Im ersten Teil dieser Beitragsserie ging es um den Vorsitzenden Richter am Landgericht Otto Brixner. Das ganze Ausmaß der rechtsbeugerischen Natur seiner Verfahrensleitung in der Strafsache Mollath kam jedoch erst an die Öffentlichkeit, nachdem der Beitrag erschienen war. Der von Gerhard Strate vorgelegte Wiederaufnahmeantrag zeigt nun, daß die in dem Beitrag über Brixner angesprochenen, für sich schon erschreckenden Verfahrensverstöße lediglich ein Teil seines systematischen Vorgehens zu Lasten Mollaths waren. Eines wird man – jedenfalls bis auf weiteres – Otto Brixner aber noch zugute halten können: Daß er aufrichtig davon überzeugt war, daß Mollath tatsächlich an einer psychischen Störung litt, die seine Unterbringung rechtfertigte. Davon, wie es dazu kam, handelt dieser Beitrag.
Der erste Kontakt
Klaus Leipziger ist nicht irgendein Psychiater. Der Chef der Klinik für Forensische Psychiatrie Bayreuth fühlt sich dazu berufen, alljährlich die Bayreuther Forensik-Tagung auszurichten, eine – so die Selbstbeschreibung – „interdisziplinäre“ Fortbildungsveranstaltung für Mitarbeiter aus Maßregelvollzugseinrichtungen und Juristen. Leipziger ist ein Mann, der in Wissenschaft und Praxis seinen Finger am Puls der Zeit hat.
Zum Fall Mollath wurde er 2004 hinzugerufen, nachdem zwei Psychiater schon verschlissen waren. Die ambulante Begutachtung Mollaths durch Thomas Lippert war gescheitert, weil Mollath sich nicht begutachten lassen wollte. Lippert empfahl dringend eine stationäre Beobachtung. Und Amtsrichter Armin Eberl – wieso sollte er es besser wissen? – leistete Folge. Er ordnete Mollaths Verbringung in das psychiatrische Klinikum in Erlangen an, wo Michael Wörthmüller sechs Wochen Zeit haben sollte, den Probanden zu beobachten. Doch Wörthmüller war sofort bei Einlieferung Mollaths bewußt, daß daraus nichts werden konnte. Denn er hatte sich wenige Zeit vorher privat-nachbarschaftlich mit dem „Fall Mollath“ befaßt, durch Gespräche mit einem Freund (der dem Kollegenkreis von Mollaths Ex-Frau angehörte) und mit Mollath selbst. Er hielt sich deshalb – zutreffend – für befangen. Warum er gleichwohl seine Befangenheitsanzeige nicht sofort an das Amtsgericht abschickte, sondern vier Tage liegenließ und wieso er Mollath nicht sofort freiließ, sondern eine Woche dabehielt, das ist noch nicht aufgeklärt. Er selbst stellt nun diese Entscheidung gegenüber den Nürnberger Nachrichten als eine Art „Schutzhaft“ dar: Er habe trotz Wegfall des Untersuchungszwecks kurzerhand Mollath auf der geschlossenen Abteilung behalten, um ihn vor „weiteren Polizeiaktionen“ zu schützen. Unabhängig davon, was die weiteren Ermittlungen in diesem Punkt ergeben – eine solche Darstellung würde im Normalfall nicht nur den Argwohn, es handele sich um eine Schutzbehauptung, hervorrufen, sondern auch den Eindruck, hier spräche ein unter Paranoia Leidender. Und doch galt immer Mollath als der mit den Wahrnehmungsstörungen, nicht die beteiligten Psychiater. Jedenfalls hielt Wörthmüller sich nicht für zu befangen, einen Nachfolger für den Gutachtenauftrag zu empfehlen. Und so kam Leipziger ins Spiel.
Wie bereits im Beitrag „Justiz im Wahn-Wahn“ angesprochen und nun in der Strafanzeige von Gerhard Strate gegen Armin Eberl und Klaus Leipziger umfassend aufgezeigt, hat eine Unterbringung nach § 81 StPO hohe Voraussetzungen, besonders dann, wenn der Proband eine Untersuchung verweigert. Eberls Einweisungsbeschlüsse erfüllten diese Voraussetzungen bei weitem nicht – aber wie oft kommen solche Beschlüsse bei einem Amtsrichter schon vor? Soweit sie sich nicht nur auf die Klärung der Voraussetzungen von §§ 20, 21 StGB, sondern auch auf die von § 63 StGB erstrecken, ist das Amtsgericht meiner Meinung nach ohnehin sachlich nicht zuständig (vgl. § 81 Abs. 2 Satz 2, Abs. 3 StPO i.V.m. § 74 Abs. 1 Satz 2 GVG). Doch wie konnte Leipziger, der interdisziplinär ausgerichtete forensisch-psychiatrische Fachmann, so verkennen, daß schon der Grundstein für seinen Auftrags falsch gelegt war? Wie konnte er einen Auftrag annehmen, der erging, ohne daß er sich zuvor am Gerichtsort einen Eindruck von dem Probanden verschafft hätte (OLG Köln, Beschluß vom 28. Januar 2010 – 2 Ws 29/09) und dem Gericht daraufhin erläutert hätte, daß im konkreten Fall die Unterbringung einen Erkenntnisgewinn auch ohne Kooperation versprach (OLG Düsseldorf, Beschluß vom 3. März 2005 – 3 Ws 76/05)? Ohne daß er dann dem Richter ein Untersuchungskonzept (KG, Beschluß vom 10. Oktober 2002 – 5 Ws 530/02) schriftlich (OLG Stuttgart, Beschluß vom 30. Juni 2003 – 5 Ws 26/03) vorgelegt hätte, das schlüssig – für den Richter nachvollziehbar – die fünf Wochen Lebenszeit, die noch in der Verfügungsmasse Eberls waren (eine Woche hatte Mollath schon in Erlangen sinnlos abgesessen) so strukturierte, daß die Chance auf ein brauchbares Ergebnis bestand?
Nun, das Kind war in den Brunnen gefallen, als Mollath am 14. Februar 2005 von der Polizei in Bayreuth angeliefert wurde. Aber noch hätte das Kind aus dem Brunnen gezogen werden können. Nun konnte sie sich entfalten, die bewundernswürdige Fähigkeit Leipzigers, mit seinem Probanden eine Ebene zu finden, die die Verweigerung überwindet und das Mißtrauen in Vertrauen wendet. Nun konnte Leipziger, kraft seiner gewinnenden Persönlichkeit, durch sein professionelles Einfühlungsvermögen, gereift und gewachsen in all den Jahren des Dienstes an seinen Patienten, zu verstehen beginnen, wie es in Mollath aussah. Was geschah? Nichts. Zwei Tage nach seiner Einlieferung wurde Mollath von Leipziger „aufgesucht, begrüßt und in das Arztsprechzimmer geführt“. Es ging in diesem informatorischen Gespräch (Mollath erklärt, „dass er hier auf Station ansonsten mit den Mitarbeitern und den Mitpatienten zurechtkomme. Auch körperlich hätte er keine Beschwerden.“) im wesentlichen um Kernseife. Ein Untersuchungskonzept fehlt weiterhin. Es wird auch in den nächsten fünf Wochen keines erkennbar, das über Versuche hinausginge, zu fragen, ob Mollath nun seine Verweigerung einer Exploration aufgebe. Einen weiteren direkten Kontakt zwischen Leipziger und Mollath scheint es nur noch einmal gegeben zu haben, fünf Wochen nach dem ersten. Zwei Tage vor Ablauf der gesetzlichen Höchstfrist der Freiheitsentziehung nimmt Leipziger noch einen Anlauf und läßt Mollath zu sich bitten. Der läßt ausrichten, der Sachverständige möchte doch zu ihm kommen. Leipziger folgt der Aufforderung und begibt sich in den Aufenthaltsraum. Dort fordert Mollath von ihm, das Explorationsgespräch an Ort und Stelle zu führen, unter Zeugen. Dies lehnt Leipziger unter Hinweis auf den „üblichen Modus einer gutachterlichen Untersuchung“ ab.
Wenn man überhaupt von einem Untersuchungskonzept für diese fünf Wochen reden will, dann war es kein psychiatrisches, sondern ein juristisches: Erzwingungshaft. Da diese hier aber rechtswidrig ist (§ 136a Abs. 1 Satz 2 StPO), ist der Strafanzeige Strates eine Berechtigung nicht abzusprechen.
Daß die Unterbringung nach § 81 StPO – ihre Anordnung und erst recht ihre praktische Durchführung durch Leipziger – rechtswidrig war, ergibt sich daraus, daß sie im konkreten Fall grundlegend gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz verstieß. Dieser Grundsatz wird oft mißverstanden als eine Aufforderung zum fröhlichen Abwägen, als ein Vorgang, in dem ein paar einschlägige Gesichtspunkte genannt werden, um zu zeigen, daß man sie gesehen und bewertet hat. So ist hier Richter Eberl in seinem Beschluß vorgegangen, indem er formelhaft feststellte: „Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ist angesichts der Massivität der gegen den Angeklagten gerichteten Vorwürfe und der damit verbundenen Straferwartung gewahrt.“ Aber schon die Studenten an den Universitäten und dann offenbar erst wieder die Richter an den oberen Gerichten wissen: Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz ist mehrstufig aufgebaut. Die erste Stufe ist die Identifizierung eines legitimen Zwecks einer Maßnahme. Es folgt die Prüfung, ob der Zweck durch die Maßnahme erreicht werden kann („Geeignetheit“), dann ob es weniger einschneidende Maßnahmen gibt („Erforderlichkeit“) und erst zuletzt, ob sie gegen das Übermaßgebot verstößt. Im Fall Mollath war die Anwendung von § 81 StPO schon unverhältnismäßig, weil sie ungeeignet war.
Die Erfüllung des Auftrags
Für das Gutachten, das Leipziger am 25. Juli 2005 erstellte, mußte er sich also doch im wesentlichen auf die Aktenlage stützen. Soweit er einige – im übrigen jedoch nichtssagende – Beobachtungen auf der Station (z.B. der „übertriebene“ Wunsch Mollaths nach Kernseife und seine Verärgerung, eingesperrt zu sein) ergänzend auswertete, kam es ihm nicht in den Sinn, daß sie wegen einer insgesamt unzulässigen Freiheitsentziehung einem Beweisverwertungsverbot unterliegen könnten (vgl. § 136a Abs. 3 StPO). Aber das mußte er auch nicht, weil dies letztlich in die Zuständigkeit des Gerichts fiel.
Dem Landgericht kam es aber auch nicht in den Sinn und so läßt sich aus dem Urteil eine Passage zitieren, als Probe dafür, wie ein durchaus nachvollziehbares Verhalten eines Probanden psychiatrisch aufgeblasen werden kann:
Bei der stationären Beobachtung des Angeklagten sei ein wechselndes psychopathologisches Zustandsbild zu verzeichnen gewesen. Zeitweise sei er von heiterer Stimmungslage und leicht gehobenem Antrieb gewesen, dann wieder verbal aggressiv in maniformer Stimmungslage, dann misstrauisch, gereizt und abweisend. Insgesamt stark ichbezogen, ohne auf die Auswirkungen seines Verhaltens und Handelns auf andere zu achten.
Diese Sätze ließen sich ohne weiteres auch als Beschreibung des Verhaltens von VRiLG Otto Brixner in der Hauptverhandlung verwenden, ohne daß sich daraus der Schluß ziehen ließe, Brixner wäre seelisch gestört (im Sinne des § 20 StGB) und gemeingefährlich (im Sinne des § 63 StGB).
Auch zutreffende rechtliche Hinweise durch Mollath, der weiterhin gegen seine Freiheitsentziehung protestierte, wurden gegen ihn gewendet:
Paralogisch meine er [Mollath], der Stationsarzt solle erst einmal das Grundgesetz lesen und sich über grundlegende Menschenrechte informieren.
Aufgrund einer Auswertung der Briefe des Angeklagten und der Zeugenaussagen in der Hauptverhandlung (die Richtigkeit des Tatvorwurfs unterstellt!) kam Leipziger zu folgenden diagnostischen Ergebnissen (in die offenbar auch ein Textbaustein für ein zivilrechtliches Betreuungsverfahren hineingerutscht ist):
Der Angeklagte leide mit Sicherheit bereits seit Jahren unter einer paranoiden Wahnsymptomatik, die sein Denken und Handeln in zunehmendem Maße bestimme und ihn soweit beeinträchtige, dass er zu einem weitgehend normalen Leben und der Versorgung der für ihn wesentlichen Angelegenheiten nicht mehr mehr ausreichend in der Lage sei.
[…]
Die genannten möglichen Differentialdiagnosen der beim Angeklagten festgestellten wahnhaften Symptomatik mit zumindest sicher feststehende massiven effektiven Veränderungen stellten ungeachtet ihrer Herkunft ein schweres, zwingend zu behandelndes Krankheitsbild beim Angeklagten dar.
Wie gelangte er zu dieser Sicherheit? Durch Höchstleistungen auf dem Gebiet der Textanalyse. So lag ihm zum Beispiel ein Schreiben Mollaths an den Präsidenten des AG Nürnberg Hasso Nerlich (dem jetzigen Generalstaatsanwalt) vor, in dem Mollath unter anderem Leipziger als befangen ablehnte. Und Textanalyse war tatsächlich gefragt: Briefe Mollaths bedürfen eines aufmerksamen Lesers. Man könnte sagen, Mollath schreibt unkonzentriert, was sein konkretes Anliegen angeht, kommt vom Hundertsten ins Tausendste. Man könnte auch sagen, daß er das Bedürfnis hat, sein Anliegen in einen größeren Zusammenhang zu stellen. In diesem Beispielsschreiben verband er nicht nur die Anfrage, warum seine Schwarzgeldanzeigen nicht bearbeitet wurden, mit einer Beschwerde über die Umstände seiner (ersten) Verhaftung und der genannten Befangenheit des neuen Gutachters, sondern verwies darüber hinaus – zutreffend – darauf, daß seit dem Beginn der Amtszeit von Gerhard Schröder gegen Bankenstrukturen, die Steuerhinterziehung durch verdeckte Kapitalflucht ins Ausland ermöglichen, härter vorgegangen wird. Mollath als politisch engagierter Mensch fügte an, daß er „diesen öffentlichen Gesinnungswandel auch als persönlichen Erfolg“ werte. Hätte er nur darauf verzichtet – sei es auf sein Engagement oder auf seine Identifizierung mit dem Gesinnungswandel! Denn im Gedankensystem Leipzigers schnappte die Falle zu: Er wertete – als einer der Kernpunkte seiner Argumentation – diese Aussage so, daß Mollath „paranoide Größenideen“ entwickelt habe (Urteil, Seite 22).
Auf diesem Niveau bewegt sich Leipziger in seinem Gutachten durchgehend. Wer hofft, daß es vielleicht doch gehaltvoller wäre als sich aus den in das Urteil übernommenen Passagen ergibt, daß Brixner ausgerechnet die besseren Stellen versehentlich nicht übernommen hatte, der täuscht sich. Herleitungen von qualitativ anderer Art kommen nicht vor. Immerhin bekommt man von Leipziger unfreiwillig Komisches geboten, wie etwa, wenn der Gutachter mitteilt, daß Mollath in der Klinik auf die (routinemäßige?) Frage, ob er innere Stimmen höre, geantwortet habe, er sei ein ordentlicher Kerl, er spüre sein Gewissen. Daraus wird wenige Absätze weiter, daß nicht geklärt (!) werden konnte, aber für möglich gehalten werde, daß die von Mollath in der Klinik gemachte Angabe, er höre innere Stimmen (!), zutreffe.
Ist schon schwer zu glauben, daß das Gericht ein so begründetes Gutachten für die eigene Überzeugungsbildung, bei dem Angeklagten liege gegenwärtig eine krankhafte seelische Störung vor, ausreichen ließ, so bestand das eigentliche Wunder darin, daß es Leipziger gelang, das Gericht glauben zu machen, er könnte aufgrund einer Auswertung von Mollaths Briefen auch den Geisteszustand Mollaths über einen Zeitraum von vier Jahren zurückberechnen. Wenn – so die Meinung des Gutachters – sich das paranoide Gedankensystem des Angeklagten darin zeigte, daß er jetzt „alle möglichen“ Beteiligten einer Verschwörung gegen ihn wegen seines Aufdeckens von Schwarzgeldverschiebungen bezichtigte, wie konnte er paranoid schon sein in einem Zeitpunkt, als er noch als Ehemann selbst an den Schwarzgeldverschiebungen beteiligt war und gerade deshalb mit seiner Frau stritt? Im Beruf des psychiatrischen Gutachters – jedenfalls bei Leipziger – scheint die Grenze zwischen Genie und Hochstapler fließend zu sein.
Doch solche Detailprobleme sind gar nicht das Entscheidende des „Falles Leipziger“. Leipziger ist williger Akteur einer breiten Pathologisierungsbewegung (auch: „Homogenisierungswahn“). Für das Strafrecht bedeutet dieser Trend, daß zwischen 1998 und 2011 die Zahl der nach §§ 63, 64 StGB Untergebrachten sich verdoppelte. Man braucht nur in die Begründung des Gesetzes zur Sicherung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus und in einer Entziehungsanstalt vom 16. Juli 2007 (BGBl. I S. 1327) zu blicken, um zu erfahren, daß bereits die Baumaßnahmen kaum hinterherkommen:
Die Maßregeln der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus (§ 63 StGB) und der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt (§ 64 StGB) können ohne Schuldvorwurf gegen Täterinnen und Täter verhängt werden; ihre Notwendigkeit ergibt sich aus dem Sicherungsbedürfnis der staatlichen Gemeinschaft, aus dem sie auch ihre Rechtfertigung erfahren. Aufgrund wachsenden Belegungsdrucks befindet sich der Maßregelvollzug seit einiger Zeit in einer drängenden Situation. Die Bundesländer haben daher in den letzten Jahren neue Maßregelanstalten gebaut oder bestehende Anstalten modernisiert und erweitert oder planen Anstaltsneu- oder -ausbauten für die nahe Zukunft.
In dem Gesetz ging es darum, die Vollzugsreihenfolge zu ändern, um die Scharen der neuerdings psychisch Kranken zunächst in den Gefängnissen „parken“ zu können, bis sie an die fertiggestellten Maßregelanstalten überstellt werden. Da nach neuesten Erkenntnissen der Fachwelt beinahe jeder Zweite als psychisch gestört gilt, wird die Umschichtung von (befristet) Strafgefangenen zu (unbefristet) Untergebrachten noch lange nicht abgeschlossen sein.
Daß der BGH vereinzelt noch versucht, der Pathologisierungsbewegung auf strafrechtlichem Gebiet Einhalt zu gebieten, läßt sich an einem Beispielsfall illustrieren, der etwas ausführlicher dargestellt werden soll, weil er sich gut zum Fall Mollath ins Verhältnis setzen läßt:
Der Angeklagte in diesem Fall wurde u.a. wegen versuchten Totschlags und gefährlicher Körperverletzung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von fünf Jahren verurteilt. Außerdem wurde die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet. Der Angeklagte hatte die Taten aus einer Beziehungskrise heraus begangen, zum Nachteil seiner Ehefrau und deren neuem Lebensgefährten. Der BGH ließ die Verurteilung unbeanstandet, hob aber die Unterbringungsentscheidung auf (Beschluß vom 4. Januar 2005 – 4 StR 529/04). Er hatte hier etwas genauer hingesehen, was die Qualität des psychiatrischen Gutachtens betraf und begann seine Beanstandung mit einer Belehrung über Grundsätzliches:
Die Diagnose einer [paranoiden] Persönlichkeitsstörung ist aber nicht gleichbedeutend mit derjenigen einer schweren anderen seelischen Abartigkeit im Sinne der §§ 20, 21 StGB, sondern kann immer auch als Spielart menschlichen Wesens einzuordnen sein. Schon deshalb läßt die Diagnose „Persönlichkeitsstörung“ für sich genommen eine Aussage über die Frage der Schuldfähigkeit des Täters nicht zu.
Doch entscheidender war die Justierung des Maßstabes, was noch als normal und was als schwer krankhaft beurteilt werden kann:
Daß der Angeklagte den Bruch der häuslichen Gemeinschaft und die Trennung von seiner Ehefrau nicht ertragen und er den Verlust der Beziehung zu seinen Kindern „in Verkennung der Realität“ (UA 19) seiner Ehefrau angelastet hat, belegt jedenfalls den für die Maßregelanordnung nach § 63 StGB vorausgesetzten Schweregrad der Persönlichkeitsstörung nicht. Vielmehr kann es sich dabei auch um normal-psychologisch erklärbare Reaktionen des Angeklagten auf die von ihm erlebte Belastungssituation handeln, die sich noch innerhalb der Bandbreite „normalen“ strafbaren Verhaltens bewegen, ohne daß hierdurch die Schuldfähigkeit positiv feststellbar „erheblich“ im Sinne des § 21 StGB berührt wird.
Nach Aufhebung und Zurückverweisung an das Landgericht war – wie immer – eine andere Strafkammer zuständig und diese ließ sich von einem weiteren psychiatrischen Sachverständigen beraten. Im Ergebnis war auch sie davon überzeugt, daß der Angeklagte untergebracht werden müsse. Das Verfahren kam deshalb erneut vor den BGH. In der zweiten Revisionsentscheidung (Beschluß vom 30. Januar 2007 – 4 StR 603/06) kann man genauer nachlesen, mit welcher Methodik psychiatrische Gutachter – und ihnen folgend Strafkammern – Menschen für krank erklären:
Auch später, als die Auseinandersetzungen zwischen den Eheleuten im Vorfeld der Taten zunahmen, bekam niemand aus dem Bekannten- und Freundeskreis des Angeklagten, auch nicht seine Kollegin und „zwischenzeitliche Partnerin“, Frau K., etwas von den Nachstellungen und Übergriffen gegenüber seiner Ehefrau mit. Seinen Kollegen fiel nicht einmal eine Wesensveränderung bei dem Angeklagten auf. Soweit das Landgericht – mit dem Sachverständigen – darin lediglich eine „Fassade“ und einen Beleg für die aufrecht erhaltende Fähigkeit des Angeklagten zu „oberflächlichem Zweckverhalten“ sieht und annimmt, gleichwohl sei die diagnostizierte paranoide Persönlichkeitsstörung, die später nach dem Auseinanderleben der Eheleute „zu einem bestimmenden Faktor für die Gedankenwelt“ des Angeklagten geworden sei, von überdauernder Natur und „müsse“ schon vor dem Jahr 2000, als der Angeklagte noch in einer intakten Familie gelebt habe, vorhanden gewesen sein, ist dies nicht hinreichend mit Tatsachen belegt. Soweit das Landgericht – auch hier dem Sachverständigen folgend – zur Begründung anführt, der Angeklagte habe schon immer die Neigung gehabt, seine Ehefrau für eigene Fehlleistungen verantwortlich zu machen und als Begründung darauf verweist, „dass der Angeklagte auch während der intakten Ehe beispielsweise regelmäßig seiner Frau die Schuld gegeben habe, wenn sich die Familie im Urlaub verfahren habe“, vermag dies ersichtlich einen irgendwie gearteten „krankhaften“ Zustand nicht zu begründen.
Hier erübrigt sich jeder Kommentar – sowohl was das „müsse schon vorhanden gewesen sein“ als auch das „im Urlaub verfahren“ betrifft. Sodann sah sich der BGH genötigt, schon dem zweiten Psychiater den Unterschied zwischen krankhaften seelischen Störungen und „normalpsychologischen“ Verhaltensweisen zu erklären:
Dabei kann dahinstehen, ob der Angeklagte sich […] nicht schuldeinsichtig zeigt und nie von der Gewalttat distanziert hat, sondern weiterhin der Geschädigten die jedenfalls überwiegende Verantwortung für diese Tat und seine eigene als unbefriedigend empfundene Lebenssituation zuweist. […] Im Übrigen ist eine Abwehr eines Schuldeingeständnisses, selbst wenn damit der Täter letztlich Ursache und Wirkung vertauscht, nicht ungewöhnlich, sondern eher eine normalpsychologisch erklärbare Reaktion, durch die sich ein Täter, der sich der Verantwortung für seine Tat nicht stellt, entlasten will.
Um abschließend den Psychiater an die Grundbegriffe von Gefühlen heranzuführen – auch unter Berufung auf die Lebenserfahrung des Strafverteidigers:
Vor diesem Hintergrund musste das Landgericht auch den Hass, mit dem der Angeklagte seine Ehefrau verfolgte, bewerten. Nicht zu Unrecht macht die Revision geltend, dass es sich auch bei Hass grundsätzlich – nicht anders als bei dem gegenteiligen Gefühl der Liebe – um ein Gefühl aus der normalen Bandbreite menschlichen Empfindens handelt. Dass die Intensität, mit der der Angeklagte seine Ehefrau verfolgte, und die Übergriffe des Angeklagten schon im Vorfeld des abgeurteilten Tatgeschehens ebenso wie das Tatgeschehen selbst maßlos waren, genügt für sich für eine andere Bewertung noch nicht.
Ob aber die „normale Bandbreite menschlichen Empfindens“ für die Psychiater in diesem BGH-Fall – oder für Mollaths Gutachter Leipziger – eine noch erreichbare Dimension darstellt, darf man als ungeklärt bezeichnen.
Jedenfalls wurde es dem BGH im zweiten Revisionsdurchgang „zu bunt“: Es hielt das Landgericht insgesamt für disqualifiziert, den Fall noch sachgerecht zu beurteilen und verwies an ein anderes Landgericht zurück (§ 354 Abs. 2 Satz 1 Alt. 2 StPO).
Vielleicht ließ sich der BGH auch – ohne es in seine Beschlüsse hineinzuschreiben – von folgendem Gedanken leiten: Wer einmal so niederschwellig in die psychiatrische Anstalt hineinkam wie der Angeklagte in diesem Fall (oder Mollath in dem seinem), für den ist es wahrscheinlich, daß er nie wieder heraus kommt – denn welche Schwelle in Richtung „normal“ gäbe es für ihn noch zuverlässig meßbar zu überspringen bei den fortan jährlich stattfindenden Überprüfungen? Die von Psychiatern und Gerichten Hand in Hand vorangetriebene Pathologisierung hat so den Effekt, daß eine Person um so länger untergebracht bleiben muß, je weniger sie krank ist. Wer möchte bei diesem Befund dem Satz von Heribert Prantl „Eine Justiz, die Menschen ohne gründlichste Prüfung einen Wahn andichtet, ist selber wahnsinnig“ widersprechen (außer VPräsAG Walter Groß vom Bayerischen Richterverein, PräsOLG Peter Werndl und Beate Lakotta vom SPIEGEL)?
Die Qualitätsmängel in Leipzigers Gutachten dürften die Mängel der Gutachten in diesem BGH-Fall übersteigen. Doch selbst wenn Leipziger auf viel höherem Niveau den Gesundheitszustand Mollaths extrapoliert hätte, würde sein Gutachten weiterhin an einem eklatanten Fehler leiden. Denn er hatte es versäumt, dem Gericht überhaupt den Maßstab an die Hand zu geben, mit dem es sein Gutachten werten konnte. Ein Gutachten ohne Exploration des Probanden ist ein Gutachten, das von vornherein vom Gericht auf besondere Weise gewürdigt werden muß. Zu dieser Besonderheit sei aus einer methodenkritischen Stellungnahme von Norbert Nedopil in einem anderen Fall zitiert:
Eine psychiatrische Exploration hat ein Vier-Augen-Gespräch zur Grundlage. Ohne eine sorgfältige Exploration ist ein Gutachten im engeren Sinne nach heutigem Verständnis nicht zu erstellen. Es lassen sich dem Auftraggeber lediglich allgemeine Erkenntnisse über eine bestimmte Diagnose mitteilen und es lassen sich Verdachtsmomente erheben und beschreiben. Diese Verdachtsmomente können auch zu einer Verdachtsdiagnose führen, die aber so lange eine Verdachtsdiagnose bleibt, als sie nicht durch medizinische Befunde (die wiederum durch die Exploration bestätigt oder entkräftet werden müssen) belegt sind. Diese Ausführungen bedeuten nicht, dass Sachverständige Stellungnahmen für Gerichte nur dann möglich sind, wenn sich die Betreffenden untersuchen lassen. Gutachter können ihr Wissen auch ohne Untersuchung dem Gericht zur Verfügung stellen. Es bleibt dann den Beweisregeln des Gerichts überlassen, wie diese Informationen gewertet werden.
Diesen fachwissenschaftlichen Maßstab dem Landgericht zu vermitteln, hat Leipziger unterlassen. Völlig unabhängig von den inhaltlichen Mängeln seines Gutachtens ist dies der entscheidende Kunstfehler, den er im Strafverfahren gegen Mollath begangen hat.
Die langen Jahre
Das – im wahrsten Sinne des Wortes – lieblos heruntergeschriebene Schriftstück Leipzigers mit der Überschrift „Gutachten“ wurde in Kombination mit der leichten Überzeugbarkeit des Vorsitzenden Richters Otto Brixner die Grundlage dafür, daß Gustl Mollath seit dem 27. Februar 2006 bis zum heutigen Tag eine Freiheitsentziehung erleidet, gegenüber der ein Gefängnisaufenthalt wie eine Wohltat erscheint. Mollaths erste Station – aufgrund des einstweiligen Unterbringungsbefehls – war das Klinikum am Europakanal Erlangen. Dort hatte ihn wieder Michael Wörthmüller in seiner Obhut, der Leiter der forensischen Abteilung. Obwohl Forensiker, scheinen weder seine Rechtskenntnisse noch sein Rechtsbewußtsein ausgereicht zu haben, die elementare Rechtswidrigkeit von Mollaths Aufenthalt bei ihm zu erkennen (zum Verstoß gegen § 126a Abs. 2 Satz 1 i.V.m. § 115 StPO und damit auch gegen Art. 2 Abs. 2 Satz 2, Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG siehe den vorherigen Beitrag dieser Reihe) und ihr durch eine Meldung an das Gericht abzuhelfen. Stattdessen vertiefte er sie, indem er Mollath aus eigener Machtvollkommenheit nach einer Woche an eine andere Anstalt verschob. War der Aufenthalt Mollaths bei ihm nie rechtmäßig begründet (vgl. Nr. 90 Abs. 1 i.V.m. Nr. 15 Abs. 1 UVollzO) und am 28. Februar 2006, 24 Uhr, endgültig rechtswidrig geworden (§§ 115, 115a StPO), was verschlug es da noch, wenn er in eine anderen Klinik verfrachtet würde (siehe im übrigen zu den verfassungsrechtlichen Grenzen einer Verlegung gegen den Willen des Untergebrachten BVerfG, Beschluß vom 27. Juni 2006 – 2 BvR 1295/05)? Wörthmüller zeigte die eigenmächtige Verlegung dem Landgericht zwei Wochen später an.
Wörthmüller ließ Mollath in das Bezirkskrankenhaus Bayreuth verlegen. Auch in diesem Stadium spielte er den Ball niemandem anderen als Klaus Leipziger zu. Dort befand sich Mollath die nächsten sieben Wochen. Warum in der von Leipziger geleiteten forensischen Abteilung Mollath sein Recht auf einen täglichen, einstündigen Hofgang erkämpfen mußte und es dann nur „mit Hand- und Fuß-Fesseln an Ketten“ ausüben durfte, gehört zu den vielen Absonderlichkeiten des Falles, die abseits der derzeit laufenden Verfahren geklärt werden sollten. Gehören Methoden aus der Galeerensträflingszeit bei Leipziger zum allgemeinen Prozedere oder handelte es sich um Mollath-spezifische Entscheidungen? Daß Mollath jemals in einer Anstalt handgreiflich geworden wäre, geht aus den Akten nicht hervor. Unter diesem Gesichtspunkt sollte es ebenfalls aufgeklärt werden, ob es Leipziger oder Brixner war, der Ende April 2006 veranlaßte, daß das Quälen Mollaths eine weitere Stufe erreichte, indem dieser in das „Alcatraz“ der bayerischen psychiatrisch-forensischen Anstalten verlegt wurde, nach Straubing („das Bezirkskrankenhaus in Straubing gilt als Hochsicherheitstrakt für besonders gefährliche Personen in Bayern“). Dort mußte er nicht nur unter weiteren Einschränkungen seiner Verteidigungsmöglichkeiten die Hauptverhandlung gegen ihn abwarten, sondern die nächsten drei Jahre verbringen. Lediglich ein Wechsel der Rechtsgrundlage trat unterdessen ein: Nachdem am 13. Februar 2007 der 1. Strafsenat des BGH die Revision zurückgewiesen hatte (1 StR 6/07), legitimierte nicht mehr der Unterbringungsbeschluß, der gegen die Anforderungen in der BGH- (Beschluß vom 11. Januar 2006 – 2 StR 582/05) und BVerfG-Rechtsprechung (Beschluß vom 8. Dezember 2011 – 2 BvR 2181/11) verstoßen hatte, die Unterbringung, sondern das in der Hauptverhandlung ergangene Urteil, und dies scheinbar endgültig.
Diese Legitimität konnte nur dadurch durchbrochen werden, daß sich in den alljährlichen gerichtlichen Überprüfungen mit hinreichender Sicherheit (§ 67d Abs. 6 StGB) oder Wahrscheinlichkeit (§ 67d Abs. 2 StGB) herausstellte, daß Mollath nicht mehr für die Allgemeinheit gefährlich war. Hierfür kam es entscheidend auf die Stellungnahmen an, die von der jeweiligen Anstalt, in der Mollath untergebracht war, abgegeben wurden. Seit Mai 2009 bis heute ist das wieder die Forensik des Bezirkskrankenhauses Bayreuth unter der Leitung von Leipziger. Ihre Wege hatten sich ein drittes Mal gekreuzt.
Wie diese von Leipziger verantworteten Stellungnahmen aussahen, kann man in der Verfassungsbeschwerde gegen die gerichtliche Entscheidung von 2011 nachlesen. Wer eine wissenschaftliche Durchdringung des Gefährdungsfalles Mollath in diesen Stellungnahmen erwartet, wird jedoch enttäuscht. Sie haben eher querulatorischen Charakter und handeln davon, daß Mollath den Betrieb in der Abteilung störe, indem er sich als „Rechtsberater“ aufspiele und auf (anspruchsvollere?) Fernsehprogramme umschalte (Seite 12):
Er nehme nicht am therapeutischen Angebot, wie z. B. an der Arbeitstherapie im Rahmen der Ergotherapie teil, nutze lediglich die Sporttherapie zur körperlichen Ertüchtigung. Psychopathologisch zeige sich ein völlig rigides Festhalten an seinen Verschwörungstheorien gegenüber dem behandelnden Psychiater. Im Verhalten zu Mitpatienten gebe sich der Verurteilte als „Rechtsberater“, wobei Patienten, die nicht seinen Ausführungen folgten, üblicherweise abgewertet würden. Er zeige sich in sozialen Kontakten kaum kompromissfähig, provozierend und wolle den anderen seine Auffassungen und Meinungen aufdrängen. Er zeige sich seinen Mitpatienten gegenüber in Gemeinschaftsräumen sehr provozierend, z.B. durch eigenmächtiges Umschalten des Fernsehprogramms, Beharren auf einem bestimmten Sitzplatz, Behinderungen der anderen in ihrer Sicht auf den Fernseher, was vorsätzlich geschehe‚ so dass wiederholt der Fernsehraum geschlossen werden musste, um weitere Eskalationen zu vermeiden.
Da damit für den Bereich der mittleren und schweren Kriminalität, vor der die Unterbringung schützen soll, kein Staat zu machen ist, verblieb es für die Bejahung der Gefährlichkeit Mollaths bei Hinweisen auf die rechtskräftig festgestellten Straftaten aus den Jahren 2002 bis 2005. Diese Gefährlichkeitsprognose wurde aus der Sicht des Krankenhauses erhärtet durch Mollaths Weigerung, sich mit Psychopharmaka behandeln zu lassen (Seite 10):
[…] mangels Krankheits- und Behandlungseinsicht des Untergebrachten mit Verweigerung der dringend angeratenen medikamentösen neuroleptischen Behandlung trotz zwischenzeitlich erprobter Lockerungserweiterung [Anm.: die Erprobung endete, weil Mollath nach einem erstmaligen Geländeausgang eine Atemalkoholkontrolle verweigerte] kein Einstieg in eine adäquate psychiatrische Behandlung erzielt werden konnte, sondern sich das wahnhafte Verhalten [Anm.: das „Verhalten“ ist die mangelnde Kooperation im Anstaltsbetrieb] des Untergebrachten eher verfestigte und erweiterte (Bl. 597).
Die Prognose einer Gemeingefährlichkeit Mollaths außerhalb der Anstalt wird also von Leipziger (oder in Leipzigers Namen) maßgeblich darauf gestützt, daß er innerhalb der Anstalt zu selbstbewußt ist und daß er es ablehnt, durch Medikation seine Persönlichkeit ändern zu lassen. Man sollte diesen Aspekt des Falles Mollath durchaus mitdenken, wenn über die Zwangsbehandlung psychisch Kranker diskutiert wird.
Im übrigen läßt sich nur spekulieren, ob sich die Verhaltensweise des Beamten Leipziger im Fall Mollath auch mit der politischen Vorgabe der Staatsministerin Beate Merk erklären läßt, daß die Rechtsprechung des BVerfG zum Rang des Freiheitsrechts in Bayern nach Möglichkeit nicht gelten solle (Regierungserklärung vom 17. Oktober 2012, Seite 12):
Auffassung des BVerfG
Wir [die bayerische Justiz] erliegen nicht dem Bild des Bundesverfassungsgerichts, dass wirklich jeder Täter geläutert, wieder gut werden kann!
[…] Und es gibt auch Straftäter, die eine Therapie ablehnen, weil sie sich mit ihrer Straftat nicht auseinander setzen wollen.
Rechtliche Aufarbeitung
Psychiatrische Gutachter vom Schlage eines Klaus Leipziger sind eine Gefahr für die Allgemeinheit. Das Recht muß Möglichkeiten bereithalten, die von ihnen ausgehende Gefahr zu bekämpfen und zu minimieren. Tut es das? Ja. Wenn auch sicherlich nicht in ausreichendem, wünschenswerten Maße, gibt es diese Möglichkeiten bereits jetzt.
Die Anfang Januar 2013 von Strate eingereichte Strafanzeige deckt nur einen Randaspekt ab, Klaus Leipzigers Verfehlungen im Zusammenhang mit der fünfwöchigen Unterbringung Mollaths bei ihm zur Beobachtung im Jahr 2005. Das ihm von Strate vorgeworfene Verbrechen der qualifizierten Freiheitberaubung (§ 239 Abs. 3 StGB) wird mit einer Freiheitsstrafe zwischen einem und zehn Jahren geahndet und verjährt zehn Jahre nach Beendigung der Tat (§ 78 Abs. 3 Nr. 3 StGB). Die Tat hatte allerdings einen gerichtlichen Beschluß zur Grundlage und obwohl dieser von Amtsrichter Armin Eberl erlassene Beschluß eklatant rechtswidrig war, könnte dieses Zusammenwirken mit Eberl, der ebenfalls von Strate angezeigt wurde, Leipziger den Hals retten. Eberl kommen die hohen Anforderungen, die die Rechtsprechung an die Bejahung des Rechtsbeugungstatbestands stellt, zugute. Leipziger, der im Windschatten dieses Schutzes segelt, könnte so heil aus der Sache herauskommen (in letzter Zeit scheint sich aber die Judikatur zur Rechtsbeugung, die sich immer stark auf eine Gesamtbeurteilung stützt, etwas zu verschärfen, vgl. zu einer 20-sekündigen Freiheitsentziehung durch einen Richter als Rechtsbeugung BGH, Urteil vom 31. Mai 2012 – 2 StR 610/11).
Der Hauptaspekt von Leipzigers professionellem Versagen, sein Gutachten selbst, läßt sich bei der derzeitigen Rechtslage strafrechtlich nicht erfassen. Es gibt weder einen Straftatbestand einer grob fahrlässigen Fehlbegutachtung noch einen Straftatbestand der fahrlässigen Freiheitsberaubung.
Ärztliche Verfehlungen dieser Art können allerdings berufsrechtlich geahndet werden. So hat das Berufsgericht für Heilberufe in Gießen in einem vergleichbaren – aber doch weit weniger folgenreichen – Fall einer psychiatrischen Fehlbegutachtung eine Geldbuße in Höhe von 12.000 Euro verhängt (Urteil vom 16. November 2009 – 21 K 1220/09.GI.B – hessische Steuerfahnder-Affäre). Im Fall Leipziger wird sich aber nur ein zeitlicher Ausschnitt seiner Verfehlungen so erfassen lassen, da die Verjährungsfrist drei Jahre beträgt (Art. 66 Abs. 2 HKaG).
Um so wichtiger ist das zivile Haftungsrecht, dem von jeher auch die Aufgabe der Verhaltenssteuerung zugedacht ist, das also eine präventive Kraft entfalten soll. Es waren auch immer besondere Schübe in der Rechtsprechung, die für bestimmte Sachgebiete diese Bedeutung des Haftungsrechts gezielt ausgebaut haben. So setzte etwa Ende der 1980er Jahre die Rechtsprechung zur Produkthaftung ein und sicherte auf diese Weise ein bis dahin ungeahnt hohes Verbraucherschutzniveau, flächendeckend und über die entschiedenen Einzelfälle hinaus. Diese Rechtsprechung stützte sich allein auf Vorschriften des BGB, die bereits seit 1900 galten und ging doch über die gleichzeitig EG-initiierten gesetzgeberischen Maßnahmen zum Verbraucherschutz hinaus. Das moderne, nagelneue Produkthaftungsgesetz war im Schatten dieser Rechtsentwicklung schon in dem Moment weitgehend bedeutungslos, als es erlassen wurde.
Eine deutliche, allein von der Rechtsprechung ausgehende Verschärfung der Haftung erlebte in den letzten Jahrzehnten auch die Ärzteschaft. Das Arzthaftungsrecht hat seither das Verhältnis zwischen Arzt und Patient neu definiert. Die präventive Kraft des Zivilrechts hat das Niveau der ärztlichen Heilbehandlungen insgesamt entscheidend angehoben.
Für das Gutachterwesen, sei es durch Ärzte oder andere Sachverständige ausgeübt, muß ein weiterer solcher Schub einsetzen. Das OLG Frankfurt ist hierfür in einem Fall, der dem Fall Leipziger frappierend ähnelt, bereits in Vorlage getreten: Es ging um den Fall Cornelius Schott. Dieser anthropologische Gutachter hatte für eine große Strafkammer (es handelte sich auch hier um die 7. Strafkammer des LG Nürnberg-Fürth, allerdings zu einer Zeit, als Brixner ihr noch nicht angehörte) ein Identitätsgutachten erstellt, in dem er zu dem Ergebnis kam, daß der Angeklagte Donald Stellwag, der die Tat bestritt, sie mit höchster Wahrscheinlichkeit begangen habe. Aufgrund dieses Gutachtens glaubte sich die Strafkammer in der Lage, den Angeklagten zu verurteilen, zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von neun Jahren. Aus einem SPIEGEL-Bericht:
Auch Stellwags Nasenflügel, Stellwags Nasenboden, Lippen, Mund, Kinn, Fingernägel, Finger, Daumen, Daumengelenk, Mittelhandknochen, Handkante, Knöchel, Handrücken, sagte Dr. Cornelius Schott, Sachverständiger, sähen genau wie der Nasenflügel, der Nasenboden, der Handrücken des fotografierten Täters aus.
Sie lügen, schrie Stellwag.
Ach, geben Sie es doch zu, sagte Dr. Schott und lächelte, ich hab Sie erkannt.
In Prozenten ausgedrückt: Weit oben im neunziger Bereich, über 98 Prozent. An der Täterschaft des Angeklagten besteht für mich keinerlei Zweifel.
Sprach Dr. Schott. Stellwag bekam acht Jahre.
Revision am Bundesgerichtshof. Der bekannte Satz: Wird als unbegründet verworfen, da die Nachprüfung des Urteils keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten ergeben hat.
Justizvollzugsanstalt Straubing, Bayern. Schwerverbrecher, von sechs Jahren Knast aufwärts. Am Tag, als Donald Stellwag in die Anstalt trat, fragte ihn ein Wärter: Schuldig oder unschuldig? Unschuldig, sagte Stellwag. Also nicht schuldeinsichtig, sagte der Beamte, nicht resozialisierbar. Also keine Hafterleichterungen, keine vorzeitige Entlassung. Ich war’s nicht, sprach Stellwag.
Stellwag saß seine Strafe vom 21. Dezember 1994 bis zum 14. Februar 2001 ab. Kurz nachdem er entlassen worden war, wurde der wahre Täter ermittelt und verurteilt.
Das OLG Frankfurt verurteilte Schott, an sein Opfer Stellwag ein Schmerzensgeld in Höhe von 150.000 Euro zu zahlen (Urteil vom 2. Oktober 2007 – 19 U 8/07). Diese Entscheidung ist unter einer Vielzahl von Gesichtspunkten ergiebig für den Fall Leipziger, beginnend mit der Begründung, warum eine Verjährung nicht vorlag (im Einklang mit den arzthaftungsrechtlichen Grundsätzen), wegen der Klärung, daß Fehler des Gerichts den Sachverständigen nicht entlasten und wegen der Höhe des Schmerzensgelds. Doch die größte Parallele besteht darin, daß die grobe Fahrlässigkeit Schotts, die der Haftungsmaßstab war (§ 839a BGB), entscheidend damit begründet wurde, daß der Gutachter das Gericht über die methodische Begrenzung seiner Erkenntnisfähigkeit im Unklaren gelassen hatte. Schott hatte dem Gericht suggeriert, er könne eine 98%ige, nahezu 100%ige Wahrscheinlichkeit angeben, daß sein Ergebnis stimme.
Leipziger hatte sich nicht mit 98% begnügt. Er wußte: „Der Angeklagte leide mit Sicherheit bereits seit Jahren [!] unter einer paranoiden Wahnsymptomatik“ (Urteil, Seite 23). „Ohne Zweifel“ habe er in diesem Zustand seine Frau geschlagen (Urteil, Seite 24). Die Voraussetzungen von § 21 lägen „mit Sicherheit“ vor (Urteil, Seite 24). Er wußte dies alles sehr genau – nur eines sagte er dem Gericht nicht: „Ohne eine sorgfältige Exploration ist ein Gutachten im engeren Sinne nach heutigem Verständnis nicht zu erstellen.“ (Nedopil, a.a.O.).
Daß Leipzigers Gutachten, mit dem er einen bis heute andauernden gerichtsförmigen Perseveranz- und Inertia-Effekt auslöste, schon aus diesem Grund ein grob-fahrlässiges Fehlgutachten war (von den inhaltlichen Mängeln, die diese Einschätzung wahrscheinlich auch für sich verdienen, abgesehen), kann vor diesem Hintergrund nicht ernstlich zweifelhaft sein. Die Besonderheit bei Leipziger ist allerdings: Er haftet Mollath trotzdem nicht. § 839a BGB wird in seinem Fall von § 839 Abs. 1 BGB verdrängt, da er Beamter des Bezirks Oberfranken ist. Der Haftungsmaßstab – grobe Fahrlässigkeit – bleibt dort der gleiche (vgl. BVerfG, Beschluß vom 11. Oktober 1978 – 1 BvR 84/74), doch es haftet nicht Leipziger persönlich, sondern der Bezirk (Art. 34 Satz 1 GG, Art. 97 Satz 1 BV). Unter dem Gesichtspunkt der Verhaltenssteuerung durch Haftungsrecht wäre dies unbefriedigend. Zum Glück sieht das Gesetz dies ebenso: Nach Art. 34 Satz 2 GG, Art. 97 Satz 2 BV bleibt der Rückgriff bei grober Fahrlässigkeit vorbehalten. Leipziger wird vom Bezirk in Regreß genommen werden können, ja wohl sogar müssen, da hier fiskalische und spezial- und generalpräventive Gründe zusammenkommen.
Auch was die Höhe des Schmerzensgeldes betrifft, kann die Entscheidung des OLG Frankfurt einen Maßstab abgeben, allerdings wohl im Sinne einer Untergrenze. Mollath erlitt nicht nur – wie Stellwag – eine über sechsjährige Freiheitsentziehung, ohne daß die Voraussetzungen dafür vorlagen, sondern erlitt sie auch unter den verschärften Bedingungen, die eine psychiatrische Unterbringung im Vergleich zum normalen Strafvollzug ausmachen. Es kommt hinzu, daß Mollath aufgrund dieser Freiheitsentziehung seine gesamte frühere materielle Existenz verloren hat. Nichts bleibt ihm als die Kleidung, die er trug, als er eingeliefert wurde. Dieser materielle Nullpunkt, den Mollath durch das Verschulden Leipzigers erreichte, ist für sich schon ein existentieller, immaterieller Schaden. Der materielle Schadenersatzanspruch kommt noch hinzu. Insgesamt dürfte ein Schmerzensgeldsanspruch im Bereich zwischen 200.000 und 300.000 Euro realistisch sein (vgl. zur jüngst vom LG Wuppertal eingehend begründeten Verdoppelung des bisherigen Schmerzensgeldniveaus bei Vergewaltigungen, die mit einer mehrtätigen Freiheitsentziehung einhergehen: Urteil vom 5. Februar 2013 – 16 O 95/12).
Das Recht kann das, was Mollath geschehen ist, nicht wiedergutmachen. Aber es kann sich um einen Ausgleich bemühen.
[…] erneut/nochmals den Fall Mollath, der jetzt vielleicht auch zum “Fall StA Augsburg” wird, vgl. hier, hier, hier und hier, […]
Pingback von Wochenspiegel für die 9.KW, das war wieder der Fall Mollath, Strafe, die sich lohnen muss, und der im Knast rockende Richter - JURION Strafrecht Blog — 3. März 2013 @ 13:10