Eins muß man dem juristischen Internetmedium LTO („Legal Tribune Online“ – für die Anglophilen unter den deutschen Juristen) schon lassen: Es ist schnell, verdammt schnell. Wenn eine wichtige Gerichtsentscheidung kommt, dann bringt LTO am selben Tag nicht nur eine Kurzmeldung, sondern oft auch eine Kurzanalyse, von den verschiedensten Autoren aus Wissenschaft und Praxis. Schon im letzten Jahr sprach ich, anläßlich eines damaligen EGMR-Urteils und seiner Rezeption in der LTO, vom Ausschicken der Kavallerie. Bei dem am letzten Freitag öffentlich gemachten Beschluß des Plenums des Bundesverfassungsgerichts zum Einsatz der Bundeswehr im Inneren, der schon Anfang Juli ergangen war (2 PBvU 1/11), läßt sich dies nun fast wörtlich nehmen, man ersetze nur Kavallerie durch Panzerlehrbataillon:
Robert Glawe, Rechtsreferendar, Hauptmann der Reserve und ausweislich seiner Doktorarbeit ein Experte für „Organkompetenzen und Handlungsinstrumente auf dem Gebiet der nationalen Sicherheit“ (!), war es diesmal, der auf LTO die Entscheidung besprach.
Er begrüßt die Entscheidung und nimmt sie in Schutz vor der „prognostizierbaren Aufregung“. Das BVerfG habe gegeben, was Sicherheitsfachleute wie Glawe wollen:
Nichtsdestotrotz, die Kernaussage der Entscheidung hielten Sicherheitsfachleute für längst überfällig. Sie ist konsequent und entspricht einem modernen Sicherheitsverständnis: Die Verfassung sei so auszulegen, dass es unter engen Voraussetzungen nicht generell ausgeschlossen sei, auch andere als die spezifisch polizeilichen Mittel anzuwenden, um Gefahren wirksam abzuwehren.
Sicherheitsfachleute – das sind nicht etwa Mitarbeiter von Schließdiensten, sondern Intellektuelle, die es verstanden haben, die äußere und innere Sicherheit holistisch, in ihrer notwendigen Verschränkung zu sehen. Es ist vielleicht kein Zufall, daß sie den Begriff „äußere Sicherheit“ ersetzen wollen durch „nationale Sicherheit“ – eine Begrifflichkeit aus den USA, importiert über die Brücke. Doch der Schritt, den das BVerfG gegangen ist, ist dem Autor zu wenig. Die Entscheidung sollte – das ist das eigentliche Anliegen in seinem Beitrag – ein Fanal für den verfassungsändernden Gesetzgeber sein, das Gebäude der nationalen Sicherheit nun zu vollenden.
Die Tendenz, um die es geht, zeigt sich in den Themen des JU-Sicherheitsforums, innerhalb der Jungen Union Niedersachsen eine Art Denkfabrik, der Glawe vorsteht. Die in diesem Rahmen entstandenen Meinungsartikel haben schillernde Titel wie „Die Taktik der gezielten Tötungen: Israelische Erfahrungen“ (siehe hierzu im Blog schon „Mossad-Attentat in Dubai: Hat die Bundesanwaltschaft die Strafverfolgung in Deutschland sabotiert?“ und „Angela Merkel auf den Spuren von Carl Schmitt„), „Bundeswehrinneneinsatz, Terrorismusbekämpfung und Verfassungsrecht – Unendliche Diskussion über die unzureichende Konstitution?“ und „Zum Einsatz der Bundeswehr bei der Bewachung von Fußball-Stadien – Aktuelle Diskussion, verfassungsrechtliche Situation und rechtspolitische Notwendigkeit“.
Die weiteren verfassungsändernden Schritte in die „richtige Richtung“, die Glawe vorschweben, dürften übereinstimmen mit dem, was nun auch der Bundeswehrverband fordert, seinerseits Morgenluft witternd: Die Bundeswehr solle im Inland nicht nur auf Beschluß der Bundesregierung eingesetzt werden, sondern flexibler, unter Berücksichtigung dessen, was die „militärischen Führer vor Ort“ meinen.
Es ist gut, daß es Beiträge wie den von Glawe gibt. Die parlamentarische Demokratie lebt von Meinungspluralismus, hier meinetwegen Glawe auf der einen Seite, Steinbeis und Prantl auf der anderen. Ich habe zu dieser Entscheidung keine besondere Meinung, aber ich finde jedenfalls die Anmerkung von Ariane im Verfassungsblog überzeugend, daß eine Entscheidung, die ausdrücklich auf die Selbstverständlichkeit hinweist, eine Demonstration sei kein “besonders schwerer Unglücksfall”, eher beunruhigend als beruhigend ist. Insbesondere, wenn man sich, wie Ariane, die Frage stellt, ob im Umkehrschluß nicht Krawalle, die ja keine Demonstrationen sind, „besonders schwere Unglücksfälle“ im Sinne der Entscheidung sein können.
Unabhängig vom Inhalt der Entscheidung aber, die letztlich vielleicht nicht so weltbewegend ist, darf eine Äußerung Glawes nicht einfach stehen bleiben:
Das Sondervotum orientiert sich im Wesentlichen an den Feststellungen des Ersten Senats aus 2006, die nun mit überwältigender Mehrheit der obersten Richter modifiziert worden sind.
Der Legende von der „überwältigenden Mehrheit“, die damit in die Welt gesetzt wird, ist – wie so oft bei Legenden – ein schlichtes Mißverständnis: Es ist nicht bekannt, mit welchem Stimmenverhältnis die Plenarentscheidung gefallen ist. Der Umstand, daß es nur ein Sondervotum gibt, läßt keine Rückschlüsse auf das Abstimmungsergebnis zu. Es gibt keine Pflicht für überstimmte Richter, ein Sondervotum zu schreiben, und auch in der Praxis bleibt ihre Zahl weit hinter den Fällen zurück, in denen eine Entscheidung durch Mehrheit statt einstimmig gefallen ist. Der Gesetzgeber hat in § 30 Abs. 2 Satz 2 BVerfGG die Möglichkeit, das Stimmenverhältnis mitzuteilen, ausdrücklich auf Senatsentscheidungen beschränkt (dazu, daß bei Plenarentscheidungen gleichwohl gem. § 30 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG Sondervoten beigefügt werden können, siehe Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, BVerfGG § 30 Rn. 4). Das Bundesverfassungsgericht konnte hier also das Abstimmungsergebnis nicht mitteilen, selbst wenn es dies gewollt hätte. Im übrigen wird auch bei Senatsentscheidungen, aus den verschiedensten Zweckmäßigkeitserwägungen heraus, das Stimmverhältnis mal mitgeteilt, mal nicht.
Es kann sich hier demnach zwar durchaus um eine 15:1-Entscheidung gehandelt haben, genauso aber auch um eine 12:4- oder 9:7-Entscheidung. Eine solche größere Meinungsvielfalt – und zwar in Bezug auf jede der drei Vorlagefragen, die aufgrund Rechtsprechungsdivergenz gestellt wurden – ist sogar wahrscheinlicher, hatte doch der Erste Senat dem Zweiten auf Anfrage ursprünglich durch einstimmigen Beschluß mitgeteilt, daß er an seiner Meinung festhalte.
Und wenn wir schon bei Verfahrensfragen sind: Im letzten Jahr hatte ich mich bereits in einem Beitrag über die Art der Vorbereitung der jetzigen Entscheidung gewundert. Auch nunmehr, nachdem sie vorliegt, wundere ich mich ein bißchen, nämlich darüber, daß sie doch so schnell kam. So schnell? Immerhin war das Vorlageverfahren 14 Monate anhängig und das Ausgangsverfahren ist es seit sieben Jahren. Ja, aber zwei der 16 Richter haben an der Entscheidung mitgewirkt, obwohl sie erst seit sechs Monaten am Bundesverfassungsgericht sind (Ministerpräsident a.D. Peter Müller und BGH-Richterin a.D. Sibylle Kessal-Wulf). Ist es tatsächlich möglich, sich neben der Akklimatisierung und bei aller Last, die die massenweise eingehenden Verfassungsbeschwerden in den Kammern bedeuten, sich in derart wichtige Fragen wie den im Plenarverfahren gestellten hinreichend einzuarbeiten? Sonst hört man doch auch immer vom BVerfG, daß gute Entscheidungen Weile haben wollen.
Nun könnte man natürlich sagen, daß ja die übrigen Richter gut, sogar mehr als gut, vorbereitet waren und daß sie bei den Beratungen die „Neuen“ entsprechend an den von ihnen bereits vorgenommen Analysen haben teilhaben lassen können. Das läßt sich hören, aber hat uns nicht gerade kürzlich – im Zusammenhang mit den Besetzungsquerelen im 2. Strafsenat des BGH – das BVerfG wissen lassen, daß es ein Gefälle zwischen gut informierten und von vornherein weniger gut informierten Richtern nicht geben darf (Beschluß vom 23. Mai 2012 – 2 BvR 610/12)?