De legibus-Blog

11. November 2012

Landgericht Darmstadt verhandelt unter Ausschluss von Öffentlichkeit und Denkgesetzen

Thomas Fuchs

Man muss gar kein Strafrechtler sein, um vor Gericht einmal etwas zu erleben. § 169 S. 1 GVG, wonach die Verhandlung vor dem erkennenden Gericht öffentlich ist, und Art. 103 Abs. 1 GG, wonach vor Gericht jedermann Anspruch auf rechtliches Gehör hat, gelten bei der 27. Zivilkammer des Landgerichts Darmstadt im selbständigen Beweisverfahren nämlich nichts. Davon musste ich mich am vergangenen Freitag in einem Erläuterungstermin nach den §§ 492 Abs. 1, 411 Abs. 3 ZPO überzeugen.

Worum ging es? Eine von mir vertretene Stadt bemängelte kurz vor Vollendung der Verjährung die Frostschutzschicht einer Straße. Die Bauunternehmerin hielt es für angebracht, selbst ein selbständiges Beweisverfahren einzuleiten, in dem festgestellt werden sollte, dass die Straße in bestimmter Hinsicht mängelfrei sei. Die Stadt, die schon zwecks Verjährungshemmung ihrerseits ein selbständiges Beweisverfahren einleiten wollte, stimmte dem nicht zu und erhob gezwungenermaßen Klage auf Zahlung von Vorschuss für Aufwendungsersatz. Obwohl damit auch der Hauptzweck des § 485 Abs. 2 ZPO, einen Rechtsstreit zu vermeiden, nicht mehr erreicht werden konnte, wurde das selbständige Beweisverfahren vom Landgericht Darmstadt durchgeführt. Das Hauptsacheverfahren wurde dazu ausgesetzt. Als Sachverständigen bestellte es einen Mitarbeiter am Institut für Verkehr der Technischen Universität Darmstadt. Das Verfahren schleppte sich hin. Bis zur Vorlage des Gutachtens vergingen ein Jahr und fünf Monate, für das Ergänzungsgutachten dauerte es noch ein Jahr und drei Monate. Das Verfahren wurde dabei zunächst durch die antragstellende Bauunternehmerin verschleppt, indem sie den erforderlichen Gerichtskostenvorschuss erst ein halbes Jahr nach Antragstellung einzahlte. Und dann lag die Akte ganz überwiegend beim Sachverständigen. Bis der vorgenannte Erläuterungstermin stattfinden konnte, verstrich noch einmal ein halbes Jahr.

Die antragsgegnerische Stadt, auf welche durch die Anwohner der mangelhaften Straße Druck ausgeübt wurde – sogar das Fernsehen war da –, war darüber nicht amüsiert. Dem habe ich im Verfahren auch Ausdruck verliehen. Da dann auch die Feststellungen des Gerichtssachverständigen nicht einwandfrei waren, schaltete die Stadt auf meinen Rat hin einen Privatsachverständigen ein. Dieser fertigte zum Haupt- und Ergänzungsgutachten zwei umfangreiche Stellungnahmen an, die ich nach den §§ 492 Abs. 1, 411 Abs. 4 S. 1 ZPO zwecks Erhebung von Einwendungen einbrachte. Dazu beantragte ich, dass der Gerichtssachverständige seine beiden Gutachten mit Rücksicht auf diese Einwendungen mündlich erläutere. Das vorherige Mitteilen konkreter Fragen habe ich dabei auf entsprechende Aufforderung hin unter Hinweis auf die §§ 492 Abs. 1, 402, 397 ZPO verweigert (BGH, Beschluss vom 5. September 2006 – VI ZR 176/05, jurisRdnr. 3).

Vielleicht waren es diese prozessualen Spannungen, welche die Vorsitzende dann am vergangenen Freitag veranlassten, auf meine Erklärung, ich sei zusammen mit dem Privatsachverständigen der antragsgegnerischen Stadt erschienen, mit strahlendem Lächeln zu entgegnen, sie hätte damit ein Problem. Öffentlich sei lediglich die Verhandlung vor dem erkennenden Gericht. Das selbstständige Beweisverfahren sei aber lediglich parteiöffentlich und ende ohne eine erkennende Entscheidung. Der Privatsachverständige müsse deshalb von der Verhandlung ausgeschlossen werden. Mein Protest, dass das selbständige Beweisverfahren Teil des Hauptsacheverfahrens sei, dass ich auf die Mitwirkung des Privatsachverständigen mangels eigener Fachkunde angewiesen sei und dass ich von einem derartigen Vorgehen auch nach langjähriger Tätigkeit noch nie etwas gehört hätte, fruchtete nichts. In Darmstadt mache man das immer so. Dabei blieb die Vorsitzende auch nach Einblick in einen von ihr eilig herbeigeholten GVG-Kommentar. Ihre Methode, die Rechtsfrage zu überprüfen, bestand dabei darin, nach Beispielen für nichtöffentliche Verfahren zu suchen. Der Umstand, dass sich das selbständige Beweisverfahren unter den von ihr vorgelesenen nicht befand, irritierte sie dabei nur kurzzeitig. Denn die Prozessbevollmächtigten der antragstellenden Bauunternehmerin und der streitverkündeten Planerin sprangen ihrem Standpunkt freudig – und wohl auch aus eigener Überzeugung – bei. Auf meinen Einwurf, dass die Sitzung im Aushang vor dem Saal als öffentliche ausgewiesen sei, verließ die Vorsitzende noch einmal den Raum, offenbar um den Aushang zu entfernen. Es half auch nichts, dass ich dem Privatsachverständigen namens und mit Vollmacht der von mir vertretenen Stadt Untervollmacht erteilte. Die Vorsitzende und die beiden gegnerischen Prozessbevollmächten wollten meine Vollmacht sehen, die ich natürlich nicht dabei hatte. Darauf hin schloss die Vorsitzende den Privatsachverständigen von der Verhandlung aus. Der ins Protokoll aufgenommene Beschluss wurde nicht öffentlich verkündet. Der Privatsachverständige musste daraufhin den Saal verlassen.

Es entspann sich dann noch eine Diskussion darüber, ob die Leiterin der als Eigenbetrieb geführten Stadtwerke meiner Mandantin anwesend sein durfte. Auch dieser erteilte ich vorsorglich Untervollmacht. Hier schien die Sachlage aus Sicht der Vorsitzenden irgendwie anders zu sein, denn sie setzte mir insoweit nur Frist zur Vorlage der Vollmacht und gestattete die Teilnahme der Betriebsleiterin. Auch der ebenfalls anwesende Rechtsreferendar der Prozessbevollmächtigten der antragstellenden Bauunternehmerin musste den Saal nicht verlassen.

Was sich dann ereignete, geschah vielleicht tatsächlich auch besser unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Ich hielt dem Sachverständigen vor, dass sich bei systematisch durchgeführter Probeentnahme aus vier Schürfen in drei Schichten an drei Stellen (nördlich, mittig und südlich) insgesamt 36 Proben ergäben. Tatsächlich seien, wie vor Ort zu beobachten gewesen sei, auch mindestens 36 Proben entnommen worden. Es sei dann zu erwarten gewesen, dass sämtliche Proben auch untersucht werden, weil eine Repräsentativität umso eher gegeben sei, je höher die Probenzahl liege. Es sei aber nicht ersichtlich, dass 36 Proben ausgewertet worden wären. Stattdessen liege dem Gutachten ein Prüfzeugnis an, aus dem die Verwertung von nur acht Proben hervorgehe. Darauf entgegnete der Sachverständige, er habe von den 36 Proben unter Außerachtlassung von Ausreißern acht ausgewählt, die er für repräsentativ halte. Meinen Standpunkt, dass sich die Repräsentativität von Proben erhöhe, umso höher die Probenzahl sei, könne er nicht bestätigen. Meine Frage, man wolle sich ja der Wahrheit nähern und ob die Wahrheit zu 100 % erkannt werden könne, wenn man die Straße vollständig öffne, verneinte er. Meine weitere Frage, ob es dann auch gereicht hätte, den Zustand der Straße durch eine einzige Probe zu erkunden, bejahte er dagegen. Im Übrigen verbitte er es sich, dass ich ihn für seine Antworten weiter auslache.

Das Ganze war natürlich eher ein Trauerspiel und ich erklärte abschließend – die Anhörung dauerte den gesamten Vormittag – zu Protokoll, dass dieselbe wegen schwerer Verfahrensfehler wiederholt werden müsse, wenn das Beweisergebnis verwertet werden solle. Die maßgeblichen Vorschriften sind die folgenden:

Die Verhandlung vor dem erkennenden Gericht einschließlich der Verkündung der Urteile und Beschlüsse ist nach § 169 S. 1 GVG öffentlich. Beruft sich eine Partei im Prozess auf Tatsachen, über die selbständig Beweis erhoben worden ist, so steht nach § 493 Abs. 1 ZPO die selbständige Beweiserhebung einer Beweisaufnahme vor dem Prozessgericht gleich. Die Öffentlichkeitsmaxime des § 169 S. 1 GVG gilt auch für die Beweisaufnahme (BGH, Urteil vom 29. März 2000 – VIII ZR 297/98, Leitsatz 1). Dabei ist ausweislich des § 493 Abs. 1 ZPO kein Unterschied zwischen einer selbständigen Beweiserhebung und einer Beweisaufnahme vor dem Prozessgericht zu machen. Der Beschluss, der die Öffentlichkeit ausschließt, muss nach § 174 Abs. 1 S. 2 Halbs. 1 GVG öffentlich verkündet werden. Selbst diese Vorschrift wurde hier nicht beachtet, indem der Beschluss unter Ausschluss der Öffentlichkeit protokolliert und nicht öffentlich verkündet wurde. Eine Entscheidung ist nach § 547 Nr. 5 ZPO stets als auf einer Verletzung des Rechts beruhend anzusehen, wenn die Entscheidung auf Grund einer mündlichen Verhandlung ergangen ist, bei der die Vorschriften über die Öffentlichkeit des Verfahrens verletzt sind. Der betroffene Verfahrensabschnitt wird deshalb zu wiederholen sein (BGH, Urteil vom 29. März 2000 – VIII ZR 297/98, Leitsatz 1), und zwar im Hauptsacheverfahren (BGH, Beschluss vom 22. Mai 2007 – VI ZR 233/06, jurisRdnr. 2).

Vom Verstoß gegen § 169 GVG abgesehen: Vor Gericht hat nach Art. 103 Abs. 1 GG außerdem jedermann Anspruch auf rechtliches Gehör. Den Parteien ist nach § 357 Abs. 1 ZPO gestattet, der Beweisaufnahme beizuwohnen (Parteiöffentlichkeit). Diese allgemeine Vorschrift über die Beweisaufnahme, die also nicht nur für das selbständige Beweisverfahren gilt, beschränkt nicht die Allgemein-, sondern erweitert die Parteiöffentlichkeit (Zimmermann, Münchener Kommentar zur Zivilprozessordnung, 3. Auflage 2008, GVG § 169 Rdnr. 15). Da die Parteiöffentlichkeit das rechtliche Gehör gewährleisten soll und dies bei Zuziehung eines Gerichtssachverständigen am besten gesichert erscheint, wenn sich die Partei ihrerseits im Termin sachkundig beraten lassen kann, um ihre Rechte wirksam wahrzunehmen, darf die Partei zum Termin einen fachkundigen Berater beiziehen (OLG München, Beschluss vom 25. Februar 1988 – 28 W 994/88, jurisRdnr. 19). Dabei sind auch Äußerungen des fachkundigen Beraters der Partei zuzulassen. Es wäre nicht nur eine unnötige Förmelei und eine Zeitvergeudung für alle Beteiligten, wenn man fordern würde, die Partei müsse jeweils Unterbrechung der Beweisaufnahme erwirken, damit sie sich in der Pause fachkundig beraten lassen kann, um sodann bei Fortsetzung der Beweisaufnahme sachlich und fachlich richtige Fragen stellen oder solche Hinweise geben zu können. Es wäre vor allem eine ungerechtfertigte Beeinträchtigung des rechtlichen Gehörs der Partei, die stets Gefahr laufen würde, bei der Übermittlung des sachkundigen Rats mangels eigener Sachkunde Fehler zu machen (OLG München, ebenda, jurisRdnr. 20).

Die Öffentlichkeitsmaxime und der Anspruch auf rechtliches Gehör sind Grundpfeiler unseres Prozessrechts, die jedem mit auch nur einem Fünkchen rechtshistorischen Bewusstsein ohne Weiteres einleuchten müssen. Ich hätte nie geglaubt, dass ich in einem Baurechtsstreit einmal den absoluten Revisionsgrund der Verletzung der Öffentlichkeit des Verfahrens würde geltend machen müssen. Was sind das aber für Menschen, die bei uns Recht sprechen und ihre Blindheit gegenüber Verfahrensgerechtigkeit dadurch beweisen, dass sie im Kommentar nach Beispielen dafür suchen, ob ein selbständiges Beweisverfahren nichtöffentlich ist? Und was sind das für Menschen, die bei uns Interessen von Rechtsuchenden vertreten, eines ganz kurzfristigen taktischen Vorteils willen aber derartige Eingriffe auch noch unterstützen und damit die auch zugunsten ihrer Mandanten bestehenden prozessualen Grundpfeiler opfern?

Zitiervorschlag für diesen Beitrag:
https://blog.delegibus.com/2609

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