Das von der Fidesz-Partei des Ministerpräsidenten Viktor Orbán beherrschte ungarische Parlament verabschiedete vor drei Wochen eine Verfassungsänderung, wonach die Kompetenzen des obersten Gerichts erheblich beschnitten werden und sich dieses künftig auch nicht mehr auf Entscheidungen aus den Jahren zwischen 1989 und 2011 berufen darf. Das Verfassungsgericht hatte unter Heranziehung seiner Rechtsprechung immer wieder umstrittene Gesetze aus der Ära Orbáns für nichtig erklärt. Orbán hält dem entgegen, in Ungarn müsse endlich ein klarer Bruch mit dem kommunistischen System erfolgen.
Das ist nichts Neues (siehe SPON vom 11. März 2013 und 12. März 2013), fiel mir aber anlässlich meiner Forschungen für eine historisch-synoptische Edition der Strafprozessordnung gerade als Parallele auf. In Artikel 2 des Gesetzes zur Änderung von Vorschriften des Strafverfahrens und des Gerichtsverfassungsgesetzes vom 28. Juni 1935 (RGBl. I 1935 S. 844—850) heißt es nämlich:
Artikel 2. Befreiung des Reichsgerichts von Bindungen an alte Urteile. Das Reichsgericht als höchster deutscher Gerichtshof ist berufen, darauf hinzuwirken, daß bei der Auslegung des Gesetzes dem durch die Staatserneuerung eingetretenen Wandel der Lebens- und Rechtsanschauung Rechnung getragen wird. Damit es diese Aufgabe ungehindert durch die Rücksichtnahme auf die aus einer anderen Lebens- und Rechtsanschauung erwachsene Rechtsprechung der Vergangenheit erfüllen kann, wird folgendes bestimmt:
Bei der Entscheidung über eine Rechtsfrage kann das Reichsgericht von einer Entscheidung abweichen, die vor dem Inkrafttreten dieses Gesetzes ergangen ist.
Mit diesem Kontinuitätsbruch sollten folgenden Maßnahmen gedeckt werden:
- Rechtsschöpfung durch entsprechende Anwendung der Strafgesetze („Ergibt die Hauptverhandlung, daß der Angeklagte eine Tat begangen hat, die nach gesundem Volksempfinden Bestrafung verdient, die aber im Gesetz nicht für strafbar erklärt ist, so hat das Gericht zu prüfen, ob auf die Tat der Grundgedanke eines Strafgesetzes zutrifft und ob durch entsprechende Anwendung dieses Strafgesetzes der Gerechtigkeit zum Siege verholfen werden kann […].“), Art. 1 Nr. 1 des Gesetzes vom 28. Juni 1935;
- Verhütung ungerechter Freisprechungen durch (weitgehende) Zulassung der (unechten) Wahlfeststellung („Die Tatsachen, die den Verstoß ergeben, sind festzustellen; es ist darzutun, weshalb eine eindeutige Feststellung nicht möglich ist.“), Art. 1 Nr. 2 des Gesetzes vom 28. Juni 1935;
- freieres Ermessen des Gerichts bei Beweiserhebungen („In Verhandlungen vor dem Amtsrichter, dem Schöffengericht und dem Landgericht in der Berufungsinstanz darf das Gericht einen Beweisantrag ablehnen, wenn es nach seinem freien Ermessen die Erhebung des Beweises zur Erforschung der Wahrheit nicht für erforderlich hält.“), Art. 1 Nr. 3 des Gesetzes vom 28. Juni 1935;
- Beseitigung von einseitigen Bindungen des Rechtsmittelgerichts („Auch wenn das Urteil nur von dem Angeklagten oder seinem gesetzlichen Vertreter oder zu seinen Gunsten von der Staatsanwaltschaft angefochten worden ist, kann es zum Nachteil des Angeklagten geändert werden.“), Art. 1 Nr. 4 des Gesetzes vom 28. Juni 1935;
- Verfahren gegen Flüchtige („Gegen einen flüchtigen Beschuldigten kann die Hauptverhandlung durchgeführt werden, wenn das Rechtsempfinden des Volkes die alsbaldige Aburteilung der Tat verlangt.“), Artt. 6, 7 des Gesetzes vom 28. Juni 1935.
Das sind, mit Ausnahme der in engen Grenzen bis heute mit dem Argument der Einzelfallgerechtigkeit praktizierten, allerdings bis heute auch mit dem Bestimmheitsgebot des Art. 103 Abs. 2 GG kritisierten unechten Wahlfeststellung, Manifestationen des Bösen. Ich habe zwar nicht genau verfolgt, welche Gesetze vom ungarischen Verfassungsgericht mit welcher Begründung für verfassungswidrig erklärt wurden. Die gesetzliche Verankerung eines Verbots juristischer Gedanken ist aber – wie von der Europäischen Kommission so wahrgenommen – nach den Erfahrungen, die wir aus der Geschichte ziehen müssen, tatsächlich ein deutliches Zeichen für die Beseitigung des Rechtsstaatsprinzips.