1.133.520.363,11 € Streitwert. Um so viel geht es in dem Amtshaftungsverfahren GN Store Nord ./. Bundesrepublik Deutschland, in dem gestern das OLG Düsseldorf verhandelte (VI-U (Kart) 43/13). Im Vergleich zu diesem angeblichen Schaden, den die dänische Firma einklagt, lassen sich die 3.303.152,18 € an Prozeßkosten dafür (bei Zugrundelegung der Gerichtsgebühren und gesetzlichen Anwaltsgebühren für drei Instanzen) sicherlich aus der Portokasse bestreiten.
Es geht um eine Verfügung des Bundeskartellamts von April 2007, mit der die geplante Veräußerung einer Unternehmenssparte der Klägerin an einen Kaufinteressenten untersagt wurde. Nachdem der 1. Kartellsenat des OLG Düsseldorf es abgelehnt hatte, den Verkauf per einstweiliger Anordnung zu gestatten (Beschluß vom 8. August 2007 – VI-Kart 8/07 (V)), scheiterte der Verkauf, weil der Kaufinteressent kündigte. In der Folge wurde über die Rechtmäßigkeit der Verfügung im Wege eines Fortsetzungsfeststellungsverfahrens gestritten. Der Kartellsenat des OLG Düsseldorf bestätigte die Rechtsauffassung des Bundeskartellamts (Beschluß vom 26. November 2008 – VI-Kart 8/07 (V)), der BGH hingegen stellte die Rechtswidrigkeit der Verfügung fest (Beschluß vom 20. April 2010 – KVR 1/09).
Nun verlangt GN Store Nord entgangenen Gewinn nach § 839 BGB. Die Amtshaftungsklage hat das LG Köln mit Urteil vom 26. Februar 2013 – 5 O 86/12 – abgewiesen. Da die Rechtswidrigkeit der Verbotsverfügung mit dem Beschluß des BGH rechtskräftig feststeht, geht es vor allem die Frage, ob die Beamten des Bundeskartellamts vorsätzlich oder fahrlässig gehandelt haben. Das LG Köln verneinte dies unter Berufung auf die sogenannte amtshaftungsrechtliche „Kollegialgerichts-Richtlinie“. Diese besagt, daß ein Verschulden des Amtsträgers bei der Beurteilung einer Rechtsfrage grundsätzlich ausscheidet, wenn die Rechtsfrage von einem mit mehreren Richtern besetzten Gericht ebenso (falsch) beurteilt wurde. Eben dies war hier der Fall, da der Kartellsenat des OLG Düsseldorf die Verfügung bestätigt hatte. Von der – nicht gesetzlich festgeschriebenen, sondern richterrechtlich entwickelten – Kollegialgerichts-Richtlinie gibt es einige Ausnahmen, von der allerdings nach Meinung des LG Köln keine einschlägig ist.
Nun ist der Fall in der Berufungsinstanz und die Launen des Gesetzes (§§ 91 Satz 2, 87 Satz 2 GWB) und des Geschäftsverteilungsplans wollten es, daß – obwohl es sich um eine Amtshaftungssache handelt – wiederum der 1. Kartellsenat des OLG Düsseldorf zuständig ist, also ausgerechnet die Richter, die im damaligen Verbotsverfahren die rechtswidrige Entscheidung des Bundeskartellamts unterstützt hatten. Diese Personalunion sorgte in der gestrigen Verhandlung für eine ungewöhnliche Szene. Der Vorsitzende Richter Jürgen Kühnen war schwer beleidigt und ließ seinem Unmut freien Lauf. „Die Welt“ berichtet:
In der Berufungsschrift werfe [die den Kläger vertretende Kanzlei] Hengeler Mueller dem Gericht faktisch vor, „aus Faulheit und Bequemlichkeit den einfachsten Weg“ gegangen zu sein, sagte Kühnen. „Das rückt uns in die Nähe der Rechtsbeugung, das wäre ein Verbrechen“, erregte er sich. So etwas sei ihm in seiner Jahrzehnte langen Praxis noch nicht begegnet. […]
Der Anwalt lenkte ein. „Nichts liegt uns ferner, als dem Senat unzulässiges oder nachlässiges Verhalten vorzuwerfen“, stellte er klar. Sollte ein anderer Eindruck entstanden sein, entschuldige er sich dafür. Kühnens Zorn war allerdings noch nicht verraucht: „Es ist unakzeptabel, dass das Bundeskartellamt oder der Senat so mit Dreck beworfen werden.“
Man wüßte schon gerne, was für böse Angriffe in der Berufungsschrift stehen, die einen solchen Zorn hervorrufen können. Daß aber jedenfalls auch etwas anderes unakzeptabel ist, das kann man aus der Ferne beurteilen: Es ist ein Unding, daß über einen Regreßanspruch die selben Richter entscheiden, die rechtswidrig und möglicherweise schuldhaft an dem den Regreßanspruch auslösenden Sachverhalt mitgewirkt haben. Daß ein solcher Vorwurf von der Klägerseite auch gegenüber dem Kartellsenat gemacht wird, das läßt sich den Worten Kühnens unmittelbar entnehmen. Und eine solche rechtliche Argumentation ist auch nicht weiter verwunderlich, ist sie doch durch die Kollegialgerichts-Richtlinie und ihre diversen Ausnahmen vorgezeichnet: Behörde und Kollegialgericht sitzen bei nachträglich in höherer Instanz festgestellten Rechtswidrigkeit in einem Boot, bilden gewissermaßen eine Solidargemeinschaft. Sie sind beide Schädiger, von denen sich allerdings nach dieser richterrechtlichen Figur der eine hinter dem anderen verstecken kann und dieser andere – das Gericht – gemäß § 839 Abs. 2 BGB nur unter engeren Voraussetzungen haftet (nämlich bei dem von Kühnen selbst angesprochenen Vorliegen einer Straftat).
Daß aufgrund dieser Doppelrolle Kühnen und seine Kollegen (soweit sie – wie er – im damaligen Verbotsverfahren mitgewirkt haben), keine unparteiischen Richter sein können, liegt so auf der Hand, daß man sich über ihre Anwesenheit im aktuellen Verfahren sogar mehr wundern kann als über Kühnens Gefühlsausbruch.
Es liegt nahe, daß Kühnen und seine Kollegen bereits nach § 41 Nr. 1 ZPO kraft Gesetzes ausgeschlossene Richter sind. Jedenfalls wenn – wie von Kühnen selbst gesagt – die Frage im Raum steht, ob in ihren Personen ein Fall von § 839 Abs. 2 BGB vorliegt, kommen sie im Sinne von § 41 Nr. 1 ZPO als potentiell Regreßpflichtige (§§ 426, 840 BGB, kompliziert vermittelt über den Rückgriff nach Art. 34 S. 2 GG) in Betracht. Daß – was fern liegt – eine solche Haftung letztlich tatsächlich bejaht werden kann, spielt keine Rolle, weil es nur auf den klägerischen Vortrag ankommt.
Davon abgesehen wird man in einer Konstellation wie der vorliegenden aus Klägersicht Besorgnis der Befangenheit (§ 42 Abs. 2 ZPO) bejahen müssen. Nicht etwa, weil Kühnen und seine Kollegen im Ausgangsverfahren eine andere Meinung vertreten hatten als die, mit der der BGH den Rechtsstreit abschloß. Diese Konstellation ist alltäglich – Rückverweisungen etwa vom Revisionsgericht aufgrund eines Rechtsfehlers gehen gemäß § 563 Abs. 1 ZPO ganz grundsätzlich an denselben Spruchkörper und diesem traut das Gesetz zu, sich an die abweichende neue rechtliche Beurteilung zu halten (§ 563 Abs. 2 ZPO). Im vorliegenden Fall ist die Rechtswidrigkeit der damaligen Entscheidungen des Bundeskartellamts und des Kartellsenats ohnehin rechtskräftig festgestellt und kann durch den Kartellsenat nicht neu beurteilt werden. Doch Befangenheitsbesorgnis erregt der besondere Umstand, daß über die Kollegialgerichts-Richtlinie die Bewertung des Verschuldens der Amtsträger der Beklagten untrennbar verknüpft ist mit der Bewertung des Verschuldens der Kollegialrichter, also das eigene Verschulden der jetzt entscheidenden Richter. Dies gilt sowohl im unmittelbaren Anwendungsbereich dieser Richtlinie als auch bei der Handhabung ihrer Ausnahmen. So war für das LG Köln der schwerste Brocken für die Verneinung einer Haftung die vom BGH aufgestellte Regel, daß die Richtlinie nicht für fachlich besonders spezialisierte Zentralbehörden gelte. Da das Bundeskartellamt das Musterbeispiel einer solchen ist, entwickelte das LG Köln ad hoc die Gegenregel, daß diese Ausnahme nicht gelte, wenn der Zentralbehörde wiederum ein fachlich besonders spezialisiertes Gericht wie der Kartellsenat gegenüberstehe. Greift dies der Kartellsenat auf, muß er also nun darüber urteilen, wie gut oder wie schlecht er selbst in bestimmten kartellrechtlichen Spezialfragen ist.
Wie man es dreht und wendet: Kühne ist in diesem Verfahren Richter in eigener Sache. Sein Gefühlsausbruch in der gestrigen Verhandlung wäre als Illustration hierfür gar nicht nötig geworden, aber er unterstreicht aufs schönste, daß er hier kein neutraler Richter mehr ist, sondern in die Rolle gedrängt ist, für die Vertretbarkeit seiner damaligen Rechtsauffassung, die die des Beklagten war, zu kämpfen.
Der Ausbruch hat aber auch eine prozeßrechtliche Seite: Sollte die Klägerseite es bislang versäumt haben, die vorbefaßten Richter abzulehnen, ist ihnen dieses Ablehnungsrecht zwar verlorengegangen (§ 43 ZPO), doch bis zur für den 26. März angekündigten Urteilsverkündung ist dieses Recht nun wieder aufgelebt. Aus einer abstrakten Besorgnis ist eine greifbare Selbstauskunft geworden. Wie stark Kühnen – und offenbar die übrigen Senatsmitglieder, für die er sprach – die „Solidargemeinschaft“ zwischen Bundeskartellamt und Senat empfindet, ist aus seinem letzten, oben zitierten Satz klar geworden. Natürlich kann es einem Kläger nicht erlaubt sein, unliebsame Richter aus einem Verfahren zu kegeln, in dem er sie nur kräftig beschimpft. Auf solche selbst geschaffenen Befangenheitsgründe kann er sich nicht berufen. Doch darum geht es hier nicht: Daß die klägerischen Vorwürfe gegenüber dem Beklagten auch den Kartellsenat treffen, ist durch die Kollegialgerichts-Richtlinie vorgezeichnet. Harsche Kritik am Senat ist deshalb ein legitimes, wenn nicht sogar notwendiges Prozeßverhalten.
Der Anspruch auf ein unparteiisches Gericht ergibt sich nicht nur aus §§ 41, 42 ZPO, sondern ist auch in Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MRK festgeschrieben. Nach der Rechtsprechung des EGMR stellt es einen Konventionsverstoß dar, wenn Richter dazu berufen werden, über ihre eigenen Rechtsanwendungsfehler zu urteilen (Beschluß vom 29. Juli 2004 – 77562/01). Speziell zu einem Verfahren aus Deutschland, der im Vergleich zum vorliegenden ähnlich gelagert ist, liegt eine Äußerung des EGMR vor (Verfahren Samadi, Beschluß vom 7. Dezember 2008 – 22367/04): Das OLG München hatte über einen Amtshaftungsverfahren, in dem den Richtern eine Amtspflichtverletzung in einem vorhergehenden Amtshaftungsverfahren vorgeworfen wurde. Alle beteiligten Richter hielten sich für gemäß § 41 Nr. 1 ZPO ausgeschlossen. Diese Auffassung wurde hingegen nicht von den Ersatzrichtern, die darüber zu entscheiden hatten, geteilt. Deshalb mußten die ursprünglichen Richter gegen ihren Willen in der Sache entschieden, ließen aber die Revision zu, damit der BGH darüber befindet, ob sie nach § 41 oder § 42 ZPO ausgeschlossen sind (Beschluß vom 17. März 2005 – 1 U 2218/02). Der BGH befand darüber aber nicht, da er diese Fragen für nicht entscheidungserheblich hielt (Beschluß vom 21. Dezember 2005 – III ZA 5/05). Der EGMR stellte sich hingegen auf die Seite des Klägers und auf seinen Vorschlag zur gütlichen Einigung hin erkannte die Bundesregierung an, daß das OLG München in seiner konkreten Besetzung kein „unparteiisches Gericht“ im Sinne von Art. 6 Abs. 1 MRK war und daß dem Beschwerdeführer eine Entschädigung von 18.500 € für materielle und immaterielle Schäden zustand. Diese Erklärung wurde vom EGMR als hinreichende Wiedergutmachung betrachtet, woraufhin die Beschwerde aus dem Register gestrichen wurde. Da es somit nicht zu einem Urteilsausspruch gekommen war, war kein Raum für eine Wiederaufnahme nach § 580 Nr. 8 ZPO. Doch der BGH setzte den Beschluß des EGMR vom 29. Juli 2004 – 77562/01 – im Rahmen der Möglichkeiten des deutschen Prozeßrechts so um, daß er durch eine Kostenentscheidung feststellte, daß die Entscheidung des OLG München nicht so hätte ergehen dürfen (Beschluß vom 23. September 2009 – III ZR 16/06).
Milliardenklagen ausländischer Unternehmen gegen Deutschland werden normalerweise nicht vor deutschen Gerichten, sondern in der derzeit vieldiskutierten und zurecht umstrittenen internationalen Schiedsgerichtsbarkeit geführt. Wenn man aber als Kläger so auf den Arm genommen wird wie durch die In-Sich-Rechtsprechungszuständigkeit des Düsseldorfer Kartellsenats unter Richter Kühnen, dann ist es verständlich, warum es mit dem Vertrauen der Unternehmen gegenüber staatlichen Gerichten nicht weit her ist.