Zur ungeklärten Frage der Verfassungsmäßigkeit von § 11 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 VStGB
Am 16. April 2010 hat die Bundesanwaltschaft das Ermittlungsverfahren im Zusammenhang mit einem von Bundeswehrsoldaten angeordneten Luftangriffs vom 4. September 2009 in Afghanistan („Kundus-Fall“) wegen erwiesener Unschuld eingestellt (3 BJs 6/10-4, Pressemitteilung). Bei dem Angriff waren nach offiziellen Angaben 73 Menschen getötet worden, darunter Medienberichten zufolge zahlreiche unbewaffnete Dorfbewohner und Kinder.
Der SPIEGEL berichtete in seiner Ausgabe 23/2010 (Vorbericht bei Spiegel Online) von Einzelheiten aus den Entscheidungsgründen, die – wie es in der Pressemitteilung heißt – „wegen der Verpflichtung zur Einhaltung des Geheimschutzes“ von der Behörde nicht veröffentlicht worden sind.
Es mag seine Berechtigung haben, wenn die Bundesanwaltschaft gewisse Einzelheiten des Sachverhalts der Öffentlichkeit – und damit dem militärischen Gegner – vorenthält. Nicht hinnehmbar ist aber, wenn sie in den Mantel der Geheimjustiz auch die eigentlichen rechtlichen Erwägungen zu hüllen versucht. Das gilt um so mehr, als der vorliegende Fall Rechtsfragen des deutschen Strafrechts betrifft, die alles andere als geklärt sind.
Die in der Überschrift gestellte Frage mag einen polemischen Klang haben, gehörte hier aber zum nüchternen Prüfprogramm der Bundesanwaltschaft. Diese hat die Frage verneint. Und sie sieht die beiden Soldaten, gegen die ermittelt wurde, ebenso von allen anderen strafrechtlichen Vorwürfen entlastet, und zwar in erster Linie auf der Ebene des subjektiven Tatbestands: Die Beschuldigten seien schon nicht davon ausgegangen, daß Zivilisten anwesend waren. Damit entfällt der Tötungsvorsatz in Bezug auf die Zivilisten. Darüber hinaus attestiert die Behörde den Beschuldigten, daß sie annehmen durften, daß ausschließlich Aufständische vor Ort waren. Damit entfällt – in Bezug auf zivile Opfer – auch der Fahrlässigkeitsvorwurf.
Die deutschen Anwälte der Opfer sehen dies, wie kürzlich gemeldet wurde, anders und verlangen weitere Ermittlungen.
In rechtlicher Hinsicht ist an den Ausführungen der Bundesanwaltschaft in ihrer Pressemitteilung (ihre eigentliche Argumentation ist ja geheim) ein obiter dictum besonders interessant: Die Behörde ließ es nicht dabei bewenden, daß die Strafbarkeit der Beschuldigten schon aus den genannten subjektiven Gründen ausscheidet, sondern legte noch Wert auf den Hinweis, daß diese selbst dann straflos seien, wenn sie hinsichtlich des Todes der Zivilisten Vorsatz gehabt hätten. Maßgeblich sei nämlich insoweit lediglich die Einhaltung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes, d.h. Zivilisten dürfen in dem Maße getötet werden, wie es zum erwarteten konkreten und unmittelbaren militärischen Erfolg in angemessenem Verhältnis stehe.
Diese Rechtsauffassung läßt aufhorchen: Nach ihr gibt es also im deutschen Recht die Erlaubnis, Menschen gezielt zu töten, wenn es einem berechtigten Interesse, einem angemessenen Ziel dient. Es gibt diesen Rechtssatz wirklich, sogar schriftlich: Niedergelegt ist er seit dem 30. Juni 2002 in § 11 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 VStGB.
Wenn auch die Bundesanwaltschaft ihr obiter dictum im Rahmen einer völkerrechtlichen Prüfung, die sie im Rahmen des Mord- und Totschlagstatbestandes anstellte, geäußert hat, kann kein Zweifel daran bestehen, daß sie diese Tötungserlaubnis sowohl in dieser ungeschriebenen als auch in jener geschriebenen Ausprägung meinte.
Es liegt auf der Hand, daß § 11 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 VStGB – nichts anderes gilt für die entsprechende völkerrechtliche Regelung, die nach Auffassung der Behörde vom StGB in Bezug genommen wird – jedenfalls nicht kritiklos als wirksamer Bestandteil des deutschen Rechts anerkannt werden kann.
Es gilt geradezu als Kernsatz der Unantastbarkeit der Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG), daß eine Abwägung Leben gegen Leben nicht stattfinden darf. Dies hat das Bundesverfassungsgericht vor nicht allzu langer Zeit in einem Fall bekräftigt, der eine frappierende Ähnlichkeit mit der hier behandelten Konstellation hat: Mit Urteil vom 15.02.2006 – 1 BvR 357/05 – hat es eine Bestimmung des Luftsicherheitsgesetzes, die den Abschuß von entführten Flugzeugen erlaubte, unter anderem wegen Verstoßes gegen Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 2 GG für verfassungswidrig und nichtig erklärt. Eine Bestimmung, die die Tötung Unschuldiger (hier: der Passagiere und Besatzungsmitglieder des entführten Flugzeugs) erlaubt, hat, so das BVerfG, vor der Wertordnung des Grundgesetzes keinen Bestand. Zum großen Ärger so mancher Ordnungspolitiker hat das Gericht in dieser Entscheidung nicht gelten lassen, daß es sich in diesen Fällen um höchst singuläre Grenzsituationen mit Notstandscharakter handelt.
Wenn also schon in einer verzweifelten Notstandslage nach der Rechtsprechung des BVerfG das Grundgesetz einer gesetzlichen Tötungserlaubnis entgegensteht, um wieviel mehr muß dies dann gelten in einem Fall wie dem vorliegenden, wo von Notstand keine Rede sein kann, sondern nur von militärischem Kalkül?
Daß die kompromißlose Haltung des BVerfG im Falle Luftsicherheitsgesetz mit hoher Wahrscheinlichkeit auch das Aus für eine Regelung wie § 11 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 VStGB bedeutet, ist bald erkannt und diskutiert worden. Lesenswert ist hierzu besonders Ipsen, Menschenwürde und Waffeneinsatz mit Kollateralwirkung auf Zivilpersonen (NZWehrr 2008, 156). Ipsen kommt in seiner differenzierten Analyse zu dem Ergebnis, daß die völkerrechtliche Tötungserlaubnis als „zivilisatorischer Fortschritt“ vor der rigorosen Dogmatik des grundgesetzlichen Grundrechtsschutzes bewahrt werden müsse. Er vertuscht aber nicht, daß es ein steiniger Weg zu diesem Ergebnis ist; er versucht ihn zu erschließen über die Anerkennung einer „immanenten Schranke des Art. 1 Abs. 1 GG“.
Ob sich die Bundesanwaltschaft in ihrer – geheimen – Entscheidung mit der Frage auseinandergesetzt hat, ob die normative Lage, die sie ihrem obiter dictum zugrunde legt, verfassungsmäßig ist und sie nicht einfach für bare Münze genommen hat, darf angesichts der Pressemitteilung bezweifelt werden. Um so begrüßenswerter ist es, wenn die Opferanwälte nun – wie angekündigt – den Weg des Klageerzwingungsverfahrens beschreiten (§§ 171 ff. StPO). Dadurch wird geklärt werden können, ob das BVerfG bei seiner strengen Linie bleibt oder ob es Ipsen darin folgt, daß die Menschenwürde manchmal doch antastbar ist – wobei anders als damals kein abstrakter, sondern ein konkreter Fall zugrunde liegt.
In prozessualer Hinsicht ist zu bedenken, daß eine Vorlage des für das Klageerzwingungsverfahren zuständigen Oberlandesgerichtes an das BVerfG nach Art. 100 Abs. 1 GG nur erforderlich und sogar nur zulässig ist, wenn es § 11 Abs. 1 Nr. 3 VStGB aufgrund eigener Prüfung für verfassungswidrig hält. Anders liegt es aber bei den Vorschriften des „humanitären Konfliktsvölkerrechts“, das die Bundesanwaltschaft als bei der Anwendung des StGB in Bezug genommen betrachtet. Hier reicht gemäß Art. 100 Abs. 2 GG schon ein objektiver Zweifel über ihre Anwendbarkeit innerhalb des deutschen Rechts aus, um eine Vorlagepflicht zu begründen. Angesichts der BVerfG-Entscheidung zum Luftsicherheitsgesetz kann ein solcher objektiver Zweifel wohl nicht verneint werden.
Voraussetzung für eine solche verfassungsrechtliche Klärung ist allerdings in jedem Fall, daß sich, so wie es die Anwälte anstreben, durch weitere Ermittlungen ein hinreichender Verdacht feststellen läßt, daß die beschuldigten Bundeswehrsoldaten doch vorsätzlich in Bezug auf die Anwesenheit von Zivilisten gehandelt haben.
Liegt ein solcher Fall vor und scheidet aufgrund des Grundgesetzes eine Berufung auf eine Erlaubnis zu den Tötungen aus, so stellt sich letztlich die Frage, ob die Beschuldigten sich auf einen Erlaubnisirrtum (Verbotsirrtum, § 17 StGB) berufen können. Einfach ist diese Frage nicht zu beantworten. Gerade bei Kapitalverbrechen ist die Zubilligung eines Rechtsirrtums eine Rarität. Die Beschuldigten waren zwar in guter Gesellschaft, denn dem gleichen Verbotsirrtum unterlagen mehrheitlich die Mitglieder des Bundestages, als sie die Vorschrift des § 11 Abs. 1 Nr. 3 VStGB verabschiedet haben. Doch hat die bundesdeutsche Justiz nicht gerade wegen des Verstoßes gegen elementare Grundrechte Soldaten, die gutgläubig im Einklang mit den normativ-politischen Vorgaben ihres Landes töteten, die Berufung auf einen Verbotsirrtum abgeschnitten? So jedenfalls in den Strafverfahren gegen DDR-Grenzsoldaten (BGHSt 39, 1; BVerfGE 95, 96).