Es kommt nicht oft vor, daß ein Verfassungsgericht ein Vorabentscheidungsverfahren nach Art. 267 AEUV vor dem EuGH einleitet. Was bisher noch nie vorkam, war, daß dem EuGH von einem Verfassungsgericht grundlegende Fragen des Zusammenspiels der Grundrechte auf EU-Ebene und auf einzelstaatlicher Ebene vorgelegt wurden. Bis der spanische Verfassungsgerichtshof (im folgenden: SpanVerfGH) durch Plenarbeschluß vom 9. Juni 2011 (ATC 86/2011) den „europäischen Verfassungsgerichtsverbund“ (Voßkuhle) zum Leben erweckte. In diesem Verfahren vor dem EuGH (C-399/11) hat Generalanwalt Yves Bot am 2. Oktober 2012 seine Schlußanträge vorgelegt. Die Entscheidung, die der EuGH nun zu treffen haben wird, dürfte wegweisend für die Grundrechtsentwicklung in der EU sein. Ob für diese Weichenstellung die Grundrechte bei Bot in guten Händen waren, ist fraglich.
Im Ausgangsfall geht es um den italienischen Bankrotteur Stefano Melloni, der 1840 Sparer um 67 Millionen Euro gebracht haben soll. Melloni war vor der italienischen Justiz nach Spanien geflohen, dort zunächst verhaftet worden, dann aber, nachdem er gegen Kaution auf freien Fuß gesetzt worden war, untergetaucht. Deshalb wurde ihm in Italien der Strafprozeß in Abwesenheit gemacht. Der Prozeß durchlief drei Instanzen, in denen Verteidiger auftraten, die von Melloni bevollmächtigt waren. Am Ende des Prozesses war er rechtskräftig zu zehn Jahren Gefängnis verurteilt. Die italienische Staatsanwaltschaft hat daraufhin einen Europäischen Haftbefehl zum Zwecke der Strafvollstreckung ausgestellt. Melloni wurde in Spanien verhaftet und die Übergabe an Italien wurde vom zuständigen spanischen Gericht beschlossen. Melloni legte dagegen Verfassungsbeschwerde ein. Die zuständige Kammer des SpanVerfGH setzte die Übergabe an Italien aus und das Plenum des Gerichts übernahm das Verfahren wegen grundsätzlicher Bedeutung.
Nach ständiger Rechtsprechung des SpanVerfGH verstößt es gegen die Justizgrundrechte der spanischen Verfassung, wenn schwere Straftaten in Abwesenheit des Angeklagten abgeurteilt werden, ohne daß dieser später die Möglichkeit eines Rechtsmittels oder einer Wiederaufnahme des Verfahrens hat. Verurteilungen im Ausland seien zwar nicht unmittelbar an der spanischen Verfassung zu messen, doch stehe eine Mitwirkung spanischer Stellen unter dem Vorbehalt, daß wenigstens Wesens- und Menschenwürdegehalt der spanischen Grundrechte dabei geachtet werde. Die italienische Rechtslage, wonach im vorliegenden Fall Melloni keinen neuen Prozeß erhält, widerspreche diesem Wesens- und Menschenwürdegehalt.
Nach dieser Rechtsprechung würde der SpanVerfGH der Verfassungsbeschwerde also stattgeben. Die Übergabe zur Strafvollstreckung in Italien könnte demzufolge nur von Spanien ausgeführt werden, wenn Italien eine bindende Erklärung abgibt, daß Melloni auf Antrag einen neuen Prozeß erhält. Da aber das italienische Prozeßrecht eine entsprechende Möglichkeit nicht vorsieht, kann Italien keine solche Erklärung abgehen. Melloni hätte in Spanien einen sicheren Hafen.
Nun stellte sich aber für den SpanVerfGH die Frage, wie dieses Auslegungsergebnis aus der spanischen Verfassung zusammenpaßt mit den Vorgaben des Rahmenbeschlusses über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten in der Fassung aufgrund Änderung von 2009. Nach dessen Artikel 4a ist nämlich eine Verweigerung der Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls in einem Fall wie dem von Melloni ausdrücklich ausgeschlossen. Die Verfahrensgarantien, die der Rahmenbeschluß zugrundelegt, sind geringer als die, die sich aus der spanischen Verfassung ergeben. Der Umstand, daß Melloni durch von ihm bevollmächtigte Verteidiger vertreten war, legitimiert nach dem Rahmenbeschluß das Abwesenheitsverfahren ausreichend.
Drei Fragen stellte der SpanVerfGH deshalb dem EuGH, die sich so zusammenfassen lassen:
- Eröffnet der Rahmenbeschluß trotz des klaren Wortlauts seines Artikels 4a eine Möglichkeit, eine Übergabe abzulehnen?
- Wenn nein: Verstößt der Rahmenbeschluß insoweit gegen EU-Grundrechte?
- Wenn nein: Hat ein Staat, der demgegenüber ein höheres Grundrechtsniveau gewährleistet, irgendeine Möglichkeit, diesen Grundrechtsschutz gegenüber dem Rahmenbeschluß zu verwirklichen?
Um es kurz zu machen: Die Antworten von Generalanwalt Bot lauten „Nein, nein, nein“.
Im heutigen deutschen Strafprozeßrecht gibt es kein Abwesenheitsverfahren im eigentlichen Sinne (§ 285 StPO). Möglich ist jedoch der Erlaß eines Strafbefehls gegen einen Abwesenden, der bis zu einem Jahr Freiheitsstrafe auf Bewährung gehen kann (§ 407 Abs. 2 Satz 2 StPO). Gemessen an der Rechtsprechung des SpanVerfGH bewirkt diese beschränkte Strafgewalt, daß ein solches Verfahren nicht gegen Justizgrundrechte verstößt.
Die italienischen Abwesenheitsverfahren hingegen, in denen hohe Strafen verhängt werden (hier: zehn Jahre), sind offenbar ein fester Bestandteil der dortigen Justizfolklore und haben seit jeher auch der deutschen Justiz viel Kummer bereitet. Zahlreich sind die Entscheidungen, in denen die (vorbehaltlose) Auslieferung nach Italien abgelehnt wurde, weil das Abwesenheitsverfahren ohne hinreichende Beachtung der Rechte des Angeklagten – im Sinne der Beachtung des deutschen verfassungsrechtlichen ordre public (was der Argumentation des SpanVerfGH mit dem Wesensgehalt entspricht) – durchgeführt wurde (siehe nur BGH, Beschluß vom 16. Oktober 2001 – 4 ARs 4/01; BVerfG, Beschluß vom 3. März 2004 – 2 BvR 26/04). Solche Ablehnungen sind nach dem Rahmenbeschluß nicht mehr möglich. Denn dieser bestimmt seit der Neuregelung im Jahr 2009 (Art. 4a), daß die Beachtung der Justizrechte nicht von der vollstreckenden Justizbehörde geprüft wird, sondern von der den Europäischen Haftbefehl ausstellenden Behörde. Sind von dieser die entsprechenden Felder im vorgesehenen Formular richtig angekreuzt worden, so hat die vollstreckende Behörde (und damit auch das Gericht im Vollstreckungsmitgliedstaat) keinen Entscheidungsspielraum mehr. In der Bestimmung des deutschen Rechts, die insoweit den Rahmenbeschluß umsetzt (§ 83 Nr. 3 IRG), ist davon allerdings nichts zu finden. Dieser Merkwürdigkeit soll hier nicht weiter nachgegangen werden. Es ist denkbar, daß Deutschland von der EU-Kommission wegen Nichtumsetzung der (von Deutschland mitinitiierten!) Rahmenbeschlußänderung verklagt wird und/oder daß die Rechtsprechung § 83 Nr. 3 IRG rahmenbeschlußkonform auslegt (dazu jüngst BGH, Beschluß vom 19. Juni 2012 – 4 ARs 5/12*; dem OLG Köln scheint die Rahmenbeschlußänderung allerdings nicht bekannt zu sein, siehe dessen Beschluß vom 21. Februar 2012 – 6 AuslA 129/11).
Was den vorliegenden Fall betrifft, so dürften die strengen Anforderungen, die der SpanVerfGH an das Anwesenheitsrecht des Angeklagten stellt, über diejenigen des deutschen Verfassungsrechts hinausgehen. Das BVerfG hat entschieden, daß es bei der Auslieferung aufgrund eines Abwesenheitsurteils ausreicht, wenn der Betroffene aufgrund einer Ladung die tatsächliche Möglichkeit hatte, an dem Verfahren teilzunehmen (BVerfG, Beschluß vom 13. Juli 2004 – 2 BvR 1104/04). Das Grundrechtsniveau, das in Bezug auf Abwesenheitsverfahren vom Rahmenbeschluß zugrundegelegt wurde, dürfte also mit der bisherigen Rechtsprechung des BVerfG im Einklang stehen.
Zurück zu den Antworten, die der Generalanwalt vorschlägt, dem SpanVerfGH zu geben. Daß die erste Frage zu verneinen ist, begründet der Generalanwalt aufgrund des Regelungskonzeptes, das im Rahmenbeschluß spätestens mit der Änderung im Jahre 2009 für Abwesenheitsverfahren gefunden wurde, in überzeugender Weise. Die Musik des Falles spielt demzufolge im wesentlichen bei Frage 2. Es geht hier um eine Normenkontrollentscheidung, eine typische Aufgabenstellung für eine Verfassungsgerichtsbarkeit. Der Generalanwalt führt hierzu – zutreffend – aus, daß Art. 47 Abs. 2 und Art. 48 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union den Gewährleistungen in Art. 6 Abs. 2 und 3 MRK entsprechen und demnach gemäß Art. 52 Abs. 3 Satz 1 der Charta entsprechend der Menschenrechtskonvention unter Beachtung der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) auszulegen sind. Der Generalanwalt schaut also in die Rechtsprechung des EGMR und stellt fest, daß die MRK Abwesenheitsverfahren nicht ausschließt, wenn bestimmte verfahrensrechtliche Sicherungen vorhanden sind. Die Anforderungen, die der EGMR insoweit stellt, seien, so das Ergebnis des Generalanwalts, im Rahmenbeschluß eingehalten. Damit beläßt er es im wesentlichen für die Verneinung der zweiten Frage, ob der Rahmenbeschluß insoweit gegen die EU-Grundrechte verstößt.
So geht das nicht! Ich will nicht behaupten, daß die Normenkontrolle vor dem EuGH zu dem Ergebnis kommen müsse, daß die Regelungen des Rahmenbeschlusses über Abwesenheitsverfahren gegen Grundrechte verstößt, aber bei weitem nicht ausreichend ist die Methodik, mit der der Generalanwalt hier vorgeht – und dies in mehrfacher Hinsicht.
Das Grundproblem der Grundrechte der Europäischen Union ist allerdings eines, daß der Generalanwalt nicht gemacht hat, sondern nur vertieft: Die feste Anbindung der Charta, gemäß ihres schon genannten Art. 52 Abs. 3 Satz 1, an das Niveau der Menschenrechtskonvention, einem Instrument des Europarats. Was gut klingen soll, ist in Wahrheit ein primärrechtlicher Schachzug, der die Charta nahezu obsolet und zu einem rein feierlichen Ornament macht. Daß die EU den Menschenrechten der MRK verpflichtet ist, war schon vor der Charta klar. Die feste Anbindung jedoch ist nichts anderes als ein Entwicklungsverbot der Grundrechte im Rahmen der EU. Man muß sich bewußt machen, daß die Menschenrechtsgarantien der MRK ihrer Natur nach nur als ein Mindeststandard, als Minimalkonsens funktionieren können. Die MRK gilt vom Atlantik bis zur Beringsee, vom Polarkreis bis zum Ararat. Sie gilt nicht nur in der EU, sondern auch, wenn man so will, in der menschenrechtlichen Peripherie (z.B. Türkei, Ukraine, Rußland). Die somit unvermeidlichen Fliehkräfte muß der EGMR (der auch durch Richter aus der Peripherie mitbesetzt ist) dadurch ausgleichen, daß er die Menschenrechte, wenn überhaupt, nur äußerst behutsam fortentwickelt.
Ganz anders sieht es jedoch aus bei den Grundrechten im innerstaatlichen Bereich. In einem geschlossenen politisch-normativen Kontext ist es nicht nur möglich, sondern sogar Pflicht für die Verfassungsgerichtsbarkeit, die Grundrechte fortlaufend weiterzuentwickeln. Der Grundrechtskatalog muß dynamisch sein und auf neue Herausforderungen im politisch-normativen Diskurs reagieren können. Als Beispiel sei nur das Volkszählungsurteil des BVerfG vom 15. Dezember 1983 (1 BvR 209/83 u.a.) genannt, in dem das „Recht auf informationelle Selbstbestimmung“ entwickelt wurde. Auf der Ebene des EGMR wäre die Schaffung eines solchen Rechts undenkbar. Beim EuGH ist eine entsprechende Rechtsfindungsmöglichkeit aber nicht nur denkbar, sondern sogar geboten, da er in einem geschlossenen politisch-normativen Kontext – ein solcher ist auch und gerade das mit der EU geschaffene Mehrebenensystem – agiert und dort die Funktionen eines Verfassungsgerichts übernehmen muß (hierzu Manthey/Unseld; ZEuS 2011, 323).
Kann man die Charta wegen ihrer Anbindung an die MRK deshalb getrost als insoweit wertlos bezeichnen, so gibt es gleichwohl einen Weg, sowohl die erforderliche Dynamik als auch ein hohes Grundrechtsniveau sicherzustellen: Art. 6 EUV ist nicht nur die Bestimmung des EU-Vertrags, die die Charta überhaupt (in ihrem Absatz 1) auf die Ebene des Primärrechts hebt, sondern die auch (in ihrem Absatz 3) die bisherige Rechtsprechung des EuGH bestätigt, daß auch die Grundrechte, wie sie sich aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten ergeben, als allgemeine Grundsätze Teil des Unionsrechts sind. Demnach steht nur Art. 6 Abs. 3 EUV zur Verfügung, um eine autonome, nicht „MRK-gedeckelte“ Grundrechtsentwicklung in der EU zu gewährleisten. Wenn dies der EuGH, aus Anlaß eines Falles wie dem vorliegenden, nicht erkennt, dann ist die Grundrechtsentwicklung zu Ende, bevor sie begonnen hat.
Generalanwalt Bot kommt in seinem Entscheidungsvorschlag kurz auf Art. 6 Abs. 3 EUV zu sprechen. Diese Passage ist in mehrfacher Hinsicht diskussionswürdig. Sie lautet:
84. Abgesehen davon, dass es meines Erachtens keinen Grund gibt, über den vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte eingenommenen ausgewogenen Standpunkt hinauszugehen, könnte sich der Gerichtshof für ein weiter gehendes Schutzniveau nicht auf die gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten berufen. Denn der Umstand, dass der Rahmenbeschluss 2009/299 auf einer Initiative von sieben Mitgliedstaaten beruht und von sämtlichen Mitgliedstaaten angenommen worden ist, erlaubt mit hinreichender Gewissheit die Annahme, dass die überwiegende Mehrheit der Mitgliedstaaten nicht die Auffassung teilt, die der Rechtsprechung des Tribunal Constitucional zugrunde liegt.
Sie zeigt nicht nur das Fehlen jeglichen Problembewußtseins, sondern macht auch in erschreckender Weise deutlich, wie Bot überhaupt an die Frage der Ermittlung der gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen herangeht. Selbstverständlich kann es bei der „Gemeinsamkeit“ nicht darum gehen, daß bei einer Einzelfrage alle Verfassungen nebeneinander gelegt und das jeweils niedrigste Grundrechtsniveau den Ausschlag gibt. Inwieweit Bots Herangehensweise, nach einer Mehrheit der Mitgliedstaaten mit einer entsprechenden Verfassungswirklichkeit Ausschau zu halten, zutreffend ist, darüber könnte man immerhin diskutieren. Indiskutabel ist aber seine Prämisse, daß die Regierungen der Mitgliedstaaten verläßlich Auskunft geben könnten über das einschlägige Grundrechtsniveau. Dies stellt die Verhältnisse geradezu auf den Kopf. Die Grundrechte sind ihrer Natur nach gerade gegen die Regierungen gerichtet. Und ihre verbindliche Auslegung ist den Gerichten (falls vorhanden, den Verfassungsgerichten), nicht den Regierungen anvertraut. Das ist allemal eine gemeinsame Verfassungsüberlieferungen aller Mitgliedstaaten.
Und wie um klarzumachen, daß es sich nicht um einen einmaligen Lapsus handelte, wiederholt Bot diesen Gedankengang an späterer Stelle in leicht abgewandelter Form:
145. Der Erlass von Art. 4a des Rahmenbeschlusses durch den Unionsgesetzgeber zeigt, dass die Mitgliedstaaten einen gemeinsamen Ansatz für die Vollstreckung von zur Vollstreckung von Abwesenheitsurteilen ausgestellten Europäischen Haftbefehlen festlegen wollten und dass dieser gemeinsame Ansatz mit der Vielfalt der Rechtstraditionen und -ordnungen der Mitgliedstaaten vereinbar ist.
Dieser Satz läßt sich ohne Bedeutungsverlust herunterkürzen auf „Der Erlass des Rahmenbeschlusses zeigt, dass er mit der Vielfalt der Rechtstraditionen und -ordnungen der Mitgliedstaaten vereinbar ist.“.
Da aber die Ausgangsfrage an dieser Stelle war, ob der Rahmenbeschluß mit den mitgliedstaatlichen Rechtstraditionen und -ordnungen vereinbar ist, handelt es sich bei Bots Aussage um einen Zirkelschluß, der zirkelschlüssiger gar nicht sein könnte.
Wenn Bot versucht, die für das spanische Verfassungsrecht maßgebliche Meinung des SpanVerfGH auszuspielen durch die nicht maßgebliche Meinung der spanischen Regierung (die innerstaatlich für die Seite steht, der der SpanVerfGH ja gerade einen Verfassungsverstoß attestieren will), weil sie bei dem einstimmig anzunehmenden Rahmenbeschluß mitgestimmt hat, dann erinnert dies an den Eklat, der sich gerade im Verhältnis zwischen dem EuGH und dem tschechischen Verfassungsgerichtshof zugetragen hat: In einer beim EuGH anhängigen Rechtssache trug die tschechische Regierung vor, das Verfassungsgericht verstoße gegen EU-Recht. Das Verfassungsgericht versuchte daraufhin, sich mit seiner Position beim EuGH brieflich Gehör zu verschaffen, wurde von diesem aber schroff abgewiesen („Eingaben Außenstehender werden nicht akzeptiert“). Sicher auch aus Ärger über diese Abfuhr ließ das Verfassungsgericht daraufhin mit Beschluß vom 15. Februar 2012 (TZ 8/12) die vom BVerfG konstruierte Ultra-vires-Bombe detonieren.
Könnte die völlig nonchalante Herangehensweise von Generalanwalt Bot, mit der er jegliches Gespür für die sich stellenden wegweisenden Grundrechtsfragen vermissen läßt, etwas damit zu tun haben, daß er Franzose ist, daß er also aus einem Rechtssystem kommt, das bekanntlich bis vor kurzem keine selbstbewußte Verfassungsgerichtsbarkeit hatte und erst seit ein paar Jahren seine Gehversuche mit der grundrechtlichen Normenkontrolle macht? Jedenfalls war Bot die denkbar schlechteste Wahl für die Vorbereitung einer so grundlegenden Entscheidung wie die in der Sache Melloni. Da stellt sich die Frage, wie es überhaupt dazu kam, daß ausgerechnet Bot diese Schlußvorträge anvertraut bekam. Nach Art. 10 § 2 EuGH-VerfO entscheidet der (jährlich neubestimmte) Erste Generalanwalt, welchen Generalanwälten die einzelnen Verfahren zugeteilt werden. Wer war Erster Generalanwalt beim Eingang der Rechtssache Melloni? Dies war – Yves Bot (Abl. C 317/3 vom 20.11.2010).
Bot hat bisher etwa die Hälfte der Vorlageverfahren zum Europäischen Haftbefehl bearbeitet. Dabei ist er bereits zuvor durch beachtliche verfassungsrechtlich-grundrechtliche Nonchalance aufgefallen. In der Rechtssache Kozlowski (C-66/08), die vom OLG Stuttgart vorgelegt worden war, äußerte Bot die Meinung, daß Art. 4 Nr. 6 des Rahmenbeschlusses so auszulegen sei, daß die dort geregelte Möglichkeit einer Vollstreckungsverweigerung zwingend im Einzelfall von der vollstreckenden Justizbehörde zu entscheiden sei und keinesfalls abstrakt-generell vom Gesetzgeber (Randnummern 79 bis 81 seiner Schlußanträge vom 28. April 2008). Das klingt erst einmal unspektakulär, hört aber auf es zu sein, wenn man bedenkt, daß das Bundesverfassungsgericht seine grundlegende Entscheidung vom 24. November 2004 (2 BvR 2236/04) zur Nichtigkeit des Europäischen Haftbefehlsgesetz entscheidend auf diese und weitere Öffnungsklauseln gestützt hatte, mit dem Argument, der Gesetzgeber könne (EU-rechtlich) und müsse (verfassungsrechtlich) sie ausfüllen. Nach Auffassung Bots war also die Entscheidung des BVerfG EU-rechtswidrig und das auf die BVerfG-Entscheidung hin vom deutschen Bundesgesetzgeber erlassene Europäische Haftbefehlsgesetz ist es ebenfalls. Was an sich vielleicht nicht weiter der Rede wert ist, doch keineswegs akzeptabel war der Begründungsstil Bots, der auf die abweichende Entscheidung des BVerfG mit keinem Wort einging. Der EuGH hat in seiner Entscheidung übrigens diesen Teil der Schlußanträge letztlich ignoriert.
Die methodischen Mängel seines Entscheidungsvorschlags im Fall Melloni beschränken sich nicht auf den bereits genannten Gesichtspunkt. Bot kommt zu dem Ergebnis, daß der Rahmenbeschluß die Problematik der Abwesenheitsverfahren „erschöpfend und unter dem Aspekt des Grundrechtsschutzes in befriedigender Weise regelt“ (Rn. 86). Er begründet dies, wie gesagt, zum einen damit, daß die Anforderungen des EGMR eingehalten sein, und zum anderen mit dem „hohen Maß an Vertrauen zwischen den Mitgliedstaaten“, daß als eines der Grundprinzipe der justiziellen Zusammenarbeit in der Union zugrundeliegt.
So weit, so gut. Doch es stellt sich eine Frage der Qualität des Gesetzgebungsverfahrens. Kann der EU-Gesetzgeber nicht gegenseitiges Vertrauen in die Rechtssysteme der Mitgliedsstaaten erst dann als Kriterium aufstellen, das sich in der Abwägung gegen die verfahrensrechtlichen Sicherung von Grundrechten durchsetzt, wenn er tatsächlich nachgeprüft hat, daß dieses Vertrauen begründet ist? Alles andere wäre eine bloße Behauptung, eine Fiktion von Vertrauen, die keine Berechtigung hätte. Im Fall des vorliegenden Rahmenbeschlusses bedeutet das: Hat der Gesetzgeber (das einschneidende strafprozessuale Regelungswerk hatte allein der Rat der Europäischen Union zu verantworten, das Europäische Parlament durfte nach damaliger Rechtslage – „Dritte Säule“ – nur Stellung nehmen) tatsächlich zur Vorbereitung des Rahmenbeschlusses eine umfassende Erhebung der Rechtslage und Rechtswirklichkeit in allen Mitgliedsstaaten vorgenommen? Sollte dies nicht zum Prüfprogramm des EuGH bei der Normenkontrolle gehören? Sollte nicht wenigstens der EuGH im Rahmen einer solchen Normenkontrolle verpflichtet sein, diese Erhebung nachzuholen?
Es läßt sich argumentieren, daß Abwesenheitsurteilen jedenfalls dann nicht vom EU-Gesetzgeber pauschal eine EU-weite Wirksamkeit verliehen werden dürfen, wenn nicht klar ist, wie die Praxis aller Mitgliedstaaten tatsächlich aussieht. „Vertrauen auf Verdacht“ kann es nicht geben. Keinem Mitgliedstaat muß verwehrt werden, in seinem internen Recht ein solches problematisches Verfahren beizubehalten, doch gibt es keinen zwingenden Grund, daß es auch noch EU-weit exportiert wird.
Das OLG Stuttgart ging in einem Beschluß vom 9. Januar 2008 (3 Ausl 134/07) sogar so weit, zu behaupten:
Aufgrund der bereits erwähnten Fahndungs- und Rechtshilfemöglichkeiten ist, jedenfalls außerhalb von „Fluchtfällen“, im EU-Bereich ein auf Gründen effektiver Strafverfolgung beruhendes Bedürfnis nach Verurteilungen in Abwesenheit mittlerweile nicht mehr anzuerkennen.
Zu diesem sympathischen Ergebnis konnte das OLG Stuttgart allerdings nur in grober, geradezu rührender Verkennung sowohl des Rahmenbeschlusses als auch der Umsetzung im IRG gelangen, was es dadurch auf die Spitze trieb, daß es sich ausgerechnet auf eine Ergänzung von § 83 Nr. 3 IRG berief, die der Bundesrat eingebrachte hatte, um Auslieferungen in Fällen von Abwesenheitsurteilen zu erleichtern, wodurch das OLG die Regelung in ihr Gegenteil verkehrte. Doch ändert dies nichts daran, daß das OLG gerade mit der hohen EU-Integration argumentierte, als es ein Grundrechtsniveau forderte, das erklärtermaßen gegenüber dem allgemeinem menschenrechtlichen Mindestniveau hinausgeht. Warum sollte der EuGH es nicht auch einmal mit einer solchen Argumentation versuchen?
Nichts davon findet sich bei Generalanwalt Bot, nicht einmal in Spurenelementen. Stattdessen überrascht er damit, daß er bei der Befassung mit der dritten Frage des SpanVerfGH eine Überlegung anstellt, die der SpanVerfGH nicht ins Spiel gebracht hatte, nämlich ob dieser vielleicht der Verfassungsbeschwerde unter Berufung auf Art. 4 Abs. 2 EUV stattgeben könnte. Nach dieser Vorschrift achtet die Union die jeweilige nationale Identität ihrer Mitgliedstaaten (eine Klausel, die im Lissabon-Urteil des BVerfG vom 30. Juni 2009 – 2 BvE 2/08 – eine prominente Rolle spielte). Die Frage stellen, hieß sie zu verneinen. Die nationale Identität des Königreichs Spanien sei durch die Auslieferung im vorliegenden Fall nicht tangiert. Dabei ließ es sich Bot auch hier wieder nicht nehmen, dies damit zu begründen, daß das Königreich Spanien – also die spanische Regierung – in der mündlichen Verhandlung vor dem EuGH dies selbst verneinte. Übrig bleiben – neben dem dreifachen Nein – nur einige floskelhafte Liebenswürdigkeiten, wie die Beteuerung, daß die Vorlage des SpanVerfGH „ein durch die spanische Verfassung geschütztes Grundrecht, dessen Bedeutung nicht hoch genug eingeschätzt werden kann“, betreffe.
Daß es auch anders geht, hat letzte Woche Generalanwältin Sharpston im Fall Radu gezeigt (Schußanträge vom 18. Oktober 2012 – C-396/11). Der Fall betrifft eine andere Frage des Rahmenbeschlusses bei unterschiedlichem Schutzniveau zwischen den Mitgliedstaaten. Er bot der Generalanwältin aber Gelegenheit, ausdrücklich das menschenrechtliche Schutzniveau aus der Rechtsprechung des EGMR als nicht ausreichend zu bezeichnen und für ein höheres Schutzniveau zu plädieren – leider jedoch ohne Rückgriff auf Art. 6 Abs. 3 EUV, sondern allein auf „einfachrechtlicher“ (sekundärrechtlicher) Grundlage unter Hinweis auf Art. 52 Abs. 3 der Charta.
Der Fall Melloni: Ein Bankrotteur auf der Flucht und ein Generalanwalt, der für die EU-Grundrechtsentwicklung, die er eigentlich anstoßen soll, die Bankrotterklärung schreibt.
* In seinem Beschluß vom 19. Juni 2012 – 4 ARs 5/12 hat der BGH übrigens wieder auf anschauliche Weise gegen Art. 267 Abs. 3 AEUV verstoßen, indem er EU-Recht ausdrücklich abweichend von der Vorinstanz auslegte und gleichwohl – unter Berufung auf „Offenkundigkeit“ – eine Vorlagepflicht an den EuGH verneinte. Hierzu ausführlich „BGH will keine zweite Meinung hören – Von der unerkannten Offenkundigkeit des EU-Rechts“.
Nachtrag vom 26. Februar 2013
Der Gerichtshof ist mit heutigem Urteil den Anträgen von Generalanwalt Bot in vollem Umfang gefolgt.