De legibus-Blog

30. Dezember 2012

Strafprozeß im Wandel – Innenansicht trifft auf Außenansicht

Zu einer Erwiderung von Lorenz Leitmeier (Subsystem Recht) auf Gisela Friedrichsen (Subsystem Medien)

Oliver García

Wenn jemand die Ehre von Strafverfolgungsorganen in Frage stellt, dann können bayerische Staatsanwälte rotsehen. Ein Schrotthändler mußte dies vor drei Wochen erleben, als sich in einer Hauptverhandlung gegen ihn Staatsanwalt Hubert Krapf in Rage redete. Krapf bezeichnete den Schrotthändler als „menschlichen Abschaum“. Was hatte dieser getan? Einen Völkermord angezettelt? Einen Kinderschänderring angeführt? Schlimmer: Er hatte es gewagt zu behaupten, Kriminalbeamte hätten ihn zu einer falschen Aussage nötigen wollen.

Es handelte sich um einen Ausläufer des Falles um den Bauern Rupp: 2005 waren Familienangehörige vom LG Ingolstadt der Tötung des Familienvaters Rupp überführt und zu langjährigen Freiheitsstrafen verurteilt worden. Rupp soll von ihnen erschlagen, aufgekocht und an die Hunde verfüttert worden sein. Innenminister Günther Beckstein war persönlich daran interessiert, schnellstens zu erfahren, ob die Polizeiarbeit zum Erfolg geführt hatte und ließ sich das Urteil telefonisch durchgeben. Die Überzeugung des Gerichts von der Tötung beruhte auf Geständnissen und Zeugenaussagen.

Vier Jahre später wurde Rupps Auto aus der Donau geborgen, mit seiner Leiche auf dem Fahrersitz – er war also nicht von den Hunden gefressen worden. Trotzdem wollten zunächst weder die Staatsanwaltschaft noch das zuständige Gericht etwas von einer Wiederaufnahme wissen. Erst auf eine Beschwerde beim OLG München hin wurde der Wiederaufnahmeantrag der Verurteilten für zulässig erklärt. In der Folge wurden sie freigesprochen.

Wie war es zu den grotesk falschen Geständnissen und Zeugenaussagen gekommen, aufgrund derer sie verurteilt worden waren? Der Staatsanwalt und die Kriminalbeamten, die diesem „hinhundeln“ wollten (so der Ausdruck eines ungenannt gebliebenen Kriminalbeamten aus einer anderen Abteilung), hatten sich ein Verbrechen und einen Tathergang zurecht gelegt und ab irgendeinem Zeitpunkt hielt diese Version jeglichen Anfechtungen durch die Wirklichkeit stand. Ein Videoprotokoll einer Tatrekonstruktion, das ursprünglich ein Kronjuwel der Beweisführung sein sollte, belegt lehrbuchartig, wie die Polizisten die Zeugen mit ihrer Version fütterten, um sie dann als Zeugenaussage wieder abzufragen. Aussagen, die nicht die Paßform dieser Version hatten, wurden nachgebessert, bis sie paßten. Die auf diese Weise frisierte Realität wurde daraufhin zur Grundlage des gerichtlichen Verfahrens gemacht und in diesem Stadium griff ein dem derzeitigen Strafverfahrensrecht systemimmanenter Mechanismus ein, der in der Literatur mit „Perseveranz- und Schulterschlußeffekten“ beschrieben wird (nach Schünemann; lesenswert: RiOLG – jetzt RiBGH – Eschelbach, Absprachenpraxis versus Wiederaufnahme des Verfahrens, HRRS 2008, 190-208): Angeklagte werden von Staatsanwaltschaft und Gericht – sanft oder unsanft – zu Geständnissen überredet, die diese Version zur „forensischen Wahrheit“ gerinnen lassen und Zeugen werden – sanft oder unsanft – dazu gebracht, in den Konsens über diese Wahrheit einzutreten. In einem Pressebericht zu einem Verhandlungstermin aus dem Jahre 2005 läßt sich das so nachlesen:

Schwierig gestaltete sich gestern die Vernehmung des Mitarbeiters eines Schrotthändlers, in dessen Betrieb im Donaumoos laut Anklage der Mercedes des verschwundenen Bauern nach dem Verbrechen entsorgt worden war. Der 37-Jährige hatte das bei einer polizeilichen Anhörung zunächst bestätigt, wollte von dieser Aussage vor Gericht aber nichts mehr wissen. „Ich bin unter Entzug gestanden und hab irgendwas erzählt“, erklärte der alkoholkranke Mann. […] Erst als Vorsitzender Georg Sitka und Oberstaatsanwalt Christian Veh mit der Festnahme wegen Falschaussage drohten, räumte der 37-Jährige ein, dass in der fraglichen Nacht tatsächlich ein Mercedes im Schrotthandel seines Chefs beseitigt worden war.

Abweichungen von der forensischen Wahrheit, und sei es auch zugunsten der tatsächlichen Wahrheit, werden ab einem bestimmten Punkt unter Strafandrohung verhindert. VRiLG Georg Sitka, fünf Jahre später von SPIEGEL TV interviewt, konnte sich an Widersprüchlichkeiten in dem Fall nicht erinnern. Und OStA Christian Veh auf die Frage, ob er mit dem Auftauchen des Mercedes und der Leiche ein Problem habe: „Nö, wieso ein Problem?“

Mehr als ein Problem hatte der eingangs genannte Schrotthändler Ludwig H., der Chef des Angestellten aus dem Pressezitat: Nach der polizeilichen Wahrheitsversion hatte er den Mercedes Rupps (der später aus der Donau auftauchte) verschrottet. Also wurde er in Untersuchungshaft gehalten, fünf Monate lang. Doch auch das machte ihn nicht kooperativ. H. wollte nach dem staatsanwaltlich-polizeilichen Drehbuch nicht mitspielen. Er schilderte in der zweiten Hauptverhandlung – und später auch in SPIEGEL-TV – die Einzelheiten einer Vernehmung durch die Polizei so: Drei Stunden lang reden drei Kriminalbeamte (zwei Männer, eine Frau) auf ihn ein, konstruieren die Aussage, die er machen soll. Er verweigert ausdrücklich die Aussage. Sie fordern ihn auf, die zusammengebastelte Aussage zu unterschreiben. Er weigert sich. Sie bestätigen mit ihren Unterschriften unter dem Vernehmungsprotokoll, daß die Aussage von H. gemacht worden sei. Er weigert sich weiterhin, zu unterschreiben. Ein Kriminalbeamter zieht daraufhin seine Dienstpistole und hält sie H. an die Schläfe. Sagt: „Wir können auch anders: Hier geht es um Mord – hier dürfen wir alles.“ H. bleibt aber bei seiner Weigerung.

Erst Jahre später, nachdem offenbar wurde, daß die Aussage, die ihm untergeschoben werden sollte, nicht stimmen konnte, macht er diesen Vorwurf einer Aussageerpressung (§ 343 StGB) öffentlich. Wie reagierte die Staatsanwaltschaft? Ermittlungen gegen die beschuldigten Kriminalbeamten wurden nicht aufgenommen. Sie wurden nicht einmal verhört. Ermittelt wurde sofort gegen H., wegen falscher Verdächtigung (§ 164 StGB) und uneidlicher Falschaussage (§ 153 StGB). Und so kam es zu der Verhandlung gegen ihn vor dem AG Landshut und zu dem denkwürdigen Moment, in dem Staatsanwalt Hubert Krapf ihn „menschlichen Abschaum“ nannte und eine Freiheitsstrafe von einem Jahr und acht Monaten forderte, ohne Aussetzung zur Bewährung.

Eine Falschbeschuldigung ist eine gemeine Tat. Sie kann dazu führen, daß ein Unschuldiger für lange Zeit ins Gefängnis geht. Deshalb muß die Justiz streng sein mit denen, die eine falsche Verdächtigung aussprechen. Dies kann zum Beispiel so aussehen, daß eine Frau, die eine Vergewaltigung vorgetäuscht hat (ein Verbrechen, für das dem unschuldig Verdächtigten eine Freiheitsstrafe von mindestens zwei Jahren drohte), zu einer Geldstrafe verurteilt wird. In den Augen von StA Krapf hat H. aber – „menschlicher Abschaum“, der er ist – keine Vergewaltigung vorgetäuscht, sondern einen polizeilichen Übergriff. Die Verteidigung der Rechtsordnung erfordere es, daß H. dafür – wieder – ins Gefängnis geht. Nachahmer müßten abgeschreckt werden.

Nachahmer einer falschen Verdächtigung oder Nachahmer des Mutes, unzulässige Verhörmethoden in der Öffentlichkeit anzuprangern? Im Gerichtssaal des AG Landshut schien es, daß die forensische Wahrheit diesmal mit der wirklichen Wahrheit ein nicht so leichtes Spiel hatte wie damals am LG Ingolstadt. Strafrichter Bernhard Suttner jedenfalls zog es die Schuhe aus bei dem, was er in den vier Verhandlungstagen über die Methoden der Ingolstädter Staatsanwaltschaft und Kriminalpolizei erfuhr.

OStA Christian Veh etwa schickte H. die Wasserschutzpolizei auf den Hals. Einen Mercedes fanden sie zwar nicht, aber praktischerweise unsachgemäß gelagerte Schadstoffe. Wer bei einem Schrotthändler nur genug sucht, wird Umweltdelikte aufdecken. Nach Darstellung von H. hat ihm OStA Veh daraufhin vorgeschlagen, bei der Verfolgung der Umweltdelikte Entgegenkommen zu zeigen, wenn er das Verschwindenlassen des Mercedes eingestehe. H. gestand nicht und zahlte die 8000 Euro Geldstrafe. Ob nun H.’s Darstellung im letzten Punkt stimmt oder nicht: Schon das gezielte Suchenlassen nach Umweltdelikten ist ein Vorgehen, zu dem einem das Wort „Aussageerpressung“ einfällt. Ein Verhalten, das zwar nicht die Schwelle der Strafbarkeit nach § 343 StGB erreicht, das aber einen planmäßigen Verstoß gegen § 136a StPO darstellen dürfte.

Was aber Richter Suttner in seiner mündlichen Urteilsbegründung am 17. Dezember 2012 besonders hervorhob, war die Nonchalance, mit der in Ingolstadt Ermittlungen geführt wurden: OStA Veh gab eine polizeiliche Vernehmung als eine staatsanwaltliche aus, obwohl er keine einzige Frage stellte und in der mehrstündigen Vernehmung nur zehn Minuten anwesend war (hier könnte übrigens an § 348 StGB zu denken sein). Die Vernehmungsmethoden waren teilweise so bizarr, daß sich Suttner fragte, wie die betreffende Beamtin überhaupt in den Rang einer Hauptkommissarin kommen konnte.

Weil Suttner nach alldem nicht die Überzeugung erlangen konnte, daß H.’s Behauptung einer Bedrohung durch die Polizisten unwahr ist, sprach er ihn frei (Urteil des AG Landshut vom 17. Dezember 2012 – 9 Ds 7 Js 10306/11). Die Staatsanwaltschaft will gegen den Freispruch in Berufung gehen.

Man sollte im Auge behalten, wie die Disziplinarverfahren gegen die Staatsanwälte Christian Veh (Verstoß gegen § 136a StPO) und Hubert Krapf (Verstoß gegen die Menschenwürde) ausgehen – wenn sie denn überhaupt eingeleitet werden.


Und nun zu etwas völlig anderem:

Wenn jemand die Ehre von Strafverfolgungsorganen in Frage stellt, dann kann er es mit bayerischen Staatsanwälten zu tun bekommen. Die Gerichtsreporterin Gisela Friedrichsen mußte dies letzte Woche erfahren. Ein Vortrag von ihr mit dem Titel „Strafverteidigung im Wandel – Eine Außenansicht“, gehalten auf einer Strafverteidigertagung und danach als Druckfassung in StV 2012, 631 erschienen, hat nun eine Erwiderung von Lorenz Leitmeier, Staatsanwalt bei der Staatsanwaltschaft München II, erhalten: „Einflüsse auf die Strafverteidigung – interne und externe Faktoren“ (HRRS 2012, 540).

Friedrichsen befaßt sich in ihrem Text, anhand von vielen Beispielen, mit zwei großen Themenbereichen: Mit der Rolle der Medien im heutigen Strafprozeß zum einen und zum anderen mit dem Instrument der Verständigung (§ 257c StPO) und seinem Verhältnis zur Wahrheitssuche als Zweck des Strafverfahrens. Ihr Urteil ist nicht günstig. Es ist ihr angst und bange bei den Veränderungen im Strafprozeß, die sie als Gerichtsberichterstatterin wahrnimmt.

Leitmeier hat viel auszusetzen an Friedrichsens Behauptungen und Thesen. Schritt für Schritt nimmt er sie auseinander und sucht sie zu widerlegen. Er hält die von ihr behaupteten Veränderungen für „grandios überschätzt […]; im Kern hat sich die Strafverteidigung viel weniger verändert, als es bei erster Betrachtung scheint.“

Was er vorträgt, hinterläßt einen zwiespältigen Eindruck. Was Friedrichsen sagt, sei falsch, aber – so fast durchgängig die Struktur von Leitmeiers Beitrag – der Grund, warum es falsch ist, wird gleich wieder zurückgenommen: So schreibt Leitmeier etwa, die Medien kontrollierten nur die Justiz. „Sie steuern keinen Prozess maßgeblich, erst recht können sie einen Prozess nicht manipulieren.“ Denn: „Maßgebliche Entscheidungsregel für die Urteile bleibt jedoch die StPO, der ‚binäre Code‘ des Rechtssystems (‚Recht – Unrecht‘) ist nicht entscheidend von außen zu beeinflussen.“ Daß Medien einen Prozeß maßgeblich steuern könnten, hatte Friedrichsen freilich nicht behauptet. Vielmehr das, was Leitmeier ein paar Seiten weiter selbst schreibt: „Vielleicht lässt sich der ein oder andere Richter mit Blick auf die (vermutete) Berichterstattung beeindrucken, und wird von dem (menschlich verständlichen) Bemühen getrieben, ‚in der Öffentlichkeit gut dazustehen'“, um dann allerdings sofort tapfer auf die faktische Kraft des Normativen zurückzukommen: „strukturell ist das Rechtssystem durch „die Medien“ aber nicht steuer- oder gar manipulierbar.“

Bei Friedrichsens Kritik an der Verständigung stört sich Leitmeier an ihrem Bild, daß Richter sich zurücklehnen könnten, da sie die Trümpfe in der Hand haben (Leitmeier: „unhaltbares Zerrbild“). Doch zwei Absätze später ist der Ärger überwunden und Leitmeier schreibt selbst: „Die Verständigung mag das Gefälle zwischen Gericht und Verteidigung verstärken, da sie dem Gericht stärkere Macht verleiht als dem Verteidiger“. Und ergänzt, daß eine „ordentliche Verteidigung“ trotzdem möglich bleibe: „Innerhalb der grundsätzlich bestehenden Asymmetrie zwischen Gericht und Verteidigung belässt aber auch dieses Rechtsinstitut dem (gut vorbereiteten und) geschickt agierenden Verteidiger genug Spielraum, seinen Mandanten ordentlich zu verteidigen. Der gute Verteidiger nutzt die Verständigung gut, der nicht so gute Verteidiger lamentiert.“

Leitmotivisch durchzieht Leitmeiers Erwiderung die Behauptung vom unbestechlichen Vorrang der faktischen Kraft des Normativen vor der normativen Kraft des Faktischen: „Die autonome Vorgabe des Systems Recht aus Art. 20 Abs. 3 GG, die Bindung der Rechtsprechung an Recht und Gesetz, und die strengen prozeduralen Regeln der StPO […] sind jedenfalls nicht nur juristisch die einzig relevante Größe, auch tatsächlich stabilisieren nur sie das Rechtssystem.“ Daß die – zunächst richterrechtlichen, dann gesetzlichen – Regeln über die Verständigung, und mehr noch die teilweise außerhalb dieser Regelung agierende Praxis, eine gefährliche Eigendynamik haben könnten, wie nicht nur Friedrichsen, sondern alle Kritiker hervorheben (siehe nur den schon oben genannten Beitrag von Eschelbach, HRRS 2008, 190), ist für Leitmeier keine Größe („verfehlt die Rechtswirklichkeit; insbesondere, da der Angeklagte ein Rechtsmittel hat.“).

Zu der Meinungsverschiedenheit zwischen Friedrichsen und Leitmeier mag die Verfahrenshandhabung im Fall Rupp als Fallbeispiel dienen, obwohl es sich um keinen Verständigungsfall im eigentlichen Sinne handelte. Verständigungselemente hatte er trotzdem. Wurde das Geständnis – oder halbe Geständnis – der Angeklagten informell vom Gericht damit „belohnt“, daß sie nur wegen Totschlags statt, wie angeklagt, wegen Mordes verurteilt wurden (unabhängig davon, wie ein solches Synallagma überhaupt materiell-rechtlich konstruierbar wäre)? Entscheidender für den Beispielscharakter des Falles Rupp ist aber, es auch hier mit einem Strafprozeß zu tun haben, der sich nicht so sehr für die materielle Wahrheitsfindung interessierte, als dafür, wie möglichst reibungsfrei eine prozessuale, forensische Wahrheit etabliert werden konnte. Gewiß ist der Fall Rupp ein spektakulärer Extremfall. Wer die Mechanismen, die diesen Fall mit dem Thema Verständigung verbinden, an einem „alltäglich-leisen“ Fall vor einem Schöffengericht studieren will, dem sei der Bericht von Förschner, „Fehlurteile und ihre Ursachen“ empfohlen, der übrigens seinerseits eine Reaktion auf eine Erwiderung Leitmeiers (in diesem Fall auf Johann Schwenn) ist. In diesem Beitrag wird besonders anschaulich, daß der Konflikt, den Richter und Staatsanwälte manchmal verspüren und den sie auf „Konfliktverteidigung“ zurückführen, durchaus kognitive Dissonanz zur Ursache haben kann.

Eine Themenverbindung, die Friedrichsen aufstellt, löst bei Leitmeier das größte Kopfschütteln aus. Er räumt ihr den krönenden Schlußpunkt seiner Aufarbeitung von Friedrichsens Irrtümern ein:

Und wer als Fazit allen Ernstes angibt, BGH-Richter schotteten sich mehr und mehr gegen „ihre natürlichen Gegner, die Strafverteidiger“ (!) ab, um Zeit zu gewinnen „zum Intrigieren untereinander“ [Fußnote: Damit spielt Friedrichsen offenbar auf den unerfreulichen Besetzungsstreit am BGH an], der vertritt in der Tat eine Außenansicht; zudem scheint das Fernglas ein wenig trüb zu sein.

Stört ihn die zugespitzte Rede vom „natürlichen Gegner“? Diese Vorstellung stammt aber nicht von Friedrichsen: Der Große Senat für Strafsachen selbst war es, der die Einführung der Rügeverkümmerung, entgegen einer 140 Jahre alten Rechtsprechung, damit begründete, daß die Strafverteidiger neuerdings ehrlos geworden seien (Beschluß vom 23. April 2007 – GSSt 1/06: „Die Änderung des anwaltlichen Ethos ist ein weiteres Argument für die Änderung der Rechtsprechung.“). Und es war der 1. Strafsenat, der mit einem Widerspruch zwischen anwaltlichem Revisionsvortrag und dienstlichen richterlichen Erklärungen konfrontiert war und daraufhin nicht etwa bei den Richtern, sondern beim Anwalt Lüge witterte (entgegen der aussagepsychologischen Erkenntnis aus dem Standardwerk von Bender/Nack, daß gerade der, der viel zu verlieren hat, besonders motiviert ist, nicht bei der Wahrheit zu bleiben). Als infolge dieser Witterung der Anwalt später wegen Strafvereitelung angeklagt wurde, stellte sich in der Hauptverhandlung heraus, daß seine Version näher bei der Wahrheit war als die der Richter. Bezeichnenderweise war der Anklage ein Gespräch zwischen dem Präsidenten des LG Augsburg, Arloth, und dem Vorsitzenden des 1. Strafsenats des BGH, Nack, vorausgegangen, in dem letzterer darauf hinwies, unwahres Revisionsvorbringen sei kein Einzelfall. In Augsburg ist dies offenbar als Aufforderung verstanden worden, endlich einmal ein Exempel zu statuieren.

Oder stört sich Leitmeier an der plakativen Vokabel „Intrigen“? Selbstverständlich gibt es beim BGH „personalpolitische Richtungskämpfe“, um statt dessen diesen Ausdruck zu verwenden. Sollte Leitmeier so naiv sein, zu glauben, bei dem Besetzungsstreit (der sich ursprünglich auf den Vorsitz des zweiten Strafsenats bezog, sich jetzt auch auf den des vierten bezieht mit Kollateralschaden für den dritten und sich ab dem 1. Mai 2013 auch auf den des ersten beziehen wird) ginge es nur um die Rechtsfrage der fachlich-persönlichen Qualifikation (Art. 33 Abs. 2 GG)? Sollte er auch hier glauben, daß es in der Wirklichkeit etwas nicht gibt, das nicht normativ vorgegeben ist?

BGH-Präsident Tolksdorf ist in dieser Personalpolitik vielleicht sogar mehr ein Reagierender als ein Agierender. Die Frage, wer Vorsitzender eines Strafsenats wird und damit die Rechtsprechungslinie des Senats herausragend beeinflussen kann, ist keine bloße Karrierefrage, sondern eine Frage, die alle Richter der Strafsenate, vor allem deren Vorsitzende, in ihrer Rechtsprechungstätigkeit betrifft. Im Unterschied zu den Zivilsenaten, deren Zuständigkeiten nach Rechtsgebieten abgegrenzt sind, sind die Strafsenate mit allen Rechtsfragen gleichermaßen befaßt, da die Abgrenzung dort grundsätzlich territorial bezogen ist. Deshalb strahlt die Rechtsprechungsentwicklung in einem Strafsenat auf die aller anderen aus. Die Senate sind mit einem straffen Band verknüpft, sei es nun über den formellen Weg des Großen Senats (§ 132 GVG) oder den informellen des „horror pleni“, des faktischen Gewichts einer Entscheidung, die zu einer Rechtsfrage vom Senat des ersten Zugriffs getroffen wird.

Wenn sich in einem Strafsenat, aufgrund seiner Personalstruktur, etwa eine für den BGH ungewöhnliche „angeklagtenfreundliche“, besonders rechtsstaatssensible Rechtssprechungslinie herausbildet oder verstärkt, so entsteht daraus für Senate, die in anderen Rechtsprechungstraditionen stehen, eine unmittelbare Ansteckungsgefahr, zumindest die Gefahr eines störenden Hineinfunkens. Ein aktueller Fall sei nur als Illustration hierfür angeführt:

Wenn der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofs eine Sorge hat, dann die, daß nicht genügend gestraft wird (manchmal spricht er diese Sorge offen aus, so in seinem Beschluß vom 28. Juni 2011 – 1 StR 282/11). Aber in Zeiten, in denen der Fall Mollath die Öffentlichkeit bewegt, hat er auch eine weitere Sorge: Daß nicht genügend untergebracht wird (siehe nur eine aktuelle Urteilsanmerkung von Michael Bock: „weiterer Schritt in der sachfremden Pathologisierung“). Mit Urteil vom 26. Juni 2012 – 1 StR 163/12 – hat der 1. Strafsenat ein Urteil des LG München II aufgehoben, in dem dieses es abgelehnt hatte, einen unkorrigierbar-krankhaften „Konsumenten“ von Kinderpornographie praktisch lebenslänglich in der Psychiatrie unterzubringen. Nach Auffassung des BGH hatte das Landgericht die Unterbringungsfrage falsch gestellt: Während das Landgericht meinte, nur die (hier nicht feststellbare) Gefahr, daß der Angeklagte einmal selbst in der Außenwelt einen Kindesmißbrauch begehen würde, könnte eine Unterbringung rechtfertigen, setzte der BGH die Schwelle viel niedriger an. Bereits der Besitz von Kinderpornographie sei aus generalpräventiven Gründen ausreichend für diese Maßnahme. Kurz nach dieser BGH-Entscheidung hat das LG Limburg mit Urteil vom 6. August 2012 – 4 Js 6194/11 – diese Rechtsfrage im umgekehrten Sinne entschieden. Eine praktisch lebenslängliche Unterbringung in diesen Fällen sei mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit (§ 62 StGB) nicht zu vereinbaren. Die Gefahr weiterer Straftaten wegen Besitzes von Kinderpornographie müsse in solchen Fällen durch das Instrumentarium des Betreuungsrechts bekämpft werden. Gegen diese Entscheidung des LG Limburg ist die Revision der Staatsanwaltschaft derzeit beim 2. Strafsenat des BGH anhängig. Da der 2. Strafsenat sich schon in der Vergangenheit nicht von Entscheidungen hat abhalten lassen, weil sie unpopulär sind (etwa: Freispruch eines Hells Angels, der in Putativnotwehr einen Polizisten tötete), wäre es nicht überraschend, wenn er dem LG Limburg darin beitritt, daß die Anwendung des § 63 StGB in diesem Fall einen Exzeß des Maßregelrechts darstellen würde. Er müßte dann den Großen Senat für Strafsachen anrufen, um die entgegenstehende Entscheidung des 1. Strafsenats zu überwinden.

Leitmeier wirft Friedrichsen die Verwendung eines trüben Fernrohrs bei ihrer Außenansicht auf die Strafjustiz vor. Doch was er dazu vorträgt, ist eine betriebsblinde Innenansicht eines Staatsanwalts mit einem Urvertrauen in die Kraft des „binären Codes des Rechtssystems“.

Nachtrag vom 5. Dezember 2013

Im zuletzt angesprochenen Fall hat der 2. Strafsenat des BGH mit Urteil vom 31. Juli 2013 – 2 StR 220/13 – die Revision der Staatsanwalt gegen das Urteil des LG Limburg zurückgewiesen. Auf die Frage einer Divergenz zur genannten Entscheidung des 1. Strafsenats ist er nicht eingangen.

Zitiervorschlag für diesen Beitrag:
https://blog.delegibus.com/2826

Rückverweis URL
  1. […] Auch in diesem Fall kann man sich mit Prof. Dr. Bernd von Heintschel-Heinegg fragen: “Was ist nur mit einigen unserer Staatsanwälte los?” Der Staatsanwalt, der unter anderem den Anlaß für von Heintschel-Heineggs Ausruf gegeben hat, weil er einen Angeklagten im Plädoyer als “Abschaum” bezeichnet hatte, ist danach übrigens zum Oberstaatsanwalt bei der Generalstaatsanwaltschaft München befördert worden (zu diesem Fall bereits hier im Blog: Strafprozeß im Wandel). […]

    Pingback von Das Strafbefehlsverfahren – Gerichte auf Autopilot? « De legibus-Blog — 23. März 2015 @ 15:19