Am letzten Mittwoch hat der 1. Strafsenat des BGH seine Entscheidung über die Revision Gustl Mollaths bekanntgegeben. Die Bastion „Gegen ein freisprechendes Urteil gibt es kein Rechtsmittel“ hat er gegen alle Anstürme gehalten. Das Strafverfahren ist abgeschlossen und damit steht rechtskräftig fest: „Mollath war ein Pleitier und gewalttätig, ein prügelnder Ehemann, der seine Frau trat, biß und würgte, womöglich im Wahn“ (so die – zutreffende – Zusammenfassung des Urteils des Landgerichts Regensburg vom 14. August 2014 durch den SPIEGEL – dazu bereits hier im Blog der Beitrag „Zum Freispruch verurteilt“).
Nachdem ich in diesem Blog den Fall Mollath von Beginn der öffentlichen Diskussion an (Beitrag „Justiz im Wahn-Wahn“ vom 28. November 2012 – dort eine Zusammenfassung der Ausgangssituation, die in keiner Weise überholt ist) mit etlichen Beiträgen kommentiert habe, davon allein zwei zur Frage der Zulässigkeit der Revision, kann nun diese „Mollath-Reihe“ mit einer kritischen Analyse der BGH-Entscheidung ihren Abschluß finden.
Die Verwerfung von Mollaths Revision als unzulässig ist keine Überraschung. Daß der BGH die bisherige strikte Rechtsprechung zur Frage der Anfechtbarkeit von freisprechenden Urteilen über Bord werfen würde, hatte ich in „Zum Freispruch verurteilt“ schon als unwahrscheinlich bezeichnet, zumal – zum damaligen Zeitpunkt – dies auch eine Vorlage an den Großen Senat für Strafsachen erforderlich gemacht hätte. Daß ausgerechnet der 1. Strafsenat, der nicht gerade im Ruf bemerkenswerter Angeklagtenfreundlichkeit steht, sich zum Bannerträger eine solchen Rechtsprechungsänderung machen würde – wer hätte das ernsthaft erwartet? Durchaus überraschend – und zwar positiv – ist vor diesem Hintergrund vielmehr, daß die abweisende Entscheidung nicht die im Tagesgeschäft übliche Form eines Zweizeilers hat, sondern ausführlich begründet ist. Der 16-seitige Beschluß steht in angenehmen Kontrast zu der Zuschrift der Sachbearbeiterin beim Generalbundesanwalt, die in ihrem Entscheidungsvorschlag von einer halben Seite Länge zu dem Ergebnis kam, daß die Revision verworfen werden müsse, da der Angeklagte freigesprochen worden war – ganz so als hätte der Rechtsmittelführer dies übersehen und hätte nicht in ausführlicher Weise diese ihm bekannte bisherige Rechtsprechung in grundsätzlicher Weise auf den Prüfstand gestellt.
Man darf annehmen, daß in einem medial nicht so beachteten Fall wie dem von Mollath die Revision mit einem nicht begründeten Beschluß geendet hätte. Daß sich hier der Senat bereit fand, die Zulässigkeit der Revision doch noch einmal ausführlich zu prüfen, kann man vielleicht als sympathische Geste der Wiedergutmachung deuten, hatte doch der 1. Senat selbst eine eher unrühmliche Rolle bei dem Justizirrtum Mollath gespielt (zur ersten Revisionszurückweisung vom 13. Februar 2007 durch einen Zweizeiler, die die Vollziehung von Mollaths siebenjähriger Unterbringung legitimierte, ließe sich vieles sagen; hier genügt der Hinweis, daß diese Revision schon deshalb hätte erfolgreich sein müssen, weil die Prozeßvoraussetzung der Eröffnung des Hauptverfahrens nicht vorlag, eine Voraussetzung, die das Revisionsgericht von Amts wegen prüft). Daß übrigens der Fall Mollath trotz der eingangs angesprochenen gerichtsförmigen Bestätigung von Täterschaft und möglichem „Wahn“ ein Justizirrtum war, stellte eines der zentralen weiteren Ergebnisse des Regensburger Verfahrens dar: Die Voraussetzungen für eine Unterbringung lagen weder 2006 noch 2014 vor, so daß Mollath für das siebenjährige Wegsperren eine Entschädigung zugesprochen bekam.
Als Grund für die ausführliche Befassung mit der Rechtsschutzbitte Mollaths vor dem BGH könnte man auch – letztlich müßige – Spekulationen darüber anstellen, ob der Senat vielleicht in der Frage der Zulässigkeit gespalten war und eine Minderheit der Richter die Rechtsprechungsänderung befürwortete. Ein Kandidat hierfür wäre Henning Radtke, einer der fünf an dem BGH-Beschluß beteiligten Richter, der sich bereits 2011 umfassend wissenschaftlich zu dem Problem geäußert hatte und – bei aller Zurückhaltung – sowohl seine Aufgeschlossenheit als auch eine Differenziertheit in der Betrachtung zu erkennen gegeben hat, hinter der die vorliegende BGH-Entscheidung weit zurückbleibt. Ein Verwerfungsbeschluß nach § 349 Abs. 1 StPO setzt keine Einstimmigkeit voraus (aber selbst wo – wie im Regelfall des Beschlußverfahrens – eine solche vorgesehen ist, hat die Lebenswelt der Praxis einen eigenen Einstimmigkeitsbegriff geschaffen: „Drei zu Zwei ist einstimmig“).
Der erste positive Eindruck weicht hingegen einer Ernüchterung, sobald man beginnt, sich in die Gedankenführung des Senats näher einzulesen. Dann blättert das Blattgold der Entscheidung.
Der Beschluß ist in zwei große Abschnitte gegliedert. Der erste Abschnitt referiert die bisherige Rechtsprechung zum Stichwort „Tenorbeschwer“ mit einer Fülle von Nachweisen und hat zum Ergebnis, daß der Senat weder einfachrechtlich noch verfassungsrechtlich einen Grund sieht, von ihr abzuweichen. Im zweiten Abschnitt nimmt der Senat die Rechtsprechung des EGMR, insbesondere die Entscheidung Cleve vom 15. Januar 2015 in den Blick (dazu mein Blogbeitrag „Gustl Mollath bekommt Hilfe vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte“), stellt die Frage, ob sie der Beschwer-Rechtsprechung des BGH entgegenstehe und verneint sie. Eine Pointe kommt zum Schluß: Obwohl der Senat die Revision für unzulässig hält, hat er sich die Mühe gemacht, in vollem Umfang ihre Begründetheit zu prüfen. Man erfährt, daß die Revision nicht nur unbegründet wäre, sondern sogar offensichtlich unbegründet im Sinne von § 349 Abs. 2 StPO (ein Fingerzeig bezüglich unterschiedlicher Meinungsbilder im Senat, was Zulässigkeit und Begründetheit angeht?).
Die zentrale Begründung für die unbedingte Geltung des Prinzips der Tenorbeschwer („Eine Beschwer kann sich deshalb für den Angeklagten nur aus der Entscheidungsformel des Urteils ergeben.“, Rn. 14) gibt der Senat bei Randnummer 12. Da dies die tragende Begründung der Entscheidung im ersten Abschnitt ist (der Rest ist Hinleitung und Absicherung unter weiteren Gesichtspunkten), hier das vollständige Zitat dieser Passage:
Kann keine strafbare Tat festgestellt werden und kommt keine Maßregel der Besserung und Sicherung in Betracht, so ist damit die Aufgabe der Strafrechtspflege im einzelnen Strafverfahren grundsätzlich erfüllt. Dem Angeklagten mag im Einzelfall zwar daran liegen, aus einem bestimmten Grund – etwa wegen erwiesener Unschuld – freigesprochen zu werden. Insoweit stehen seinem Verlangen aber die Interessen der staatlichen Rechtspflege entgegen, der die Feststellung genügt, dass gegen den Angeklagten kein Strafanspruch besteht und keine Maßregel in Betracht kommt. So wird etwa auch bei nicht hinreichendem Tatverdacht gegen den Angeschuldigten das Hauptverfahren nicht eröffnet (§ 203 StPO), selbst wenn dieser das Interesse haben sollte, sich öffentlich von den gegen ihn erhobenen Vorwürfen zu reinigen. Die allgemeine Aufgabe der Strafrechtspflege zwingt aus prozesswirtschaftlichen Gründen zur Beschränkung im einzelnen Strafverfahren, insbesondere um eine uferlose Ausweitung der Beweisaufnahme zu vermeiden. Hat der Angeklagte daher keinen Anspruch darauf, aus einem bestimmten Grund freigesprochen zu werden, so kann ihm auch nicht das Recht zustehen, einen solchen Anspruch durch ein Rechtsmittel geltend zu machen (vgl. BGH, Beschluss vom 24. November 1961 – 1 StR 140/61, BGHSt 16, 374, 380). Etwaige durch die Entscheidungsgründe des Tatgerichts verursachte Folgen tatsächlicher Art würden durch ein Rechtsmittel ohnehin nicht rückgängig gemacht werden können (vgl. zuletzt BGH, Beschluss vom 18. August 2015 – 3 StR 304/15).
Was der Senat hier schreibt, ist überzeugend. Recht hat er, der Senat. Der Schönheitsfehler ist allerdings: Diese Ausführungen gehen am Fall, insbesondere am Petitum Mollaths, vorbei. Der BGH entscheidet hier eine Rechtsfrage, die ihm nicht zur Entscheidung vorgelegt worden ist. Denn das Rechtsschutzbegehren Mollaths (gleiches gilt in künftigen Fällen für andere Angeklagte in derselben Lage) bezog sich nicht darauf, einen „besseren“ Freispruch zu bekommen. Sein Revisionsbegehren war nicht, der BGH möge dafür sorgen, daß ein Freispruch „aus einem bestimmten Grund“ herauskomme. Er bat vielmehr um die allgemeine revisionsrechtliche Überprüfung, ob das angegriffene Urteil in seiner konkreten Gestalt – das heißt in Sachverhaltsfeststellungen und Rechtsanwendung – Rechtsfehler enthält. Eine Prüfung, die ja auch – wie die „Pointe“ zeigt – ohne weiteres möglich ist, ohne in irgendeiner Weise in das Prozeßrecht einen Fremdkörper hineinzubringen. Anders als der BGH mit seiner Argumentation suggeriert, verfolgte Mollath keinen „Leistungsanspruch“ auf ein Urteil der ihm genehmen Art, sondern einen „Abwehranspruch“ gegen das Urteil, so wie es gerade ist. Er machte geltend, daß er die Feststellungen des Landgerichts, er sei Täter einer Straftat und hätte dabei einen Geisteszustand gehabt, der nicht ausschließbar den Grad des § 20 StGB erreichte, nur dann hinnehmen müsse, wenn sie nach den allgemeinen Kriterien einer revisionsrechtlichen Kontrolle standhalten – eine Kontrolle, wie sie etwa auch auf die ohne weiteres zulässige Revision der Staatsanwaltschaft gegen den In-dubio-pro-reo-Freispruch hin durchzuführen gewesen wäre.
Diesen springenden Punkt, den ich bereits im Beitrag „Zum Freispruch verurteilt“ angesprochen habe, hat der BGH im Ansatz verkannt. Seine Falllösung beruht zentral darauf, daß er den Diskussionsgegenstand durch einen anderen ausgetauscht hat. Wer dies in einer Diskussion bewußt tut, argumentiert unredlich und bedient sich aus dem Schatzkästchen des Sophisten. Wer es unbewußt tut, argumentiert schlicht schlampig.
Der Streitpunkt, um den es hier wirklich ging, war ein anderer. Er ist zudem vielfach bereits aufbereitet worden. Radtke hat ihn in seinem schon erwähnten Aufsatz zutreffend so identifiziert: „Die Gründe einer angefochtenen Entscheidung können einen den Beschuldigten oder Angeklagten diskriminierenden Inhalt aufweisen oder es kann eine solche Wirkung von ihnen ausgehen. Der auf Schuldunfähigkeit gestützte Freispruch, bei dem die Begehung einer rechtswidrigen Tat des diese bestreitenden Angeklagten festgestellt und ihm eine zur Anwendung von § 20 StGB führende ‚krankhafte seelische Störung‘ attestiert wird, genügt als Beispiel.“ Auch der ehemalige BGH-Richter Kuckein hat in seinem Aufsatz „Zur Beschwer des Angeklagten bei einem Freispruch wegen Schuldunfähigkeit“ von 2003 (auch hierzu bereits „Zum Freispruch verurteilt“) die entscheidungserhebliche Frage herausgearbeitet (und beantwortet): „Die einen Freispruch tragende Feststellung des Gerichts, der Angeklagte sei „unzurechnungsfähig“ gewesen – oder dies sei nicht auszuschließen – ist eine solche unzumutbare Beeinträchtigung seiner durch Art. 1 Abs. 1 und 2 Abs. 1 GG geschützten Menschenwürde und Entfaltungsfreiheit. […] Der Angeklagte trägt damit das Stigma des „Geisteskranken“, das er – ohne Anfechtungsmöglichkeit – nicht hinnehmen muß.“
Nicht nur die positive Feststellung der (nicht ausschließbaren) Unzurechnungsfähigkeit, sondern auch (und vielleicht erst recht) die positive Zuschreibung der Täterschaft sind die entscheidenden Anknüpfungspunkte für die Frage, ob eine rechtliche Beschwer vorliegt, etwa ein Eingriff in ein grundrechtlich geschütztes Interesse. Man darf diese Frage nicht vermischen mit der erst auf der Begründetheitsebene zu entscheidenden Frage, ob dieser Eingriff gerechtfertigt ist. Selbstverständlich darf ein Gericht den Angeklagten, den es für den Täter hält, Täter nennen. Und selbstverständlich kann es nicht nur, sondern muß es ihn freisprechen, wenn es seine Zurechnungsfähigkeit (ggf. in dubio pro reo) verneint. Die Frage ist: Muß der Angeklagte diesen Eingriff (wenn es denn einer ist) auch dann hinnehmen, wenn das Gericht auf rechtswidrige Weise, das heißt unter Verletzung des Gesetzes (allgemeiner revisionsrechtlicher Prüfungsmaßstab des § 337 Abs. 1 StPO) zu diesem Ergebnis gekommen ist? Zu diesen einzig relevanten Fragen hat sich der BGH nicht geäußert, da er die Fallfrage unter der Hand umformuliert hat.
Ich hatte, Kuckein folgend, dafür plädiert, die prozessuale Beschwer entgegen der bisherigen Rechtsprechung in Fällen eines Freispruches zu bejahen, der tragend auf Feststellungen gestützt ist, die nach heutigem Verständnis einen staatlichen Eingriff in den grundrechtlich geschützten sozialen Achtungsanspruch darstellen. So würde das Strafrecht wieder mit den Verhältnissen im allgemeinen öffentlich-rechtlichen Bereich synchronisiert, wo kein Verwaltungsrichter auf die Idee kommen würde, es fehle an der Klagebefugnis (Beschwer!) für eine Unterlassungsklage gegen ehrverletzende Äußerungen eines Bürgermeisters, nur weil diese „schlicht-hoheitlich“ sind und keine „Regelungswirkung“ (Tenor!) haben. Als Modellfall hatte ich den Wandel der strafprozessualen Rechtsprechung zu „erledigten“ Grundrechtseingriffen vorgeschlagen. Das Prozeßrecht ist nun einmal, wie jedes Rechtsgebiet, im Wandel. An Lösungen aus einer Zeit, in der die Grundrechte „laufen lernten“, um ihrer selbst willen festzuhalten, ist eine schwache Grundhaltung.
Der BGH hat es in seiner jetzigen Entscheidung nicht nur versäumt, zum eigentlichen Fall vorzudringen, sondern hat auch, aufgrund seines Bedürfnisses nach Beharrung, die eigenen Grundsätze durcheinandergeworfen. Mit dem Gang seiner Argumentation bei Rn. 11 und 12 insinuiert er, die „Tenorbeschwer“ sei mit der „Beschwer“ gleichzusetzen. Mit dem ersten Satz bei Rn. 13 wird dies sogar zur glatten Behauptung. Dem ist aber nach der bisherigen Rechtsprechung gerade nicht so (bei Rn. 35 der vorliegenden Entscheidung rudert der Senat auch wieder etwas zurück). Die Rechtsprechung des BGH ist vielmehr immer von einem materiellen Beschwerbegriff ausgegangen, auch und gerade in Entscheidungen, in denen er den Grundsatz von der Tenorbeschwer verteidigt hat (BGH, Beschluß vom 24. November 1961 – 1 StR 140/61: beschwert ist der Angeklagte, „wenn durch die Entscheidung seine rechtlichen Interessen nach irgendeiner Richtung beeinträchtigt werden“). Wenn sich über die Jahrzehnte das Grundrechtsverständnis so ausdifferenziert, daß Interessen, die früher als tatsächliche gegolten haben, nun als (grund)rechtliche anerkannt sind, dann zieht das Strafprozeßrecht nach, ohne daß sich irgendetwas an seinen Grundsätzen ändern müßte. Die „Tenorbeschwer“ war immer nur eine Richtschnur, keine unverrückbarer Zulässigkeitsvoraussetzung (so ausdrücklich auch Radtke: „Der Grundsatz der Tenorbeschwer ist damit an sich zutreffend und berechtigt. […] Der Grundsatz der Tenorbeschwer ist ein Grundsatz, nicht mehr.“). Der BGH stellt hingegen in der vorliegenden Entscheidung (implizit bei Rn. 11 und 12 und ausdrücklich bei Rn. 13) die Verhältnisse auf den Kopf und macht geradezu aus dem Grundsatz der materiellen Beschwer einen Grundsatz der formellen (nämlich allein am Tenor orientierten) Beschwer.
Spannend war es, zu erfahren, wie der BGH damit umgehen würde, daß ein Ausspruch wie der des LG Regensburg für den Angeklagten nicht nur einen Eingriff in ein ideelles Interesse (vielleicht grundrechtlich geschützt, vielleicht nicht), darstellt, sondern tatsächlich auch konkret geregelte rechtliche Konsequenzen hat. Gemäß § 11 Abs. 1 BZRG wird nämlich nun in das Bundeszentralregister über Mollath eingetragen, daß er Täter einer Gewalttat war, die er vielleicht im Zustand der Unzurechnungsfähigkeit begangen hat). Im Rahmen der Diskussionen im Anschluß an den Regensburger Urteilsspruchs kam selbst strikten Verfechtern der bisherigen Beschwerrechtsprechung dieser Punkt als ein Rechtsschutzproblem vor, das dem BGH eine Verwerfung der Revision schwer macht. Wie würde der BGH diese harte Nuß knacken? Nun, der 1. Strafsenat hat das Problem nach der Methode „Gordischer Knoten“ gelöst, indem er es demonstrativ ignoriert: Bei Rn. 13 spricht er zwar diese registerrechtliche Folge an, erklärt aber nicht, warum sie keine Beschwer darstellt, sondern dekretiert ohne den Hauch einer Begründung, daß dies nichts an seiner Entscheidung ändere:
Auch mittelbare Folgen des Verfahrens, etwa der gemäß § 11 Abs. 1 Nr. 1 BZRG zwingende Registereintrag oder Verwaltungsangelegenheiten, begründen keine Beschwer, die zur Zulässigkeit der Revision führt. Dem hat sich das Schrifttum überwiegend angeschlossen ([Nachweise]).
So kann man es natürlich auch machen. Das Argumentationsniveau schrumpft auf „Es ist so, weil es so ist. Das haben wir immer schon so gemacht. Wo kämen wir denn da hin?“ Das ist immerhin von erfrischender Kaltschnäuzigkeit gegenüber dem Problembewußtsein des 3. Strafsenats, der gerade eben erst die Frage aufgeworfen hatte, ob die Registereintragung eine Beschwer begründet, diese Frage aber offen lassen konnte, weil im konkreten Fall die Voraussetzungen für eine Eintragung gerade nicht vorlagen (Beschluß vom 18. August 2015 – 3 StR 304/15; ebenso bereits OLG Frankfurt, Beschluß vom 11. Mai 2010 – 3 Ws 412/10).
Kommen wir zu erfreulicheren Punkten in der Entscheidung des BGH:
Weil es illusorisch erschien, daß der 1. Strafsenat unter Änderung der Rechtsprechung eine allgemeine revisionsrechtliche Kontrolle von freisprechenden Urteilen mit belastenden Feststellungen einführt, habe ich im Beitrag „Zum Freispruch verurteilt“ daneben auch eine „kleine Lösung“ vorgeschlagen: Die Revision müßte jedenfalls in dem Maße zulässig sein, in dem – entsprechend der ständigen Rechtsprechung des BVerfG – eine Verfassungsbeschwerde zulässig wäre, nämlich für Verstöße gegen spezifisches Verfassungsrecht. Darunter fallen auch Rechtsanwendungsfehler, die so schwer seien, daß sie auch gleichzeitig das verfassungsrechtliche Willkürverbot verletzen (aus der umfangreichen verfassungsgerichtlichen Judikatur siehe nur die jüngste Entscheidung des BVerfG vom 29. Oktober 2015 – 2 BvR 388/13). In den Diskussionen auf meinen Beitrag hin ist mir – kein schlechter Einwand – entgegengehalten worden: Wie könne denn das sein? Ein unzulässiges Rechtsmittel könne doch nicht dadurch zulässig werden, daß der – ja gerade nicht überprüfbare – Rechtsfehler besonders schwer wiege. Was auf den ersten Blick wie ein Münchhausen-Kunststück und verbotene Rekursion aussieht, ist jedoch als von vornherein eingeschränkte Rügebefugnis gut begründbar – und siehe da: Der BGH hat eben solch eine Prüfung durchgeführt (Rn. 24 ff.). Daß diese Prüfung der Revision nicht zum Erfolg verhalf, versteht sich von selbst, war ja, wie gesehen, aus der Sicht des Senats nicht einmal die Schwelle einer einfachen revisionsrechtlichen Beanstandung erreicht (und deshalb die Revision selbst nach diesem Maßstab „offensichtlich unbegründet“). Aber wenn der Senat es bei Rn. 24 als entscheidungserheblich verstanden wissen will, daß die Strafkammer das für den Urteilsspruch „erforderliche Maß“ an (negativen) Feststellungen nicht überschritten hatte, müßte es im Umkehrschluß eine revisionsrechtliche Bedeutung gehabt haben, wenn es dieses Maß doch überschritten hätte. Wie der 1. Strafsenat rechtstechnisch mit einem solchen Verstoß (falls es denn tatsächlich einer ist) umgegangen wäre, mußte er folgerichtig nicht klären.
Ein ähnlicher Aha-Effekt stellt sich in dem Abschnitt des Beschlusses ein, der sich mit den Folgerungen aus der Cleve-Entscheidung des EGMR befaßt. Der BGH verwendet hier viel Mühe darauf, abzugrenzen, inwieweit der Fall Mollath anders gelagert ist als der Fall Cleve und warum die Grundsätze der Cleve-Entscheidung hier nicht anwendbar sind. Die Ausführungen des BGH sind völlig zutreffend. Auch in meinem Beitrag „Gustl Mollath bekommt Hilfe vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte“ hatte ich gesagt, daß die Cleve-Entscheidung für die hier interessierende revisionsrechtliche Frage nicht unmittelbar etwas hergibt. Das Bemerkenswerte ist aber, daß sowohl der Obersatz als auch die ihn ausfüllenden Differenzierungen des 1. Strafsenats nicht anders verstanden werden können als daß er sich in einem Fall, der demgegenüber dem Fall Cleve gleichgelagert wäre, gehalten gefühlt hätte, in Abweichung von der bisherigen Rechtsprechung die Revision für zulässig zu erklären. Das ist allemal eine Nachricht!
Was der 1. Strafsenat nicht gesehen hat, ist, daß der Zusammenhang zwischen den Fällen Cleve und Mollath im Hinblick auf die Beschwerrechtsprechung ein mittelbarer ist. Ich hatte ihn in meinem Beitrag so beschrieben: „Aufgrund der Rechtsprechung des EGMR ist gerade derjenige Grundsatz hinfällig geworden, der freigesprochenen Angeklagten wie Mollath bislang – gewissermaßen um seiner selbst willen – entgegengehalten wurde, eben das Dogma von der Tenorbeschwer. Das Scharnier, das den Fall Mollath mit dem anders gelagerten Fall Cleve verbindet, ist nicht Art. 6 Abs. 2 MRK, sondern Art. 13 MRK.“ Es handelt sich um eine juristische Transferleistung, die zu erbringen war, für die aber der 1. Strafsenat keinen Sinn hatte. Die Einzelheiten der Argumentation sind dem Beitrag zu entnehmen und brauchen hier nicht wiederholt werden. Bemerkenswert ist jedenfalls, daß die Frage nach einem Recht auf eine zweite Instanz, die dabei eine Rolle spielt, auch vom BGH thematisiert – und auf der Grundlage der MRK zu Recht verneint wurde (Rn. 30). Zu den dieses Recht gewährleistenden Bestimmungen Art. 2 MRK-ZP7 (für Deutschland noch nicht bindend) und Art. 14 Abs. 5 IPBR (für Deutschland bindend) hat er hingegen kein Wort verloren. Offenbar sind sie ihm nicht bekannt.
Im Beitrag „Gustl Mollath bekommt Hilfe vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte“ hatte ich argumentiert, daß die Cleve-Entscheidung des EGMR eine einmalige Chance bot, in Fällen wie dem Mollaths die Rechtsprechung von der Tenorbeschwer zu überwinden. Während Rechtsprechungsänderungen dieser Art normalerweise den prohibitiv wirkenden Weg über den Großen Strafsenat gehen müssen, wäre hier eine Vorlage entbehrlich gewesen, weil die EGMR-Entscheidung die „Bindung“ an die frühere Rechtsprechung gelöst hatte. In der Zwischenzeit hat der 2. Strafsenat genau diesen Gedankengang praktiziert, indem er unter Verweis auf eine andere Deutschland betreffende EGMR-Entscheidung die bisherige Rechtsprechung zur rechtsstaatswidrigen Tatprovokation ohne Anrufung des Großen Strafsenats aufgab (Urteil vom 10. Januar 2015 – 2 StR 97/14). Es hatte sich durch „Cleve“ für den BGH ein Fenster geöffnet, den Grundrechten mehr Wirkung im Strafprozeßrecht einzuräumen. Der 1. Strafsenat hat es nicht genutzt, sondern es für künftige Verfahren wieder geschlossen. Ab jetzt ist diese Frage wieder vorlagepflichtig.
Wenn der Senat bei Rn. 36 anzudeuten versucht, dieses Fenster habe sich schon mit dem Beschluß des BVerfG vom 15. Juli 2015 – 2 BvR 2292/13 geschlossen, hat er damit endgültig den Kontakt zum Streitfall verloren. Wie eine Entscheidung über die Zulässigkeit einer Verfassungsbeschwerde gegen eine arbeitsgerichtliche Entscheidung beeinflußt sein könnte von einer spezifisch strafrechtlichen Gewährleistung der Menschenrechtskonvention in der Auslegung durch den EGMR, ist nicht einmal ansatzweise nachzuvollziehen. Auf eine solche Idee kann nur kommen, wer sich gedanklich endgültig auf die Ebene der Besitzstandswahrung abstrakter Prinzipien zurückgezogen hat und sich für die ihnen ursprünglich zugrundeliegenden Wertungen nicht mehr interessiert.
Nun ein näherer Blick auf die „Pointe“: Der BGH gibt an, trotz Unzulässigkeit der Revision die übliche revisionsrechtliche Überprüfung durchgeführt und dabei keinen Rechtsfehler entdeckt zu haben. Dieses „Selbst wenn der Rechtsbehelf zulässig wäre, wäre er jedenfalls unbegründet“ ist keine Besonderheit des Falles Mollath, sondern wird von den Gerichten oft praktiziert. Was man von solchen obiter dicta hält, ist Geschmacksfrage. Ich finde sie ganz sympathisch: Der strenge Torwächter vor dem Gesetz hält die Regeln ein, nach denen der Rechtssuchende nicht einzulassen ist, er zeigt aber seine weiche Seite, indem er den Petenten ausnahmsweise durch das Gitter schauen läßt, um ihn beruhigen, daß auf der anderen Seite für ihn ohnehin nichts zu erwarten war. Zum Glück für die Richter stellt sich bei solchen hypothetischen Prüfungen fast immer heraus, daß das Rechtsmittel auch unbegründet ist. Würde die Prüfung ergeben, daß es begründet, aber leider unzulässig ist, wäre man in der Bredouille und würde sich ärgern, überhaupt die Prüfung durchgeführt zu haben. Denn ein bißchen leid muß es dann einem ja um den Rechtsmittelführer tun und es ist das Mindeste, ihm dieses Ergebnis zu verheimlichen.
Aber wie ernst zu nehmen ist der in den 349-Abs.-1-Beschluß gekapselte 349-Abs.-2-Beschluß? Ich hatte in dem ersten Beitrag zur Revision Mollaths eine Einschätzung zu den Erfolgsaussichten der Revision nach Überspringen der Zulässigkeitshürde abgegeben. Die Verurteilung wegen (einfacher) Körperverletzung hielt ich bei sorgfältiger Abfassung der (damals noch ausstehenden) schriftlichen Gründe für kaum angreifbar (was keinesfalls bedeuten muß, daß das Landgericht einen Treffer bei der Wahrheitsfindung gelandet hat). Daß das Landgericht rational begründen könnte, wie es sich aufgrund der Hauptverhandlung von einer Überschreitung der Grenze zur lebensgefährlichen Körperverletzung hat überzeugen können, hielt ich für unwahrscheinlich. Der Sachverständige hat hierfür nichts feststellen können und die damit allein entscheidende (viele Jahre alte und indirekt in die Hauptverhandlung eingebrachte) Aussage der Verletzten hielt selbst der Vertreter der Staatsanwaltschaft in diesem Punkt für unbrauchbar (ohne die sich daraus ergebende Konsequenz zu erkennen). Der dritte Punkt ist der interessanteste: Lag ein Sachverhalt vor, auf dessen Grundlage das Gericht von nicht ausschließbarer voller Schuldunfähigkeit ausgehen konnte? Abseits des oben angesprochenen Interesses des Angeklagten, sich gegen eine solche Zuschreibung zu wehren, ist es eigentlich typischerweise die Staatsanwaltschaft, die das größere Interesse hat, gegen einen solchen Spruch in Revision zu gehen. Hier hatte auch der Vertreter der Staatsanwaltschaft in seinem Plädoyer ausgeführt, daß er keine Anhaltspunkte für eine solche Entscheidung sehe. Er hätte ohne weiteres gegen das freisprechende Urteil in Revision gehen können, ohne daß sich ein Zulässigkeitsproblem gestellt hätte und über diese Revision hätte der BGH nach mündlicher Verhandlung durch Urteil entscheiden müssen.
Sowohl bei freisprechenden Urteilen im Allgemeinen als auch bei Bejahung von § 20 StGB im Speziellen (vor allem wenn sie ein „Laufenlassen“ des Angeklagten zur Folge hat, also auch keine Unterbringung angeordnet wird) und erst recht bei der Anwendung des Zweifelssatzes stellt der BGH höchste Anforderungen an die Begründung durch das Gericht. Eine Begründung, die im Wesentlichen auf ein „Nichts genaues weiß man nicht“ hinausläuft, läßt der BGH den Strafkammern nicht durchgehen. So leicht sollen Angeklagte der Justiz nicht von der Schippe springen. In meinem Beitrag hatte ich ausführlich begründet, warum nach dem strengen Maßstab des BGH ein in-dubio-pro-reo-Freispruch in diesem Fall nicht haltbar erscheint. Das gutachterlichen Äußerungen des Sachverständigen Nedopil liefen darauf hinaus, daß er weder positiv noch negativ etwas Brauchbares über den Geisteszustand des Angeklagten zum Zeitpunkt der angeblichen Tat hat feststellen können, daß es aber aufgrund von Indizien geboten sein könne, für das weitere Abklären von der Verdachtsdiagnose einer Störung auszugehen. Daß ein solcher „medizinischer Zweifelssatz“ nicht mit dem juristischen Zweifelssatz übereinstimmt, liegt auf der Hand. Aber lassen wir es dahingestellt, ob sich aus der von Nedopil in allerlei Formulierungsvarianten auf den Richtertisch abgeladene Nichtdiagnose doch genug Stoff für die Anwendung des Zweifelssatzes im Hinblick auf das Vorliegen einer Störung im Sinne von § 20 StGB ableiten ließ. Selbst wenn dem so wäre, müßte das Gericht noch nachvollziehbar begründen, daß sich dieser Zustand auch möglicherweise in der Tat verwirklicht hat. Der 1. Strafsenat selbst hat – als es darum ging, den Grundsatz der Tenorbeschwer abstrakt zu verteidigen – in der vorliegenden Entscheidung die insoweit geltenden Begründungsanforderungen ausformuliert (Rn. 17):
Hat ein Sachverständiger eine schwere Abartigkeit weder bejaht noch ausgeschlossen, liegt ein Rechtsfehler vor, wenn der Tatrichter „deshalb“ „zugunsten“ des Angeklagten ohne weiteres von einer erheblichen Beeinträchtigung dessen Hemmungsvermögens ausgeht. Die Urteilsgründe müssen sich vielmehr dazu verhalten, in welchem Ausmaß sich das Eingangsmerkmal beim Tatentschluss oder der Tatausführung ausgewirkt hat. Etwa das Gewicht der Tat und die dadurch beeinflusste Höhe der von ihr ausgehenden Hemmschwelle können dabei für die Beurteilung Bedeutung gewinnen. Sie müssen deshalb festgestellt und in den Urteilsgründen in für das Revisionsgericht nachprüfbarer Weise dargelegt werden
Der Senat wollte an dieser Stelle seiner Entscheidung nur erklären, warum es kein gangbarer Weg für die Vermeidung von Belastungen für den Angeklagte ist, wenn bei einem Freispruch wegen nicht ausschließbarer Schuldunfähigkeit einfach die Frage, ob überhaupt eine Straftat begangen wurde, „dahingestellt“ und in der Schwebe bleibt. Denn, so der BGH überzeugend, die Schuldunfähigkeit kann nur in Bezug auf eine konkret begangene Tat beurteilt werden. Damit hat aber der Senat den Maßstab genannt, an dem das konkrete Urteil des LG Regensburg in einem neuralgischen Punkt gemessen werden muß. Die Subsumtion muß jeder interessierte Leser selbst vornehmen, da der Senat die Gründe, warum das Urteil nicht zu beanstanden sei, nicht offengelegt hat. Die Strafkammer hatte ihr Ergebnis in diesem Punkt so zusammengefaßt (Seite 88 des Urteils):
„b.) Aufhebung der Steuerungsfähigkeit bei Begehung der Tat
Zudem ist aus rechtlicher Hinsicht von einer Aufhebung der Steuerungsfähigkeit als relevanter Auswirkung einer wahnhaften Störung bei Begehung der Tat im Sinne des § 20 StGB auszugehen.
Hierbei hat die Kammer berücksichtigt, dass aus einer Diagnose im Sinne von § 20 StGB für sich allein noch nicht auf eine rechtlich erhebliche Aufhebung der Steuerungsfähigkeit im Sinne von § 20 StGB geschlossen werden kann (Fischer, a.a.O., § 20 Rn 42a).
Da nicht ausschließbar ist, dass eine psychische Störung bei dem Angeklagten von solcher Art und solchem Ausprägungsgrad vorlag, dass die psychische Funktionsfähigkeit des Angeklagten beeinträchtigt und er als Folge der Störung bei der Begehung der Tat nicht in der Lage war, nach der Einsicht vom Unrecht der Tat zu handeln, liegt möglicherweise eine Aufhebung der Steuerungsfähigkeit vor.
Aufgrund nicht ausschließbarer Schuldunfähigkeit im Sinne von § 20 StGB zum Tatzeitpunkt ist der Angeklagte somit aus rechtlichen Gründen freizusprechen.
Nicht ausschließbar war für die Strafkammer eine psychische Störung, weil es ihr „möglich [erschien], dass sich der Angeklagte deutlich verrannt hatte […] und eine Einengung des Denkens in einem geschlossenen System eingetreten war, so dass er in bestimmten Situationen nicht mehr in der Lage war, adäquat zu reagieren“ (S. 79). Die „starke gedankliche Konzentration auf Schwarzgeldgeschäfte“ (S. 80) hätte – möglicherweise – bei Mollath eine Persönlichkeitsstörung hervorgerufen, die rechtlich den Grad einer „schweren seelischen Abartigkeit“ im Sinne von § 20 StGB erreichte. Da staunt der Laie, wie schnell es gehen kann beim sich Verrennen und Konzentrieren und überhaupt bei Idealismus. Doch die eigentlich juristisch kniffligen Fragen waren damit erst angeschnitten. Strafmilderung nach § 21 StGB oder gar Straffreiheit nach § 20 StGB bewirkt ein solcher Zustand nur, wenn er sich in der jeweiligen Tat auswirkte. Selbst wenn bei einer Person eine psychische Störung feststeht, ist sie nicht im Dauerzustand der Schuldunfähigkeit, sondern bei ihren täglichen Verrichtungen regelmäßig normal motiviert. Nichts anderes gilt bei Straftaten, die sie begeht. Die Bejahung eines Kausalzusammenhangs zwischen dem Zustand (falls er den vorliegt) und der Tatbegehung muß also auf irgendeiner faktischen Grundlage erfolgen. Und auch die in-dubio-pro-reo-Annahme dieser Kausalität darf nicht – so der BGH im obigen Zitat – rein spekulativ sein, sondern muß sich auf Feststellungen beziehen.
Eine Beziehung zwischen dem (unterstellten) Zustand des § 20 StGB und dem konkreten Tatgeschehen einer Körperverletzung hat die Strafkammer hier nicht hergestellt. Dies konnte sie schon deshalb nicht, weil es im Dunkeln blieb, aufgrund welcher Dynamik es an jenem Tag des Jahres 2001 zu den Handgreiflichkeiten unter den Eheleuten gekommen war, die das Gericht meinte festzustellen zu können. Weil die Verletzte ihr Recht auf Aussageverweigerung wahrnahm, konnte das Gericht nichts dazu feststellen, um was es eigentlich ging, von wem der Streit ausging und wie er sich – gegebenenfalls – hochschaukelte. Daß es um Bankgeschäfte gegangen sein könnte, war seinerseits eine Annahme („Anlass der Auseinandersetzung vom 12.08.2001 waren nicht ausschließbar Unstimmigkeiten betreffend die Bankgeschäfte der Nebenklägerin.“, S. 11). Dieser Anlaß läge aber auch innerhalb der normalen Bandbreite eines ehelichen Streits. Geradezu unlogisch erscheint es, ohne Anhaltspunkte eine wahnbedingte Gewalttätigkeit anzunehmen, wenn man im vorherigen Schritt den unterstellten Wahn gerade an einem übersteigerten Eintreten für Frieden, Gewaltlosigkeit und Gerechtigkeit festgemacht hat („vehementen Eintreten des Angeklagten für den Frieden und gegen Waffen, der von ihm empfundenen Ungerechtigkeit der Welt und seinem Kampf gegen Schwarzgeldverschiebungen“, S. 71). Es erscheint schwer vorstellbar, daß eine ernsthafte revisionsrechtliche Prüfung in irgendeinem anderen Fall ein so niederschwelliges Eingreifen des Zweifelssatzes toleriert hätte. Von dem inhaltlichen – revisionsrechtlich schwer angreifbaren – Umstand abgesehen, daß die Strafkammer auch keine echte sachverständige Grundlage hatte (Nedopil: „so daß aus heutiger Sicht ein Handeln aus einer wahnhaften Motivation heraus kaum angenommen werden kann“).
Was nun? Wäre Mollath gut beraten, gegen den BGH-Beschluß Verfassungsbeschwerde einzulegen? Abgesehen davon, daß er dadurch in der öffentlichen Wahrnehmung Sympathien verspielen würde („Irgendwann muß auch mal gut sein“), erscheint mir eine Verfassungsbeschwerde aussichtslos. Denn der BGH hat trotz Unzulässigkeit der Revision die geforderte Überprüfung des Regensburger Urteils gerade durchgeführt und das Ergebnis mitgeteilt. Daß dies im Gewand eines Verwerfungsbeschlusses erfolgte, ändert nichts daran, daß Mollath die angestrebte revisionsrechtliche Überprüfung erhalten hat. Das BVerfG hatte es in einem früheren Fall sogar als Heilung eines Verfassungsverstoßes gelten lassen, daß der BGH im Rahmen eines formellen Verwerfungsbeschlusses die Position des Beschwerdeführers als begründet anerkannt hatte (BVerfG, Beschluß vom 5. Mai 2001 – 2 BvR 413/00; meine angestellte Überlegung, daß dieser Fall eine Blaupause für die Behandlung des Falles Mollath durch den BGH abgeben könnte, ist damit zum Teil eingetreten).
Da aber andererseits der BGH sich mit den eigentlichen Fragen der Zulässigkeit der Revision in Fällen eines „unechten Freispruchs“ gerade nicht befaßt hat, harren sie weiterhin einer höchstrichterlichen Klärung und kein Strafsenat des BGH oder eines Oberlandesgerichts sollte sich durch die unzulänglichen Ausführungen des 1. Strafsenats im vorliegenden Beschluß davon abhalten lassen, sie im nächsten Fall dieser Art einer ernsthaften Prüfung zu unterziehen. Gegen eine abschlägige Entscheidung steht dem Angeklagten die Verfassungsbeschwerde offen. Aktuelle Entwicklungen lassen erwarten, daß Freisprüche dieser Art in der Zukunft häufiger vorkommen. Der Gesetzgeber hat kürzlich die Anforderungen für die Verhängung der Maßregel der Unterbringung verschärft. Wenn Zeitungen dazu titeln „Psychisch kranke Straftäter sollen öfter ins Gefängnis“, dann ist das irreführend, weil man meinen könnte, alle Fälle, in denen bisher eine Unterbringung angeordnet wurde, welche nach den neuen Kriterien nicht mehr möglich ist, würden nun mit einer Freiheitsstrafe enden. Dem ist nicht so. In Fällen einer Straftat, die (nicht ausschließbar) im Zustand des § 20 StGB begangen wurde, ist die „Option“ Freiheitsstrafe von vornherein versperrt (Freiheitsstrafe kombiniert mit Unterbringung kommt nur im Bereich des § 21 StGB in Betracht). Hinzu kommt: Wenn der Zweifel bereits auf der Ebene der Eingangsmerkmale ansetzt (eben wie im Urteil des LG Regensburg), dann ist der Weg sowohl in die Unterbringung als auch in die Freiheitsstrafe versperrt. Solche Fälle müßten in Zukunft geradezu inflationär auftreten, sollte die Position des LG Regensburg (und des 1. Strafsenats des BGH im vorliegenden Beschluß) vom umstandslosen Eingreifen des Zweifelssatzes in „Nichts-genaues-weiß-man-nicht-Fällen“ ernstgemeint sein.
Nachtrag vom 20. Dezember 2015
In der ursprünglichen Fassung dieses Beitrags hatte ich angegeben, daß sich die Begründung des LG Regensburg zu dem nicht ausschließbaren motivationalen Zusammenhang zwischen dem nicht ausschließbaren „Wahn“ und dem vom Gericht angenommenen Körperverletzungsgeschehen in den oben zitierten vier Absätzen erschöpften und darin nur behauptet und nicht begründet seien. Dies war falsch. Ich habe diesen Teil des Beitrags überarbeitet und mich ausführlicher mit der – ebenfalls ausführlichen – Begründung der Strafkammer auf den Seiten 82 bis 84 auseinandergesetzt.
Nachtrag vom 14. Oktober 2016
Aufgrund der Richtlinie (EU) 2016/343 vom 9. März 2016 muß bis spätestens zum 1. April 2018 die Strafprozeßordnung in einer Weise geändert – oder richtlinienkonform ausgelegt – werden, die eine Durchbrechung des Prinzips der Tenorbeschwer darstellt. Artikel 4 Absatz 2 der Richtlinie bestimmt:
(2) Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass bei einem Verstoß gegen die in Absatz 1 dieses Artikels festgelegte Verpflichtung, nicht so auf Verdächtige oder beschuldigte Personen Bezug zu nehmen, als seien sie schuldig, im Einklang mit dieser Richtlinie und insbesondere mit Artikel 10 geeignete Maßnahmen zur Verfügung stehen.
Und Artikel 10 Absatz 1 der Richtlinie bestimmt:
(1) Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass Verdächtige und beschuldigte Personen im Falle einer Verletzung ihrer in dieser Richtlinie festgelegten Rechte über einen wirksamen Rechtsbehelf verfügen.
Dies bedeutet, daß es künftig ein Rechtsmittel geben muß in einem Fall wie dem der Cleve-Entscheidung des EGMR, d.h. gegen ein freisprechendes Urteil, das – nach Meinung des Freigesprochenen – in seiner Begründung die Unschuldsvermutung verletzt. Dies entspricht der Pflicht Deutschlands, die jetzt schon aufgrund von Art. 13 MRK besteht. Da sie ab April 2018 aber auch aufgrund einer EU-Richtlinie besteht und die Voraussetzungen für die unmittelbare Anwendung einer Richtlinie vorliegen, wird spätestens im April 2018 die Tenorbeschwer-Rechtsprechung für diese Konstellation überholt sein. Es stellt sich dann die Frage – wie bereits im Cleve-Beitrag ausgeführt -, warum sie dann aber für andere, ähnliche Konstellationen aufrechterhalten bleiben sollte.