Nach Abschluss meines Nachschlagewerkes „Fundstellen deutscher Reichs- und Bundesgesetze. 1867—2011“ kann ich mich nun wieder – frisch gewappnet – der Arbeit an den Gesetzeseditionen zuwenden. Die nächste ist die Civilprozeßordnung vom 30. Januar 1877 (RGBl. 1877 S. 489). Und was sehen da meine entzündeten Augen im Gesetz zur Änderung des Verfahrens in bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten vom 27. Oktober 1933 (RGBl. I 1933 S. 780) (?!):
„Ein volkstümliche Rechtspflege ist nur in einem Verfahren möglich, das dem Volke verständlich ist und einen ebenso sicher wie schleunig wirkenden Rechtsschutz verbürgt.
Die Parteien und ihre Vertreter müssen sich bewußt sein, daß die Rechtspflege nicht nur ihnen, sondern zugleich und vornehmlich der Rechtssicherheit des Volksganzen dient.
Keiner Partei kann gestattet werden, das Gericht durch Unwahrheiten irrezuführen oder seine Arbeitskraft durch böswillige oder nachlässige Prozeßverschleppung zu mißbrauchen. Dem Rechtsschutz, auf den jeder Anrecht hat, entspricht die Pflicht, durch redliche und sorgfältige Prozeßführung dem Richter die Findung des Rechts zu erleichtern.
[…]
Um die zur Erreichung dieser Ziele vorhandenen gesetzlichen Mittel zu verstärken und zugleich noch andere notwendige Verbesserungen des Verfahrens herbeizuführen, hat die Reichsregierung das nachstehende Gesetz beschlossen, das hiermit verkündet wird:
Die Zivilprozeßordnung wird wie folgt geändert:
I. Wahrheitspflicht
1. In den § 138 wird als Abs. 1 folgende Vorschrift eingestellt:
‚Die Parteien haben ihre Erklärungen über tatsächliche Umstände vollständig und der Wahrheit gemäß abzugeben.‘
[…]
Der Reichskanzler Adolf Hitler
Der Reichsminister der Justiz Dr. Gürtner
Der Reichsarbeitsminister Franz Seldte“
Wer hätte das gedacht! Die prozessuale Wahrheitspflicht ist also eine Erfindung des totalitären Führerstaats und dient der „volkstümlichen Rechtspflege“ nebst „Rechtssicherheit des Volksganzen“. Welch eine Peinlichkeit und unglaubliche Ironie! Das werde ich dem Nächstbesten, der meint, mich auf § 138 Abs. 1 ZPO (CPO?) hinweisen zu müssen, um die Ohren schlagen.
Nachtrag
Diederich Eckardt weist per E-Mail, wie ich meine, ihn verstehen zu müssen, darauf hin, dass die prozessuale Wahrheitspflicht – zumindest von einigen Avantgardisten – bereits lange vor 1933 als geltendes Recht angesehen wurde. Damit hat er natürlich Recht, denn § 263 StGB gilt bereits seit dem 1. Januar 1872 auch im Zivilprozess. Die Pflicht, nur wahren Sachvortrag zu halten, war und ist meines Erachtens also eine Selbstverständlichkeit. Ich denke gerade deshalb, dass die mit § 138 Abs. 1 ZPO vorgenommene pathetische Überhöhung dieser Pflicht eine Erfindung der Nationalsozialisten genannt werden kann (siehe dazu auch Ingo Müller, Der Wert der „materiellen Wahrheit“, Leviathan. Zeitschrift für Sozialwissenschaft 1977, 522—537).