De legibus-Blog

20. Dezember 2012

Fall Mollath: Meine Kritik an SPIEGEL-Autorin war zur Hälfte unberechtigt

Oliver García

In diesem Blog sind bereits drei Beiträge zum Fall Gustl Mollath erschienen. Auf diesen Fall bin ich über einen Blogbeitrag von Prof. Henning Müller aufmerksam geworden. Zuvor hatte ich zwar schon mehrfach in den Medien das Stichwort Mollath gelesen, ohne dem aber große Beachtung zu schenken. Über den Beitrag von Prof. Müller habe ich erst erfahren, daß es um die Frage geht, ob ein Justizirrtum vorliegt und – wenn ja – wie die Justiz damit umgeht. Daß der Fall im Bayerischen Landtag bereits heftige Debatten ausgelöst hatte, tat sein übriges, mein Interesse zu wecken.

Ich befaßte mich daraufhin mit dem Urteil des LG Nürnberg-Fürth, das der mittlerweile fast siebenjährigen Unterbringung Mollaths in der Psychiatrie zugrunde liegt, sowie mit weiteren Dokumenten, die von einem Unterstützerkreis im Internet zusammengestellt wurden. Daß der Unterstützerkreis naturgemäß eine einseitige Sicht der Dinge propagiert, habe ich bei dem Versuch, mir eine Meinung zu bilden, in Rechnung gestellt. Als Ergebnis meiner Auseinandersetzung mit diesen „Primärtexten“ habe ich den Blogbeitrag mit dem Titel „Justiz im Wahn-Wahn“ veröffentlicht und dort Kritik an dem ursprünglichen Verfahren vor dem LG Nürnberg-Fürth geübt, aber auch an der Art und Weise, wie die Justiz als Institution (Justizministerin, Generalstaatsanwalt, Richtervereinsvorsitzender) mit der Kritik umgeht, die – in der Politik, in der Presse (etwa dem Kommentar von Heribert Prantl) und im Internet (etwa dem Beitrag von Rechtsanwalt Stadler) – immer lauter wurde.

Als Ergänzung zu diesem Beitrag habe ich später die Gelegenheit genutzt, mit einem der Richter, die das Urteil des LG Nürnberg-Fürth gefällt haben, ein Interview zu führen. Der dritte Beitrag folgte letzte Woche als Reaktion auf zwei am selben Tag in renommierten Presseorganen veröffentlichte Artikel, die sich erklärtermaßen zum Ziel gesetzt haben, den Fall Mollath einer Neubewertung zu unterziehen („Wenn die Welle des Journalismus bricht“).

Dieser Beitrag war – von einem prozessualen Anhängsel abgesehen – weniger eine juristische als eine medienkritische Betrachtung. Diese Medienkritik fiel sehr harsch aus und hat gestern die Autorin des einen der beiden dort behandelten Artikel, Beate Lakotta vom SPIEGEL, veranlaßt, im hauseigenen Blog Stellung zu nehmen. Ich möchte auf diese freundliche Reaktion in Briefform meinerseits in dieser Form erwidern:


Sehr geehrte Frau Lakotta,

ich rechne es Ihnen hoch an, daß Sie auf die – nicht nur von mir und RA Stadler geäußerte – Kritik an Ihrem Beitrag mit einer Stellungnahme im Spiegelblog reagieren. Als ich kürzlich in einem Blog einen weiteren Kommentar zu der Schwerpunktsetzung in neueren Presseberichten abgab, wollte ich eigentlich noch schreiben: Man könne sicher sein, daß die Kritik an diesen Berichten bei den Autoren abperlen werde, denn diese würden die Kritik nur als Zeichen für Verärgerung auffassen. Verärgerung darüber, daß die Presse eine liebgewonnene Verschwörungstheorie kaputtmache. Verärgerung darüber, daß nicht jeder Pressebericht einstimme in den bislang einheitlichen Chor. Diese – dann doch nicht geschriebene – Einschätzung haben Sie widerlegt. Angesichts Ihrer Diskussionsbereitschaft tun mir – wie es ja oft so kommt – einige Spitzen in meiner Kritik im nachhinein leid.

Auch in einem weiteren Punkt haben Sie mich eines besseren belehrt. Bevor ich aber auf Ihre Stellungnahme meinerseits eingehe, möchte ich noch einmal den Kern meiner Kritik an Ihrem Beitrag klarstellen. Ich habe diese Kritik im Blog von Herrn Stadler so konkretisiert:

  • Wer, wie etwa SPIEGEL und ZEIT, mit dem Anspruch an den Fall herangeht, eine Medien- und – noch schlimmer – eine Internetschwarm-Kampagne aufzudecken, muß gerade deshalb besonders besonnen und umfassend berichten, er darf nicht selektiv die Fakten so präsentieren, daß es „paßt“.
  • Es ist die Aufgabe der Medien, Mißstände in der Politik oder – wie hier – in der Justiz aufzudecken und ggf. anzuprangern. Diese Wächterfunktion ist letztlich darauf gerichtet, daß die staatlichen Instanzen in den jeweiligen institutionellen Bahnen Selbstheilungskräfte freisetzen. Im Rahmen dieses Prozesses können dann, im Idealfall, die Fehler umfassend und genau ermittelt und gewürdigt werden. Wenn dieses Ergebnis hinter dem zurückbleibt, was angeprangert wurde, dann wird dadurch das Anprangern nicht falsch, es hat seine Funktion erfüllt. Anders verhält es sich, wenn die Medien „aufdecken“ wollen, daß alles zum Besten stehe, daß keine Fehler gemacht wurden. Dies ist im Sinne der Wächterfunktion unverantwortlich, wenn sie nicht gründlich ermitteln und den Fall umfassend darstellen. Es ist nicht Aufgabe der Presse, aus grundsätzlichen „staatstragenden“ Motiven heraus abzuwiegeln und eine „Weitergehen-es-gibt-hier-nichts-zu-sehen“-Politik zu betreiben.

Meine Annahme, daß Sie nicht gründlich ermittelt hätten, war falsch. Das zeigt Ihre jetzige Erläuterung. Von Ferndiagnose kann also keine Rede sein. Den Ausdruck habe ich in Bezug darauf verwendet, daß der journalistischen „Gegenseite“ dieser Vorwurf von der Politik mehrfach gemacht wurde. Inwieweit er für die Gegenseite berechtigt ist oder nicht, vermag ich nicht zu beurteilen, in Ihrem Fall ist er nicht berechtigt.

Aber ich glaube, mein Irrtum ist entschuldigt: Daß Sie die umfangreichen Recherchen durchgeführt haben, ließ sich aus Ihrem Beitrag gerade nicht entnehmen. Ich habe die zwei wesentlichen neuen Informationen, die in ihm enthalten sind, in meiner Kritik genannt (Zustandekommen des Attests in der Darstellung des Arztes, Steinwurf). Alle übrigen Informationen waren im wesentlichen zum Zeitpunkt der Veröffentlichung Ihres Beitrags bereits bekannt und teilweise mehrfach „durchgekaut“. Diese Einschätzung war vielleicht etwas unfair, da einige Details dem ZEIT-Artikel, der ein paar Stunden früher erschien, zu entnehmen waren und es nicht mehr unterscheidbar war, ob sie bei Ihnen Übernahmen waren oder das Ergebnis eigener paralleler Recherchen. Aus meiner Sicht – und viele Menschen sahen es ausweislich der Kommentare auf SPIEGEL ONLINE und in Blogs ähnlich – war Ihr Beitrag im wesentlichen dadurch gekennzeichnet, daß bekannte Informationen auf eine bestimmte selektive Art und mit einer offen ausgesprochenen Tendenz neu arrangiert wurden.

Daß Ihr Beitrag weit davon entfernt ist, den Fall Mollath umfassend und ausgewogen darzustellen, liegt für jeden, der sich mit dem Fall befaßt hat, auf der Hand. Auch nach nochmaligem Lesen kann ich von dieser Kritik nichts zurücknehmen. Und Sie bestätigen es ja jetzt selbst („In meinem Text habe ich nicht noch einmal alle Urteils- und Verfahrenskritik zusammengetragen und bewertet, das haben ja schon andere getan“). Ich habe sogar den Eindruck, daß Sie die Unausgewogenheit und eine gewisse „emotionale Überreaktion“ Ihres Beitrags nun selbst etwas bedauern, wenn Sie schreiben „Ich habe meinen Unmut darüber kundgetan …“, Ihren Unmut über eine Schieflage der Darstellung in der Netzöffentlichkeit und bei anderen Journalisten. In diesem Sinne lese ich auch Ihren Satz „Mag sein, dass sich das Unverständnis darüber im Ton meines Textes niedergeschlagen hat.“.

Ich selbst störe mich an so manchem, was derzeit „pro Mollath“ geschrieben wird. Es ist da viel Spekulatives und Maßloses im Umlauf, viele eigene Süppchen werden in den Fall mit hineingerührt. Doch ich meine, journalistische Verantwortung bedeutet gerade, diese Gemengelage aufzudröseln und das Überkandidelte vom seriösen Kern zu trennen und nicht mitzurühren.

Aufgrund Ihrer jetzigen Äußerung habe ich keinen Zweifel mehr, daß Sie an Ihren Beitrag auf SPIEGEL ONLINE und Ihren Kommentar im aktuellen SPIEGEL „gutgläubig“ herangegangen sind, womit ich meine, daß Sie darauf vertraut haben, daß der „Gegensteuer“-Charakter des Beitrags den Lesern nicht verborgen bleibe und daß deshalb eine Ausgewogenheit des Standpunkts nicht so sehr erforderlich sei.

Der springende Punkt ist meiner Meinung nach aber, daß Sie genau in dieser Annahme falsch lagen: Ich glaube vor allem, daß die Vorstellung, weite Teile der SPIEGEL-Leser seien bereits umfassend über die Feinheiten des Falles Mollath informiert, so daß die Darstellung der Gegenposition genügen würde, nicht zutrifft. Der Fall wird zwar viel diskutiert, aber seien wir realistisch: Die meisten Nachrichtenleser erreicht so ein Justizfall erst, wenn er in den „führenden“ Medien auftaucht. SPIEGEL- und ZEIT-Leser hören vielleicht mit halbem Ohr hin, warten aber ab, bis ihr Blatt ihnen erklärt, was nun dran ist. Soviel Engagement und Medienkompetenz, sich aus zwei einseitigen Darstellungen eine ausgewogene Meinung der goldenen Mitte selbst zu erarbeiten, ist doch in der Realität selten.

Ich glaube, Frau Lakotta, daß es Ihnen ohne weiteres möglich gewesen wäre, die nicht unberechtigte Kritik an der Einseitigkeit mancher Ihrer Kollegen auch so zu plazieren, daß Sie die Kritik und Beunruhigung derer, die den Fall anders beurteilen als Sie, nicht der Lächerlichkeit preisgeben und eine Tür offen lassen für die Möglichkeit, daß doch nicht alles zum Besten steht im Fall Mollath. Warum schreiben Sie „Menschen solidarisieren sich in Leserbriefen und Internet-Blogs blindlings mit dem mutmaßlichen Justizopfer.“, ohne hinzuzufügen, daß es auch viele Menschen gibt, die sich nicht „blindlings“, sondern nach eingehender Befassung zu dem Fall äußern?

Der Tenor Ihres Beitrags ist der an vorderer Stelle stehende Satz „Ein Generalverdacht, von Medienvertretern erhoben gegen Institutionen des Rechtsstaats.“ Und dieser Vorwurf ist schlicht falsch. Es geht hier nicht um einen Generalverdacht, sondern um einen Einzelfall, in dem der Rechtsstaat versagt hat oder zumindest möglicherweise versagt hat. Es geht um einen Einzelfall, der strukturelle Probleme offenlegt (die übrigens auch unabhängig vom Fall Mollath schon lange diskutiert werden), aber nicht um die Vorstellung, den Rechtsstaat gebe es gar nicht oder es sei nun schlicht alles in Frage zu stellen.

Ihre Äußerung entspricht hier fast eins zu eins dem, was Justizministerin Merk vor dem Rechtsausschuß erklärt hat (das Dokument ist vom Server des Landtags verschwunden, aber über ein Blog ist noch eine Sicherungskopie auffindbar):

Zur Beweiswürdigung kann ich aber Folgendes sagen: Dass es für ein Tatgeschehen nur eine Zeugin, nämlich das Opfer gibt, ist keine Seltenheit, sondern Gerichtsalltag. Gerade in Fällen häuslicher Gewalt!

Das Gericht hat die Ehefrau als Zeugin vernommen. Es lag ein ärztliches Attest vor, das die Verletzungen im Einzelnen dokumentiert.

Wenn wir jetzt Jahre später anfangen, ohne persönlichen Eindruck von den Beteiligten und ohne genaue Aktenkenntnis höchstrichterlich bestätigte Gerichtsentscheidungen in Frage zu stellen, beteiligen wir uns nicht nur an abstrusen Verschwörungstheorien, sondern rütteln auch an den Fundamenten unseres Rechtsstaates.

Wenn die Presse eine solche Abwiegelungstaktik gegenüber konkret benannten Kritikpunkten übernimmt, dann geht die Vierte Gewalt mit anderen Gewalten eine unheilvolle Koalition ein.

Noch ein Wort zu dem Thema Beziehungsgewalt, das Ministerin Merk in dem gerade genannten Zitat selbst ins Spiel gebracht hat: Ich bin am Ende meines oben erwähnten zweiten Kommentars auf diesen Aspekt zu sprechen gekommen. Dabei ging es nicht mehr unmittelbar um die Fehler Ihres Beitrags, sondern im zweiten Schritt um den Versuch, ein Motiv für dessen einseitige Ausrichtung zu finden. Meine Überlegung ist zugegebenermaßen spekulativ, notgedrungen eine „Arbeitshypothese“. Aber ich denke, ich habe sie auch als solche gekennzeichnet.

Zum Abschluß noch etwas zum Thema „Schwarzgeld“:

Es ist richtig, daß der HVB-Sonderrevisionsbericht sich in der Aussage zu diesem Punkt auf den Seiten 7 und 16 gewissermaßen selbst aufhebt. Doch ich glaube, mit einem Mindestmaß an lebensnaher Betrachtung läßt sich dieser Widerspruch auflösen: Auf Seite 7 wird die Selbstaussage eines der Mitarbeiter, gegen die intern ermittelt wurde, wiedergegeben, wonach es sich um „Schwarzgeld“ handelte. Dies wurde in einem Nebensatz mit dem Brustton der Selbstverständlichkeit (des „Täters“ selbst) ausgesprochen, um eigentlich einen anderen Punkt zu erläutern. Wir haben wenig Grund, eine solche spontane „Selbstbezichtigung“ in Zweifel zu ziehen. Sie deutet sogar darauf hin, hier nur die Spitze eines Eisbergs zu sehen. Auf Seite 16 hingegen geht es um die Frage, ob das Ermittlungsergebnis der Bank Anlaß gibt, die Strafverfolgungsbehörden einzuschalten, und zwar freiwillig, unterhalb der Schwelle einer Anzeigepflicht. Daß hier die Motivation besteht, in der Gesamtbewertung den Ball flach zu halten, versteht sich von selbst (die beiden Razzien, die diese Woche allein bei der Deutschen Bank stattfanden, illustrieren, was ein Bankvorstand eher vermeiden will; ich meine damit weniger die Gefahr einer Razzia – die ist bei Kooperation gering – als die Gefahr eines Reputationsschadens).

Im übrigen bin ich der Meinung, daß die Frage „Schwarzgeld – Ja oder Nein“ bei weitem nicht die Bedeutung für den Fall Mollath hat, die ihr oft zugeschrieben wird. Es geht nicht darum, wie die Geschäfte von Frau Mollath und den Personen, mit denen sie zusammenarbeitete, im einzelnen rechtlich zu würdigen sind. Mollath war, als er sich über diese Geschäfte aufregte und – aus welchen Motiven auch immer – sie anzeigte, kein juristischer Gutachter. Entscheidend ist allein seine laienhafte Sicht, daß hier etwas systematisch am Gesetz vorbei passierte. Er hat das Stichwort Schwarzgeld dafür verwendet. Ob und in welchem Maße hier tatsächlich Schwarzgeld im Sinne der Feinheiten des Gesetzes im Spiel war, ist irrelevant. Daß hier „dunkle Geschäfte“ gelaufen sind (in welcher Größenordnung auch immer), hat sich aber mit dem HVB-Bericht als zutreffend erwiesen. Allein darauf kommt es an.

Mit freundlichen Grüßen,

Oliver García

Zitiervorschlag für diesen Beitrag:
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