Wie es scheint, wäre ein Kommentar zur Verurteilung von Oskar Gröning unvollständig ohne eine Erwähnung des – lange verstorbenen – Ministerialbeamten und Strafrechtskommentators Eduard Dreher. In meinem letzten Beitrag hatte ich ihn erwähnt und kurz darauf hatte er auch seinen Auftritt in der wöchentlichen Kolumne des BGH-Richters Thomas Fischer („NS-Verbrecher: Oskar Gröning und die Beihilfe„).
Wer war Eduard Dreher? Wer, wie ich, Jura im letzten Jahrhundert studierte, dem ist der Name zumindest noch als einer der Titelgeber des wichtigsten Praxiskommentars zum StGB aus der Reihe der Kurzkommentare des Verlags C. H. Beck bekannt (heute nur noch „Fischer“, siehe oben). Das Erklären des Strafrechts war seine Nebentätigkeit, im Hauptberuf machte er das Strafrecht. In den verschiedenen leitenden Positionen, die er im Bundesministerium der Justiz (BMJ) von 1951 bis zu seiner Pensionierung 1969 (im zarten Alter von 62 Jahren) innehatte, war er vor allem federführend für das Langzeitprojekt Strafrechtsreform zuständig. Sowohl das 1. als auch das 2. Strafrechtsreformgesetz wurden in den letzten Wochen seiner Amtszeit vom Gesetzgeber beschlossen. Letzteres trat am 1. Januar 1975 in Kraft und änderte das Strafgesetzbuch so umfassend, daß manche meinen, es sei ein neues erlassen worden.
Kein Geheimnis war, daß er in der NS-Zeit linientreuer – um nicht zu sagen „fanatischer“ (ein in der NS-Sprache positiv besetztes Wort) – Staatsanwalt war, zuletzt Erster Staatsanwalt an einem der berüchtigten Sondergerichte, wo er Köpfe rollen ließ. Für seine weitere Karriere war dies kein Hindernis, da er nach dem Krieg formell „entnazifiziert“ wurde. Auch viele andere Spitzenjuristen der Bundesrepublik hatten Leichen im Keller. Strafverfolgung brauchten sie nicht zu fürchten, sie hätten sich ja oft selbst verfolgen müssen. Als es in den 90er Jahren darum ging, in kleinerem Maßstab Unrecht in der DDR aufzuarbeiten, konnte die bundesdeutsche Justiz die Versäumnisse wiedergutmachen und endlich Unrecht ahnden. Sie war sogar ein bißchen gerührt von ihrer eigenen Lernfähigkeit (wobei die Kunst darin besteht, die „aufrichtige“ menschenrechts- und rechtsstaatsakzentuierte Unrechtsahndung zu unterscheiden von der scheinheiligen menschenrechts- und rechtsstaatsakzentuierten Verurteilung von DDR-Amtsträgern in den 50er und 60er Jahren). Hätten die „geläuterten“ Maßstäbe, nach denen Justizunrecht in den 90er Jahren vom BGH eingeordnet wurde (siehe Urteil vom 16. November 1995 – 5 StR 747/94), bereits für Eduard Dreher gegolten, hätte er wegen mehrfacher Tötungsdelikte zu einer mehrjährigen Freiheitsstrafe verurteilt werden müssen, was keine gute Ausgangslage für eine Karriere im BMJ gewesen wäre. Die Geschichte verlief anders und es kam zu der Pointe, daß ausgerechnet ein Krimineller, ja ein Kapitalverbrecher einer der Architekten des heute geltenden bundesdeutschen Strafrechts ist. Das hat etwas von der Ironie der gepflegten Schauerliteratur, in der sich herausstellt, daß der Leiter der Irrenanstalt der Wahnsinnigste von allen ist – mit dem Unterschied allerdings, daß es in der Gruselgeschichte Dreher, dramaturgisch unbefriedigend, keine Peripetie gab, denn seine Vergangenheit war ja bekannt.
Schon aus diesem biographischen Grund gehört Dreher in jeden Beitrag, der von der späten Aufarbeitung von NS-Unrecht handelt. Aber dann gibt es noch diese eine Episode, die Dreher wohl den größten „Nachruhm“ sichert und die alles hat, was es braucht, um am Lagerfeuer und auf der Cocktailparty erzählt zu werden: Hat Dreher, die graue Eminenz, durch einen genialen Schachzug der Gesetzgebung die Strafverfolgung von NS-Tätern sabotiert? Bei Fischer lautet die Geschichte so (ich lasse die rechtstechnischen Einzelheiten weg, sie können dort oder bei den nachfolgend zitierten Literaturstellen nachgelesen werden):
Im Jahr 1968 widerfuhr ihm [Dreher] eine gar wundersame Panne: Anlässlich der Einführung des Ordnungswidrigkeitengesetzes wurde unter Leitung von Dreher eine Vorschrift des Strafgesetzbuchs geändert, die das Verhältnis der Strafen von Haupttätern und Gehilfen regelt(e): Wenn einem Gehilfen ein „besonderes persönliches Merkmal“ fehlt, dessen Vorliegen beim Haupttäter die Strafe begründet, dann muss die Gehilfenstrafe gemindert werden. […]
Und so kam es, dass in einer sagenumwobenen Sitzung des Jahres 1968 in der Unterabteilung des Herrn Doktor Dreher im Bundesministerium der Justiz irrtümlich ein Gesetz konzipiert wurde, das dazu führte, dass am 1. Oktober 1968 schlagartig alle „Beihilfe“-Taten von NS-Verbrechern verjährt waren. Die Akten gegen die Sondereinsatzgruppen und Tausende von Mördern konnten in den Müll wandern. Eduard Dreher, unübertrefflicher Kenner der Strafrechtsdogmatik, hat die Panne natürlich sehr bedauert. Er konnte sich gar nicht erklären, wie so etwas passieren konnte. Die Akte über die entscheidende Sitzung – mit der Anwesenheitsliste der Beteiligten – ist tragischerweise seither verschwunden.
Christoph Safferling beschreibt in seinem Gröning-Beitrag „Ende der kalten Amnestie“ diese Gesetzesänderung, ohne Dreher namentlich zu erwähnen, so:
Diese Verfahren können nicht darüber hinwegtäuschen, dass die deutsche Justiz bei der Aufarbeitung der NS-Verbrechen versagt hat. Den schwersten Schlag erlitten durchaus vorhandene Anstrengungen auf Seiten der StA durch die Feststellung des Verjährungseintritts durch den BGH im Jahr 1969. Die Einführung der neuen Akzessorietätsvorschriften in § 50 Abs. 2 StGB a.F. (heute § 28 Abs. 1 StGB) durch das Einführungsgesetz zum Gesetz über Ordnungswidrigkeiten (EGOWiG) führte im Ergebnis dazu, dass alle Taten, in denen dem Täter die niedrigen Beweggründe nicht in eigener Person nachgewiesen werden konnten, bereits verjährt waren. Jeder, dem also fast 25 Jahre nach dem Ende des Krieges nicht bewiesen werden konnte, dass er damals aus Rassenhass gehandelt habe, war de facto amnestiert.
Die Frage nach der „Gesetzgebungspanne“ von 1968 ist bereits oft und ausführlich thematisiert worden, etwa von Michael Greve, „Amnestierung von NS-Gehilfen – eine Panne?“ (Kritische Justiz 2000, 412), von Hubert Rottleuthner, „Hat Dreher gedreht?“ (Rechtshistorisches Journal 2001, 665) und von Monika Frommel, „Taktische Jurisprudenz – die verdeckte Amnestie von NS-Schreibtischtätern 1969 und die Nachwirkung der damaligen Rechtsprechung bis heute“ (FS Rottleuthner, 2011) – differenziert und ohne eindeutige Ergebnisse.
Meiner Meinung nach hat die – auch in den obigen Zitaten zum Ausdruck kommende – Verkürzung, die Verfolgung von NS-Gehilfen sei durch eine Gesetzgebungspanne gebremst worden – und dafür sei Dreher als Finstermann wahrscheinlich verantwortlich -, eher den Rang einer urbanen Legende. Diese Gesetzesänderung, die bereits damals in der Presse skandalisiert worden ist (wenn auch zu spät), hatte zwar – wie vor allem von Greve belegt worden ist – eine Welle von Einstellungsentscheidungen zur Folge, doch dies dürfte weniger mit dem Gesetz als mit einer Trickserei durch eine Handvoll BGH-Richtern zu tun gehabt haben – den Rest erledigte die Autosuggestion bei Strafverfolgern, die ohnehin die heiklen NS-Verfahren loswerden wollten. Man kann die Geschichte auch so erzählen, daß die Finstermänner und Trickser eher am BGH als im BMJ ihr Unwesen trieben:
Was zunächst Dreher persönlich betrifft, so zeigt die Rekonstruktion des Gesetzgebungsvorhabens durch Greve eines ganz deutlich: Es ging von Dreher keine Initiative aus, klammheimlich und unter Ausnutzung eines Expertenwissens über den strafrechtlichen Paragraphendschungel dem Gesetzgeber eine versehentliche Amnestie von NS-Gehilfen unterzujubeln, die Abgeordneten also zu übertölpeln. Was man Dreher höchstens vorwerfen kann, ist, daß er bei den Entwurfsberatungen als Einziger (?) die politisch ungewollten Auswirkungen einer Verjährungsverkürzung in bestimmten Fällen gesehen hat, aber bewußt nicht Alarm geschlagen, sondern den Dingen ihren Lauf gelassen hat. Diese Sachlage entspricht am ehesten der ewigen Gewissensfrage des Supermarktkunden, der von der Kassiererin zuviel Geld herausbekommt hat: Schnöde den unverhofften Rabatt behalten oder zurückgehen und ehrlich den Irrtum aufklären? Von einem „Drehen“ durch Dreher kann hier aber keine Rede sein.
Der wichtigeren Frage, wieviel „Gesetzgebungspanne“ im Änderungsgesetz eigentlich steckte, kann man sich am besten so annähern: Wenn tatsächlich – wie Fischer schreibt – „am 1. Oktober 1968 schlagartig alle ‚Beihilfe‘-Taten von NS-Verbrechern verjährt waren“ oder – wie Safferling formuliert – die Gesetzesänderung zum Ergebnis hatte, „dass alle Taten, in denen dem Täter die niedrigen Beweggründe nicht in eigener Person nachgewiesen werden konnten, bereits verjährt waren“ – wie ist es dann in den 10er Jahren des 21. Jahrhundert überhaupt möglich, daß ein Demjanjuk und ein Gröning wegen Beihilfe am Mord verurteilt wurden? Diese Aussagen sind falsch, damals wie heute.
Was feststeht, ist die unmittelbare Kausalität der Gesetzesänderung von 1968 für den vielbeachteten Fall, den der 5. (Berliner) Strafsenat des BGH am 20. Mai 1969 entschieden hat (5 StR 658/68) und den er in die amtliche Sammlung hat einrücken lassen (BGHSt 22, 375). Die zentrale Passage der Entscheidung lautet so:
Das Schwurgericht hat den Angeklagten H. wegen Beihilfe zum Mord in sechs Fällen zu einer Gesamtstrafe von sechs Jahren Zuchthaus verurteilt. Die Revision führt zur Einstellung des Verfahrens, weil die Strafverfolgung verjährt ist.
Nach den Feststellungen des Schwurgerichts leistete der Angeklagte in den Jahren 1942 und 1943 als Kriminalassistent und Angehöriger des „Judenreferats“ beim Kommandeur der Sicherheitspolizei und des SD in Krakau Beihilfe zu Vernichtungsmaßnahmen gegen zahlreiche Juden. Wie das Schwurgericht weiter feststellt, wußte er, daß die Opfer allein aus Rassenhaß umgebracht wurden. Er hatte jedoch selbst nicht diesen niedrigen Beweggrund, sondern gehorchte als Polizeibeamter und SS-Angehöriger nur den Befehlen, obwohl er sie als verbrecherisch erkannt hatte.
Solche Beihilfe zum Mord ist nach der neuen Fassung des § 50 Abs. 2 StGB, die am 1. Oktober 1968 in Kraft getreten und nach § 2 Abs. 2 Satz 2 StGB zugunsten des Angeklagten anzuwenden ist, in Verbindung mit den §§ 211 (Abs. 1), 44 (Abs. 2) und 14 StGB nur noch mit Zuchthaus von drei bis fünfzehn Jahren bedroht. Ihre Verfolgung verjährt daher nach § 67 Abs. 1 StGB in fünfzehn Jahren. Diese Frist war schon verstrichen, ehe es wegen dieser Taten zu einer richterlichen Handlung gegen den Angeklagten kam, die die Verjährung nach § 68 StGB hätte unterbrechen können.
In dieser Entscheidung hatte also die „Panne“ wirklich die von vielen befürchtete – und von manchen herbeigesehnte – Auswirkung. Doch es konnte keine Rede davon sein, daß damit die Beihilfe an NS-Morden insgesamt verjährt gewesen wäre. Im letzten Beitrag hatte ich den Fall erwähnt, in dem das LG Bochum „den Angeklagten der Beihilfe zum Mord an mindestens 15.000 jüdischen Menschen schuldig gesprochen, jedoch gemäß § 47 Abs. 2 des früheren Militärstrafgesetzbuches von Strafe abgesehen“ hat. Der 4. Strafsenat des BGH hat mit Urteil vom 10. Mai 1968 – 4 StR 572/67 – diesen verdeckten Quasi-Freispruch aufgehoben und den Fall zu neuer Verhandlung zurückverwiesen. Dort hat das Schwurgericht sodann – unter Berufung auf das zwischenzeitlich ergangene „Pannen“-Urteil des 5. Strafsenats – das Verfahren wegen Verjährung eingestellt. Doch auch diese Entscheidung des LG Bochum wurde vom 4. Strafsenat des BGH aufgehoben (Urteil vom 4. März 1971 – 4 StR 386/70). Der 4. Strafsenat ließ in jedem zweiten Absatz ausdrücklich dahingestellt, ob der Entscheidung des 5. Strafsenats zu folgen sei, und erklärte, daß es auf diese nicht ankomme. Selbst wenn der Angeklagte verjährungstechnisch Nutznießer der Gesetzesänderung im Hinblick auf das Mordmerkmal „niedrige Beweggründe“ geworden sein sollte, so ändere dies nichts, weil durch die Haupttat auch das (tatbezogene) Mordmerkmal „grausam“ erfüllt sei und der Angeklagte als Gehilfe über diese Tatumstände Bescheid gewußt habe (was ausreiche). Aus den eindringlichen Ausführungen des Senats, unter wieviel verschiedenen Gesichtspunkten die Massentötungen „grausam“ waren, läßt sich geradezu die Empörung der BGH-Richter herauslesen darüber, wie man das nur anders sehen könnte. Der Fall war für den 4. Strafsenat so klar, daß er selbst den Schuldspruch umstellte und auf Zurückverweisung zur weiteren Sachverhaltsaufklärung in diesem Punkt verzichtete.
Auch im Fall Demjanjuk hat das LG München II im Jahr 2011, ohne diesen Punkt besonders zu problematisieren, Verjährung verneint, weil es das Mordmerkmal der Grausamkeit für gegeben ansah. Das LG Lüneburg hat im Fall Gröning Grausamkeit und Heimtücke bejaht. Bei den Bedingungen der industriemäßigen Massentötungen in den NS-Vernichtungslagern wird man kaum jemals das Mordmerkmal der Grausamkeit verneinen können und dies ist – wie die Empörung des 4. Strafsenats des BGH im Jahr 1971 zeigt – keine Frage der Änderung von Maßstäben durch Zeitenwandel (die im letzten Beitrag angesprochene Frage des intertemporalen Strafrechts, vgl. Art. 103 Abs. 2 GG). Da der Gehilfe nicht selbst grausam sein muß, sondern nur die Grausamkeit der Haupttäter zu kennen braucht, so wie ohnehin seine Strafbarkeit den doppelten Gehilfenvorsatz voraussetzt, dürfte die Lücke, die die angebliche „Gesetzgebungspanne“ aufgemacht hat, in Vernichtungslagerfälle und anderen Fälle systematischen Tötens von vornherein nur einen schmalen Bereich von NS-Mordtaten betreffen. Wenn gleichwohl im Juni 1970 die Staatsanwaltschaft Berlin die Strafverfahren wegen Mordbeihilfe gegen acht Sachbearbeiter im Schutzhaftreferat des Reichssicherheitshauptamt unter Verweis auf die Gesetzesänderung einstellte (Greve, a.a.O., S. 421) – was als Musterbeispiel für die These von der „Gesetzgebungspanne“ gilt -, dann dürfte sie den gleichen Fehler wie das LG Bochum im zweiten Durchgang begangen haben, der vom 4. Strafsenat mit scharfen Worten korrigiert worden ist. Möglicherweise aufgrund des Effekts, den ich mit Autosuggestion meinte: Viele Staatsanwälte waren keineswegs – anders als Safferling schreibt– frustriert über die Entscheidung des 5. Strafsenats von 1969 (mit der die „Gesetzgebungspanne“ überhaupt erst geschaffen wurde), sondern vielmehr erfreut über einen weiteren Grund, diese unliebsamen Fälle vom Tisch zu bekomme, und einen Anlaß, die Akten schnell zu schließen. Greve berichtet (a.a.O., S. 421), daß bereits im April 1970 (also auch hier vor der Entscheidung durch den 4. Strafsenat, die die Dinge wieder geraderückte) ein Staatsanwalt auf einer Fachtagung in einer ersten Bestandsaufnahme der Einstellungswelle zu dem Ergebnis kam, daß die meisten Einstellungsbegründungen die Gesetzesänderung nur als „Verbrämung“ heranzögen. Einstellen war ohnehin der erste Instinkt der meisten Staatsanwälte in diesen Fällen. Greve schreibt (a.a.O., S. 424) etwa über die Dortmunder Zentralstelle, daß sie in diesen Verfahren insgesamt eher den Eindruck einer Einstellungs- statt Verfolgungsbehörde vermittelt habe.
Die Entscheidung des 5. Strafsenats von 1969 scheint auf Staatsanwaltschaften und Gerichte wie ein Fanal gewirkt zu haben, sich ohne nähere Differenzierung laufender NS-Verfahren zu entledigen und dabei bedauernd auf den tollpatschigen Gesetzgeber zu zeigen (in der weiteren Rezeption dieser Ereignisse sollte sich nach und nach der Fokus auf Dreher als den wahrscheinlich Schuldigen verengen). Der genauere Blick auf die BGH-Entscheidung offenbart hingegen etwas Auffälliges: Wie ging der 5. Senat mit dem Frage der Grausamkeit als Mordmerkmal, das von der Gesetzesänderung unbeeinflußt war, um? Ganz anders als der 4. Strafsenat. Der Absatz, der beim 5. Strafsenat dazu zu lesen ist, lautet so:
Daß den Opfern besondere, über den Tötungszweck hinausgehende Schmerzen oder Qualen zugefügt worden seien, hat das Schwurgericht ersichtlich nicht feststellen können. Der Senat braucht daher nicht zu entscheiden, ob der mündlich vorgetragenen Auffassung des Generalbundesanwalts beizutreten ist, das Mordmerkmal „grausam“ sei schlechthin „tatbezogen“ und falle auch insoweit nicht unter § 50 Abs. 2 (nF) StGB, als es eine gefühllose, unbarmherzige Gesinnung erfordert (BGHSt 3, 180; 3, 264).
Nicht mehr und nicht weniger. Das entscheidende Wort in dieser Begründung ist „ersichtlich“. Das bedeutet, daß das LG Kiel, das den Angeklagten zu einer Gesamtstrafe von sechs Jahren Zuchthaus wegen Beihilfe zum vielfachen Mord in dessen Eigenschaft als Angehöriger des „Judenreferats“ beim Kommandeur der Sicherheitspolizei und des SD in Krakau verurteilt hatte, eine Prüfung, ob in dem Fall Grausamkeit als Mordmerkmal vorlag, überhaupt nicht durchgeführt hat. Das mußte es auch nicht, weil es Mord bereits unter einem anderen Gesichtspunkt bejaht hatte – insoweit dieselbe Konstellation, die der 4. Strafsenat zwei Jahre später zu entscheiden hatte. Nach – damals wie heute geltenden – revisionsrechtlichen Grundsätzen war aber bei dieser verfahrensrechtlichen Sachlage gar kein Raum für eine Verfahrenseinstellung durch den BGH. Er hätte zwingend das Strafverfahren an das Schwurgericht zur weiteren Aufklärung, ob die Haupttaten grausam waren, zurückverweisen müssen. Selbst hätte der BGH nur entscheiden dürfen, wenn bereits zweifelsfrei feststand, daß die Beweisaufnahme in diesem Punkt unergiebig sein würde. Ausweislich der eigenen Formulierung des 5. Strafsenats konnte davon keine Rede sein. Die Unsicherheit, was feststellbar war, kommt durch das „ersichtlich“ zum Ausdruck. Abgesehen davon war die Bejahung von Grausamkeit alles andere als unmöglich, sie war sogar naheliegend (siehe 4. Strafsenat). Die Revisionsentscheidung vom 20. Mai 1969 (5 StR 658/68) dürfte deshalb ein eklatanter Verstoß gegen das Verfahrensrecht (Revisionsrecht) gewesen sein, womöglich mit dem Zweck, den Angeklagten ungerechtfertigt von weiterer Strafverfolgung freizustellen. Mit anderen Worten: Es besteht der Verdacht, daß es sich bei dem Urteil des 5. Strafsenats unter dem Vorsitz von Werner Sarstedt, das die Vorstellung von der „Gesetzgebungspanne“ zementierte, um Rechtsbeugung handelte. Und mit Rechtsbeugung kannte sich der Senat aus, allerdings von der anderen Seite besehen: Eine der bekanntesten Entscheidung des Senats in der seinerzeitigen Besetzung war die restriktive Auslegung des Rechtsbeugungsparagraphen im Strafverfahren gegen den ehemaligen Richter am Volksgerichtshof Hans-Joachim Rehse (Urteil vom 30. April 1968 – 5 StR 670/67).
Die spannendere Frage als die, ob Dreher „gedreht“ hat, ist, ob Sarstedt „gebeugt“ hat. Vielleicht weil die so schön dazu passende Biographie in diesem Fall fehlt, wurde sie noch nicht gestellt.