Sie haben es schon wieder gemacht! Im Mai erst hat der VI. Senat des Bundesfinanzhofs unter dem Vorsitz von Prof. Dr. Hans-Joachim Kanzler erstmalig die steuerliche Absetzbarkeit von Prozeßkosten bejaht (VI R 42/10) und damit schon ein Leck in die Staatshaushalte geschlagen. Mit den gestern veröffentlichten Urteilen vom 28. Juli 2011 (VI R 38/10 und VI R 7/10) hat er noch eins drauf gesetzt und erneut für eine Überraschung gesorgt, die sehr steuerzahlerfreundlich ist und Steuermindereinnahmen in Milliardenhöhe verursachen könnte: Die Kosten eines Erststudiums und einer Erstausbildung sind (doch) steuerlich absetzbar.
Dies hatte er schon einmal entschieden, durch Urteil vom 4. Dezember 2002 (VI R 120/01). Der Gesetzgeber reagierte auf diese Entscheidung mit dem Gesetz zur Änderung der Abgabenordnung und weitere Gesetze vom 21. Juli 2004 (BGBl. I S. 1753, insoweit rückwirkend in Kraft getreten zum 1. Januar 2004), indem er § 12 Nr. 5 EStG in das Einkommensteuergesetz einfügte und damit die Absatzbarkeit ausdrücklich ausschloß – so meinte er jedenfalls.
Der BFH weiß es besser: Er argumentiert zum einen, daß die in der Ausschußdrucksache niedergelegte Gesetzesbegründung ja nur die Auffassung der Ausschußmehrheit wiedergebe und zum anderen, daß der Gesetzgeber schon das gesamte Normengefüge des EStG hätte abändern müssen, um sich der Rechtsauffassung des VI. Senat des BFH zu widersetzen („Ein grundlegender Systemwechsel setzt die Schaffung eines wirklich neuen Regelwerks voraus.“).
Was ist davon zu halten? Was das erste Argument betrifft, so wird nicht ganz klar, ob der BFH-Senat verlangt, daß das Änderungsvorhaben, damit es vor dem Senat „wirkt“, auch durch die Ausschußminderheit hätte mitgetragen werden müssen (wodurch diese dann natürlich keine Minderheit mehr gewesen wäre) oder ob von Entscheidungen des BFH im Bundestag nur abgewichen werden darf, wenn es eine Plenardiskussion gibt. Dem BFH müßte bekannt sein, daß Ausarbeitung und Aushandlung von Gesetzesvorhaben im Bundestag immer in den Ausschüssen erfolgen – bestenfalls, denn oft genug übernimmt dies die Bundesregierung.
Das zweite Argument hingegen zieht einem die Schuhe aus: Es besagt nichts anderes als daß das Gesetz über dem Gesetzgeber stehe. Das Gesetz habe eine besondere Systematik (wohlgemerkt: eine von der Rechtsprechung herausgearbeitete Systematik), an die der Gesetzgeber sich halten müsse. Tue er dies nicht, dann laufen seine (eigentlich in klare Worte gefaßten) Änderungsvorstellungen ins Leere.
Da aber die Systematik selbst das Ergebnis der Arbeit der Rechtsprechung mit dem vorgefundenen Gesetzestext ist, läuft die Argumentation des BFH darauf hinaus, daß der Gesetzgeber an die Rechtsprechung gebunden sei. Was für höherrangige Normen, insbesondere des Verfassungsrechts, altbekannt ist, gilt demnach auch für das einfache Recht: Nicht die Rechtsprechung muß auf die Gesetzgebung hören, sondern die Gesetzgebung auf die Rechtsprechung.
Während die Vorinstanzen in den beiden aktuell vom BFH entschiedenen Verfahren ausführlich erörterten – und letztlich verneinten –, ob § 12 Nr. 5 EStG verfassungswidrig sei, fand der BFH einen Weg, ihn einfach zu ignorieren, ohne das Bundesverfassungsgericht gem. Art. 100 Abs. 1 GG anrufen zu müssen.
Vielleicht ist der VI. Senat des BFH beim Bundesverwaltungsgericht in die Schule gegangen. Denn dieses hatte vor 13 Jahren die gleiche Chuzpe und ließ eine Änderung von § 47 Abs. 2 VwGO mit eben dieser Argumentation, daß die vom Gericht aufgestellte Gesetzessystematik vom Gesetzgeber nicht angetastet werden dürfe, leerlaufen (Urteil vom 24. September 1998 – 4 CN 2.98). Hier handelte es sich aber immerhin um eine jahrzehntelange Rechtsprechung und nicht, wie beim BFH, um einen gerade frisch erkannten Gesetzesinhalt, der nun „gesetzgeberfest“ ist.
Anders als im VwGO-Fall dürfte es hier klar sein, daß der Gesetzgeber dies nicht auf sich sitzen lassen wird und erneut – rückwirkend – das Gesetz ändern wird (die Rückwirkung dürfte verfassungsgemäß sein, weil sich aufgrund der von Anfang an umstrittenen BFH-Entscheidungen kein Vertrauensschutz bilden kann).
Aber was, wenn danach der BFH wieder mit demselben Trick kommt? Wer weiß, ob man nicht an gewissen Stellen anfängt, sich Gedanken zu machen, wie das Problem „VI. Senat des BFH“ endgültig gelöst werden kann. Und sei es auf verfassungswidrige Weise. Man sollte den Geschäftsverteilungsplan des BFH in den nächsten Monaten und Jahren im Auge behalten. Das letzte Mal, als ein Senat eines obersten Bundesgerichts mit umstrittenen Urteilen Mehrkosten für öffentliche Haushalte in Milliardenhöhe verursachte, wurde er entmachtet, indem das Gerichtspräsidium ihm einfach andere Aufgaben zuwies (gewissermaßen: der Kommissar wurde zur Verkehrspolizei versetzt). Die Hintergründe wurden gerichtlich nie aufgeklärt, da sich der BSG-Senatsvorsitzende bei dem Versuch, gegen seine Entmachtung vor den Verwaltungsgerichten vorzugehen, in Verfahrensfragen verhedderte (VG Kassel, Urteil vom 28. April 2009 – 1 K 691/08).
Der BFH-Senatsvorsitzende Hans-Joachim Kanzler jedenfalls wird sich nicht in dieser Lage wiederfinden: er erreicht dieses Jahr die Altersgrenze und geht in Pension.
Nachtrag vom 14. Dezember 2011
Durch das Beitreibungsrichtlinie-Umsetzungsgesetz vom 7. Dezember 2011 (BGBl. I S. 2592), in Kraft getreten am 14. Dezember 2011, hat der Gesetzgeber einen neuen Anlauf unternommen, seinen Willen gegenüber dem Bundesfinanzhof durchzusetzen:
Der Finanzausschuß des Bundestages fügte im Rahmen der Beratungen zu dem Gesetz Änderungen von § 9, § 4 und § 12 des Einkommensteuergesetzes ein – zur „Klarstellung der vom Gesetzgeber gewollten Rechtslage“. Diese Klarstellung wurde mit Rückwirkung versehen (§ 52 Abs. 23d S. 5 EStG).