnis und bat den Angeklagten und den Zeugen PM … in seine Wohnung. Er wollte noch die Musik ausschalten und den PC herunterfahren, sowie einige Sachen für den Gewahrsam zusammenpacken und dann mit beiden mitkommen. Der Angeklagte und der Zeuge PM … bedeuteten dem Zeugen G., dass er dieses tun solle. Er schaltete den Computer aus und begab sich zu seinem Sofa, welches in dem ca. 20qm großen Wohnzimmer steht. Der Zeuge G. setzte sich und fing an, einige Sachen sowie sein Portemonnaie und sein Handy zusammenzusammeln. Auf die Aufforderung des Angeklagten, nun vom Sofa aufzustehen und endlich mitzukommen, erklärte der Zeuge G., dass er dieses tun werde, nachdem er sich noch eine Zigarette gedreht und diese geraucht habe. Der Angeklagte erklärte ihm, dass dieser Vorgang nicht abgewartet werden solle und er nunmehr direkt mit beiden mitkommen müsse. Der Zeuge G. entgegnete darauf, dass sie, also beide Beamten, ‚dies ja mal versuchen könnten‘ und er sich erst, wie bereits gesagt, eine Zigarette drehen würde.

Der Angeklagte stand während dieser Diskussion aus Sicht des Zeugen G. auf der anderen Seite des Wohnzimmertisches unmittelbar vor dem Sofa und damit nur in sehr geringer Entfernung zu dem Zeugen G. Der Zeuge PM G. stand direkt neben dem Angeklagten. Da der Zeuge G. sich weiter mit dem Tabak beschäftigte und keine Anstalten machte, von selbst mit dem Angeklagten und dem Zeugen PM G. mitzugehen, zog der Angeklagte das Reizstoffsprühgerät (RSG III) von seinem Gürtel und sprühte dessen Inhalt dem Zeugen G. direkt ins Gesicht. Der Zeuge G. saß zu diesem Zeitpunkt noch immer auf dem Sofa. Dabei wollte der Angeklagte auf diese Art und Weise eine etwaige körperliche Auseinandersetzung mit dem Zeugen G. an sich abwenden, bzw einer solchen vorbeugen. Der Angeklagt wusste um die Wirkung des Reizstoffes, der erheblichen Schmerzen in den Augen und den Atemwegen hervorruft. Der Angeklagte verfügt über umfangreiche Berufserfahrung im Hinblick auf den Einsatz von RSG III.

Dieses Geschehen wertete die Strafrichterin als Körperverletzung im Amt und verhängte die gesetzliche Mindeststrafe. Im Urteil hob sie klarstellend hervor: „Der Geschädigte saß auf dem Sofa in seiner Wohnung und drehte sich eine Zigarette. Er war nicht im Begriff, die Beamten anzugreifen.“ Der Angeklagte sei auch nicht in einer Konstellation gewesen, in der er irrtümlich die Voraussetzungen für einen Waffeneinsatz annahm (ein Fall, in dem übrigens Strafbarkeit wegen fahrlässiger Körperverletzung in Betracht gekommen wäre, § 229 StGB).

Als Reaktion auf dieses Urteil bekam die Richterin postwendend – die Begründung war noch nicht einmal geschrieben – eine Lektion in Korpsgeist von „ganz oben“: Innenminister Klaus Schlie (jetzt Landtagspräsident) schrieb der Richterin einen Brief – mit Durchschlag für die Polizeidienststellen des Landes – und belehrte sie, daß sie von den Schwierigkeiten und Nöten der Polizeiarbeit keine Ahnung habe. Um das zu beheben, lade er sie aber ein, einmal bei einer Nachtfahrt von Polizisten dabeizusein („Bitte wenden Sie sich für eine entsprechende Terminabsprache an meinen persönlichen Referenten, Sylvio Arnoldi.“). In einem solchen Klima der Einschüchterung war es kein Wunder, daß der pfeffersprayende Polizist vom Berufungsgericht (ein Berufsrichter, zwei Schöffen) freigesprochen wurde (LG Itzehoe, Urteil vom 15. November 2011 – 3 Ns 52/11), mit einer windelweichen Begründung („Konnte jedoch nicht zweifelsfrei festgestellt werden“, „Gericht war nicht mit der für eine Verurteilung erforderlichen Sicherheit davon überzeugt“, „war nicht auszuschließen“), die in Kontrast steht zu der Gewißheit, mit der Richter sonst Feststellungen zu treffen pflegen.

Minister Schlie mußte sich wegen seiner Übergriffigkeit in die Justiz keine Sorgen machen. Auch nachdem er von verschiedenen Seiten – unter anderem vom Justizminister – kritisiert wurde, ließ er sich nicht beirren, sondern stand zu seinem Brief. Denn die Haltung des Ministers, Polizisten möglichst viel Freiraum zu geben und sie vor der Justiz zu immunisieren, entspringt, wie es scheint, aus der „Mitte der Gesellschaft“ und kommt dort gut an. Im Eingangs angesprochenen aktuellen Stuttgarter Fall läßt sich dies an den Leserkommentaren zum SWR-Bericht ablesen, wo die Mehrzahl der Kommentatoren sich mit den prügelnden Polizisten solidarisiert („Wer nicht hören will muß fühlen – das gilt in ganz besonderem Maße für Menschen, die sich polizeilichen Anordnungen widersetzen. […] Dem Typen aus dem Video wünsche ich, dass er neben der Härte des Schlagstocks auch noch die volle ‚Härte‘ des Gesetzes erfährt.“).

Die Schutzbedürftigkeit von Polizisten

Es ist populär, und wird deshalb von der Politik gerne betrieben (jetzt gerade wieder), die Strafvorschriften für Gewalt gegen Polizisten immer weiter zu verschärfen (ganz ungeachtet der kriminologischen Frage der Wirksamkeit), während strukturelle Verbesserungen zur Verhinderung und effektiveren Verfolgung von (ungerechtfertigter) Gewalt durch Polizisten (wie etwa die Einrichtung unabhängiger Ermittlungsinstanzen) vehement abgelehnt werden.

Diesem Geist faktischer Immunisierung polizeilichen Fehlverhaltens vor Strafverfolgung kann sich nun einmal auch die Justiz, selbst Teil der Gesellschaft, nicht oder nicht immer entziehen. Der Schutzreflex zugunsten der Polizei treibt mitunter skurrile Blüten: Nach Meinung der Staatsanwaltschaft Nürnberg-Fürth darf in einem Fall einer objektiv rechtswidrigen Gewaltanwendung durch einen Polizisten nicht einmal die Mutmaßung, der Fehler könnte auf Fremdenfeindlichkeit beruhen, öffentlich ausgesprochen werden. Eine Medienaktivistin, die dies wagte, wurde auf Verlangen des Dienstvorgesetzten des Polizisten mit einem Strafverfahren wegen Verleumdung überzogen. Auch wenn es in diesem Fall zu dem eigentlich selbstverständlichen – allerdings unnötig langatmig begründeten – Freispruch kam (AG Erlangen, Urteil vom 24. März 2010 – 4 Cs 404 Js 45405/09), wiederholte sich hier – in abgewandelter – Form, das bei Thematisierung von Polizeigewalt gängige Schema der Gegenanzeige, das schon für sich ein effektives Klima der Repression schafft.

Vor diesem Hintergrund ist auch klar, daß nicht nur – wie oben zitiert – Richter ungern Polizisten verurteilen, sondern erst recht auch Staatsanwälte ungern gegen Polizisten ermitteln. Wenn sie sich zu sehr engagieren, kann es unangenehm für sie werden. Einer der Gründe, warum der ehemalige Hamburger Generalstaatsanwalt Lutz von Selle abgesägt wurde (korrekt: freiwillig gegangen ist – der Status des politischen Beamten wurde inzwischen in allen Ländern abgeschafft), war, daß er – erfolglos – darauf bestanden hatte, daß die Staatsanwaltschaft – und nicht die Polizei – in einem Falle die Ermittlungen leiten dürfe (wie es das Gesetz ohnehin vorsieht), in dem es um die Frage ging, ob ein angeblicher Überfall auf eine Polizeiwache tatsächlich stattgefunden hatte oder von der Polizei fingiert worden war.

Der BGH wundert sich

Im Zweifel lieber nicht anklagen – oder nicht in vollem Umfang anklagen – über solche für die Staatsanwaltschaft untypischen Beißhemmungen in Fällen polizeilichen Fehlverhaltens hat sich sogar der BGH in den letzten Jahren mehrfach laut gewundert. So war es im Fall des Brechmitteltodes auf einer Bremer Polizeiwache, in dem lediglich der Arzt wegen fahrlässiger Tötung angeklagt worden war. Er wurde freigesprochen, auch auf Antrag der Staatsanwaltschaft. Der Fall hätte demnach beendet sein können, hätte es in diesem Fall nicht eine Nebenklage gegeben, die alleine Revision einlegte. Der BGH hob das Urteil auf und verwies das Verfahren an das Schwurgericht zurück, vor dem die Staatsanwaltschaft nach Meinung des BGH das Verfahren von vornherein hätte anklagen müssen, denn es stehe nicht nur eine – im Übrigen fehlerhaft verneinte – fahrlässige Tötung, sondern auch eine vorsätzliche Körperverletzung mit Todesfolge im Raum. Außerdem äußerte der BGH im letzten Satz seines Urteils vom 29. April 2010 – 5 StR 18/10 – sein Unverständnis, daß nicht die eigentlich verantwortlichen Polizisten angeklagt werden, obwohl dies „greifbar nahe liegt“. Diese wurden auch in der Folge nie angeklagt und der Arzt selbst wurde im neuen Verfahren vor dem LG Bremen – auf Antrag der Staatsanwaltschaft – wieder freigesprochen. Erneut lag es an der Nebenklage, den Fall vor den BGH zu bringe, der ein zweites Mal aufhob (dazu hier im Blog der Beitrag „Wird die Bremer Justiz den BGH austricksen?“). Ein weiteres Urteil des Landgerichts – und damit eine drohende dritte Aufhebung durch den BGH – wurde vermieden, indem das Verfahren eingestellt wurde – mit Zustimmung der Mutter des Verstorbenen als Nebenklägerin, die ihr mit 20.000 Euro „vergoldet“ wurde.

Ein weiterer Fall, in dem der BGH einschreiten mußte, nachdem die Staatsanwaltschaft in die Rolle einer zweiten Verteidigung der Angeklagten geschlüpft war, betrifft polizeiliche Aussetzer im engeren Sinn. Der Fall ist auch deshalb besonders interessant, weil vor drei Monaten ein Landgericht über einen Fall entschieden hat, der so ähnlich gelagert ist, daß man fast von einem Zwillingsfall sprechen kann. Dieser aktuelle Fall ging allerdings anders aus, weil das Landgericht das BGH-Urteil ignorierte (und ignorieren konnte, denn mangels Nebenklage bestand keine Gefahr, daß der Fall vor den BGH gelangen würde).

Polizeiliche Aussetzer I

Vor dem LG Lübeck waren im Jahr 2006 zwei Polizisten angeklagt. Es ging um einen Einsatz aus dem Jahre 2002 (!), in dem sie – weit nach Mitternacht – den alkoholisierten (BAK 1,99 ‰) und desorientierten 18-jährigen Gymnasiasten S. in ihre Obhut genommen hatten. Ihr ursprüngliches Vorhaben, S. in Polizeigewahrsam zu bringen, verwarfen sie, kurz nachdem S. in ihren Streifenwagen gestiegen war. Stattdessen entschlossen sie sich „den Heranwachsenden in den benachbarten polizeilichen Zuständigkeitsbereich zu schaffen, um den ausgesprochenen Platzverweis durchzusetzen und einen Störer los zu sein.“ Sie fuhren ihn an die 10 km entfernte Ortsgrenze und überließen ihn dort sich selbst. S. trat zunächst seinen Fußmarsch zurück in den Ortskern an. Nach zwei Kilometern setzte er sich auf die Straße und wurde von einer Autofahrerin mit überhöhter Geschwindigkeit, die ihn zu spät sah, angefahren. Er war sofort tot.

Das Schwurgericht am LG Lübeck verurteilte beide Polizisten jeweils wegen fahrlässiger Tötung zu Freiheitsstrafen von neun Monaten (magische Grenze minus 3), ausgesetzt zur Bewährung. Nicht nur die Angeklagten, sondern auch die Staatsanwaltschaft legten gegen das Urteil Revision mit dem Ziel eines Freispruchs ein. Diese Rechtsmittel blieben erfolglos. Erfolg hatte hingegen die Revision der Eltern des Getöteten als Nebenkläger. Diese machten nach Meinung des BGH (und entgegen der Meinung des Generalbundesanwalts) zurecht geltend, daß das Landgericht den Straftatbestand der Aussetzung mit Todesfolge (§ 221 Abs. 1, 3 StGB; Regelstrafrahmen: 3 bis 15 Jahre Freiheitsstrafe) aufgrund der Feststellungen nicht hätte verneinen dürfen. Der BGH verwies deshalb mit Urteil vom 10. Januar 2008 – 3 StR 463/07 – den Fall zur erneuten Verhandlung an ein anderes Landgericht, das LG Kiel. Dieses klärte den Sachverhalt neu auf und verurteilte den Streifenführer wegen Aussetzung mit Todesfolge zu einer Freiheitsstrafe von 1 Jahr und 6 Monaten, ausgesetzt zur Bewährung. Den anderen, zur Tatzeit 21 Jahre alten Polizisten verurteilt es – erneut – wegen fahrlässiger Tötung zu einer Bewährungstrafe von neun Monaten. Bei diesem verneinte das Schwurgericht den Aussetzungsvorsatz unter anderem mit der Begründung, daß er sich im Verhältnis zum Streifenführer als der auch dominanteren Person „im Wesentlichen als ausführendes Organ begriff“ und sich über dessen Anordnungen keine weitere Gedanken machte. Der Streifenführer selbst kam in den Genuß der Annahme eines minder schweren Falles, wodurch sich der Strafrahmen auf 1 bis 10 Jahre reduzierte.

Dieses Urteil, gegen das die Revision des Streifenführers erfolglos blieb (BGH, Beschluß vom 17.02.2009 – 3 StR 37/09; eine Revision der Nebenkläger gegen die Strafhöhen, einschließlich der Bejahung eines minder schweren Falls, wäre unzulässig gewesen, § 400 Abs. 1 StPO), wäre in mehreren Punkten einer genaueren Betrachtung wert. Hier aber nur zwei kurze Anmerkungen: Auffällig sind die völlig abweichenden Einschätzungen der beiden Schwurgerichte zur Schuldverteilung zwischen den beiden Angeklagten. Wie konnte es passieren, daß die ersten Richter, die in der Strafzumessung ein Einheitsmaß für beide anwendeten, die untergeordnete Verantwortung des jüngeren so völlig übersahen? Unabhängig von der Frage, ob auch der Verbrechenstatbestand der Aussetzung einschlägig ist, hätte die vom LG Kiel erkannte Rollenverteilung auch bei der Strafzumessung für eine „bloße“ fahrlässige Tötung zur massiven Differenzierung zwischen beiden führen müssen. Hatte sich das LG Lübeck für diesen Punkt nicht näher interessiert und die Strafzumessung Pi mal Daumen vorgenommen? Oder hat umgekehrt das LG Kiel diesen Punkt überbelichtet, um eine insgesamt als gerechter empfundene Lösung revisionssicherer zu machen? Was jedenfalls die Strafzumessungserwägung des LG Kiel hinsichtlich des Streifenführers angeht, so halte ich sie nicht für überzeugend. Die meisten der angegebenen Gründe dafür, daß ein minder schwerer Fall der Aussetzung vorliegen soll (Angeklagter unbestraft, Verlust des Beamtenstatus, lange Verfahrensdauer, Andeutung von Bedauern über den Tod – allerdings bei Zurückweisung jeder Verantwortung), sind – wenn überhaupt – Gründe, die für die Strafzumessung innerhalb des Strafrahmens eine Rolle spielen, aber eher nicht das Gewicht haben, einen Sonderfall anzunehmen. Hier war ersichtlich die Entscheidung ergebnisorientiert im Hinblick auf die zweite „magische Grenze“, die von zwei Jahren, bei deren Überschreitung eine Aussetzung zur Bewährung nicht mehr möglich gewesen wäre. Besonders befremdlich ist das Argument, auch der – hier in jedem Fall eintretende – Verlust des Beamtenstatus mache den Fall zu einem Sonderfall, der den Regelstrafrahmen unangemessen erscheinen lasse. Denn jeder Beschäftigte, der zu einer zu vollziehenden Freiheitsstrafe verurteilt wird, verliert infolgedessen typischerweise seinen Arbeitsplatz. Warum das dann aber bei einem Beamten, dem es als Folge einer Straftat passiert, eine besondere Härte sein soll, ist nicht verständlich. Mit der gegebenen Begründung verwandelte vielmehr das Landgericht die gesetzliche Regelung über die Entfernung aus dem Beamtenverhältnis bei besonderen schweren Taten in eine gegenläufige Privilegierung von Beamten bei der Strafzumessung.

Polizeiliche Aussetzer II

Der „Zwillingsfall“ wurde kürzlich vor dem LG Kleve verhandelt: Angeklagt waren zwei Moerser Streifenpolizisten, die – über einen Tag verteilt – mehrfach mit einem Alkoholiker, T., beschäftigt waren. Dieser war am Vormittag des 29. Dezember 2014 wegen Entzugserscheinungen von einem Bekannten in ein Krankenhaus gebracht worden, wo er auf der Intensivstation aufgenommen wurde. Dort krakelte er bald herum und entließ sich gegen ärztlichen Rat selbst. Er blieb jedoch auf dem Krankenhausgelände, trank dort Alkohol und störte weiter. Weil er trotz Aufforderung das Gelände nicht verließ, wurde die Polizei gerufen. Es erschienen die Angeklagten und erteilten T. einen Platzverweis, den dieser zunächst befolgte. In seinem Rausch drängte es ihn aber immer wieder zu dem Krankenhaus zurück, so daß die Polizisten immer wieder angefordert werden mußten und, sofern sie T. auffanden, den Platzverweis wiederholten. Beim vierten Einsatz in diesem Krankenhaus, bereits am Abend, nahmen sie T., wie zuvor angedroht, in Gewahrsam. Auf der Polizeiwache wurde von der Wachdienstführerin aufgrund der offensichtlichen Alkoholprobleme des T. ein Arzt hinzugezogen. Dieser führte etwa eine Stunde später die Untersuchung durch und kam zu dem Ergebnis, daß T. auf Grund seines „Alkoholismus“ und zu erwartender „Entzugserscheinungen“ nicht gewahrsamsfähig sei (zwei Stunden später wurden beim toten T. eine BAK von 3,44 ‰ festgestellt). Die Wachdienstführerin und die Angeklagten entschieden daraufhin, ihn „fußläufig von der Wache zu entlassen“. Eine halbe Stunde, nachdem T. aus der Hintertür der Wache getorkelt war, ging ein Anruf von dem auf der gegenüberliegenden Straßenseite gelegenen Krankenhaus – ein anderes als das der ersten Einsätze – mit der Meldung ein, daß dort ein Betrunkener aufgetaucht sei, der sich in ein Bett gelegt habe und sich weigere, es zu verlassen. Die wiederum dorthin entsandten Angeklagten fanden, wie vermutet, wieder T. vor. Die Wachdienstführerin entschied daraufhin, nach Rücksprache mit der Leitstelle, daß die Angeklagten T. zu dessen im Innenstadtbereich gelegenen, etwa fünf Fahrminuten entfernten Wohnanschrift, bringen sollte. Die Angeklagten entschieden sich jedoch – nach den Feststellungen des Landgerichts – ohne Rücksprache für eine andere Lösung: Sie fuhren die umgekehrte Richtung und verbrachten T. an die Stadtgrenze und setzten ihn am Straßenrand ab. „Hiermit bezweckten sie, weitere Einsätze im Zusammenhang mit dem später Verstorbenen zumindest während ihrer restlichen Dienstzeit zu verhindern, die sie im Falle einer Verbringung zu seiner Wohnanschrift befürchteten.“ – „Anschließend meldeten sie, ihn zu seiner Wohnanschrift verbracht zu haben, beendeten den Einsatz und fuhren zurück zur Wache.“ T., der sich nun bei Dunkelheit und Kälte in einer ihm fremden Gegend wiederfand, versuchte mehrfach, durch Ansprechen von Passanten und Anhalten von Autos herauszubekommen, wie es zurück in die Stadt ginge. Seine Bitte, ihn mitzunehmen, wurde von niemandem erfüllt, was angesichts des Umstands, daß er alkoholisiert war und verwirrt erschien, außerdem vielfach eingekotet und eingenäßt war, nicht verwundert. Auch die Bitte, in einem Wohnhaus an der Straße Aufnahme zu finden, um sich zu wärmen, wurde ihm verwehrt. Etwa 20 Minuten, nachdem er von den Polizisten abgesetzt worden war und seinen Fußmarsch zurück in die Stadt begonnen hatte, trat er ein letztes Mal auf die Straße, um ein Auto anzuhalten. Er wurde von einem Autofahrer mit überhöhter Geschwindigkeit, der ihn zu spät sah, angefahren. Er war sofort tot.

Aufgrund dieses festgestellten Sachverhalts verurteilte die auswärtige Große Strafkammer des Landgerichts Kleve in Moers die Angeklagten jeweils wegen fahrlässiger Tötung zu Freiheitsstrafen von sechs Monaten, ausgesetzt zur Bewährung (Urteil vom 27. Dezember 2016 – 3 KLs 7/16). Die Staatsanwaltschaft hatte für die Angeklagten jeweils eine Strafe von einem Jahr auf Bewährung sowie eine Geldstrafe von 2500 Euro beantragt. Das Urteil ist inzwischen rechtskräftig, nachdem beide Angeklagten ihre Revisionen zurückgenommen haben. Die Staatsanwaltschaft hatte keine Revision eingelegt, eine Nebenklage gab es nicht. In der Presse wurde ein Polizeifachmann im Hinblick auf ein noch offenes Disziplinarverfahren mit der Einschätzung zitiert, es sei „eher nicht zu erwarten, daß die beiden aus dem Dienst entlassen werden“.

Ich denke, es versteht sich vor dem Hintergrund der Entscheidung des BGH vom 10. Januar 2008 – 3 StR 463/07 – von selbst, daß diese Form der Aufarbeitung des tragischen Geschehens durch das LG Kleve vor dem BGH keinen Bestand gehabt hätte, wenn es jemanden gegeben hätte, der das Verfahren vor das Revisionsgericht gebracht hätte. Doch – anders als in den geschilderten Fällen aus Bremen und Lübeck – galt hier: Wo kein Nebenkläger, da kein „Nebenrichter“ (in Gestalt des BGH). Von der Staatsanwaltschaft war eine Veranlassung der revisionsrechtlichen Überprüfung der Nichtanwendung des Aussetzungstatbestands ohnehin nicht mehr zu erwarten, hatte sie doch – obwohl dieser Tatbestand nach der BGH-Rechtsprechung im Raum stand – den Fall nicht vor dem hierfür zuständigen Schwurgericht (§ 74 Abs. 2 Satz 1 Nr. 6 GVG), sondern der einfachen Großen Strafkammer angeklagt. Ich will keineswegs behaupten, daß der vom Landgericht festgestellte Sachverhalt für sich bereits eine Verurteilung wegen Aussetzung mit Todesfolge erzwungen hätte. Ein – auch revisionsrechtlich relevanter – Fehler liegt jedenfalls darin, daß die Strafkammer diesen Tatbestand bei ihrer Sachverhaltsaufklärung und rechtlichen Würdigung nicht in den Blick genommen hat (Stichwort „Erörterungsmangel“). Der Umstand, daß sie selbst aus Zuständigkeitsgründen eine entsprechende Verurteilung nicht hätte aussprechen können, steht einer Aufklärungs- und Erörterungspflicht nicht entgegen, da sie bei Bejahung einer Aussetzung verpflichtet gewesen wäre, das Verfahren an das Schwurgericht zu verweisen (§ 270 StPO; siehe im Übrigen das erwähnte BGH-Urteil im Brechmittelfall, mit dem der BGH das Urteil einer allgemeinen Strafkammer aufhob und an das Schwurgericht zurückverwies).

Interessant ist aber auch die Begründung der Kammer, warum sie – innerhalb des Strafrahmens für fahrlässige Tötung von Geldstrafe bis 5 Jahren Freiheitsstrafe – auf eine Bewährungsstrafe von 6 Monaten erkannte: Neben den gängigen Gesichtspunkten zugunsten der Angeklagten (nicht vorbestraft, längeres Zurückliegen der Tat – was allerdings bei nicht einmal zwei Jahren etwas bemüht klingt -, Mitschuld des – gesondert verurteilten – eigentlichen Todesfahrers), findet sich die erstaunliche Hauptüberlegung „Schließlich und insbesondere werden sie Zeit ihres Lebens mit der Gewissheit leben müssen, den Tod eines anderen Menschen verantwortet zu haben.“. Das kann man originell finden: Der blanke Umstand, daß die Angeklagten einen Menschen getötet haben, ist nicht nur der Grund für ihre Bestrafung, sondern gleichzeitig ein mildernder Umstand. Weiter gedacht würde das bedeuteten, daß der Bad Aiblinger Fahrdienstleiter besonders milde bestraft werden müßte, da er mit der Gewißheit leben muß, sogar 12 Menschen getötet zu haben. Gleichwohl wurde er – nachvollziehbarerweise – zu dreieinhalb Jahren Gefängnis verurteilt, für ein Verhalten, das eher dem Bereich der unbewußten Fahrlässigkeit zuzurechnen ist, während es sich im hiesigen Fall zumindest um bewußte Fahrlässigkeit handelte (ob darüber hinaus bedingter Vorsatz in Bezug auf die Gefahrschaffung vorlag, wäre wiederum Teil der Prüfung des Aussetzungstatbestands gewesen).

Für ein Ende der Sonderrechtsprechung in Strafverfahren gegen Polizisten – um noch einmal das vorsichtige Desiderat des jungen Richters von oben zu zitieren: „Vor dem Gesetz sind alle gleich, das sagt unser Grundgesetz“ – ist es wohl noch ein weiter Weg.

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