De legibus-Blog

25. September 2012

Machtkampf am BGH: „Mein persönliches Schicksal ist unerheblich“

Oliver García

Besetzungsstreit am Bundesgerichtshof. Noch ein Beitrag zu diesem Thema? Muß das sein? Ich dachte eigentlich auch, daß zu dem Thema schon alles gesagt wäre (siehe in diesem Blog etwa „Eskalation am BGH – die Nerven liegen blank“, „Wie der BGH gegen den BGH ermittelt“ sowie zahlreiche Beiträge in der Fachpresse). Doch dann stieß ich zufällig auf die Dokumentation von Schriftsätzen rund um den Besetzungsstreit, die das Strafverteidigerbüro Wuppertal zusammengestellt und veröffentlicht hat. Es handelt sich um die dienstlichen Erklärungen, die Mitglieder des 2. Strafsenats gemäß § 26 Abs. 3 StPO in den Ablehnungsverfahren abgegeben haben sowie um Anträge nach § 26 Abs. 3 DRiG beim Dienstgericht des Bundes, die zwei Mitglieder gestellt haben, um sich gegen Eingriffe in ihre richterliche Unabhängigkeit zu wehren.

Ein Hauch von 1843

In „Wie der BGH gegen den BGH ermittelt“ hatte ich spekuliert, ob wohl der Inhalt der dienstlichen Erklärungen tief blicken lassen würde, so tief, wie die Richter, die über die Ablehnungsgesuche zu befinden hatten, gar nicht blicken wollten. Und daß sie es vielleicht deshalb vorzogen, sich aus dem Fall zu stehlen mit einer abenteuerlichen, rechtlich unhaltbaren Differenzierung zwischen solchen Arten von Entscheidungen, zu denen Richter genötigt werden können, und solchen, zu denen sie es nicht können (eingehend hierzu auch die treffende Analyse von Groß-Bölting, Der zur Zuständigkeit genötigte Richter, ZIS 2012, 371; diese fatale Argumentation hat übrigens in Schleswig-Holstein schon Schule gemacht). Nun kann jeder selbst blicken, aber er sei gewarnt: Es ist kein schöner Anblick.

Der Leser erlebt bei der Lektüre, wie Richter, die vom Präsidium vorgeladen wurden, dort mit Vorwürfen überzogen („Ich bin entsetzt! Was haben Sie sich gedacht?“) und systematisch für ihre Rechtsprechung unter Rechtfertigungsdruck gesetzt wurden, während die Präsidialrichterin (die rechte Hand des BGH-Präsidenten in Verwaltungsangelegenheiten) akribisch alles mitschrieb, was gesprochen wurde (Antrag Eschelbach, Seite 18). Beantragte später ein Richter eine Abschrift dieses Protokolls, erhielt er nur ein Blatt mit der Angabe, daß eine Sitzung stattgefunden habe (Dienstliche Erklärung Fischer, 14. März 2012, Seite 8). Ähnlich die Szene, in der der Interimsvorsitzende des 2. Strafsenats, Ernemann, ein Schreiben des BGH-Präsidenten Tolksdorf an den 2. Strafsenat dessen Mitgliedern vorlas. Tolksdorf war aufgefordert worden, zu erklären, warum er sich heimlich die dienstlichen Erklärungen der Senatsmitglieder hatte beschaffen lassen. Tolksdorf zog es vor, nur über Ernemann, der auch sein Präsidiumskollege war, zu kommunizieren. Einige Senatsmitglieder baten Ernemann, ihnen das Schreiben in Kopie auszuhändigen. Dies wurde ihnen verweigert (Antrag Fischer, Seite 19).

Der Geist der preußischen Justiz des Jahres 1843 wehte durch den BGH – im Jahre 2012.

Fürsorglichkeit

In der Präsidiumssitzung vom 18. Januar 2012, über die Medien später mit dem Begriff „Inquisition“ in Verbindung gebracht, wurden – getrennt voneinander – die Richter Krehl, Eschelbach und Ott befragt. Die knapp zweistündige Befragung begann um 17:45 Uhr. Auf die Minute zur gleichen Zeit veröffentlichte ich meinen Beitrag „Eskalation am BGH“, nicht ahnend, daß gerade die nächste Stufe der Eskalation gezündet wurde. Die Anhörung von BGH-Richtern durch das Präsidium ist an sich nichts ungewöhnliches, sie ist sogar gesetzlich vorgesehen (§ 21e Abs. 2 GVG, siehe auch ein Kommentar von mir im Jurion-Blog im Sinne des Präsidiums). Aufgrund der nun zugänglichen Dokumente stellt sich aber heraus, daß – zur Überraschung und Verwirrung der angehörten Richter – die Anhörung gar nicht der Willensbildung des Präsidiums diente, ob der Geschäftsverteilungsplan, der von der Spruchgruppe 2 des 2. Strafsenats für rechtswidrig erklärt worden war, erneut geändert werden sollte. Denn in einer separaten Sitzung am Nachmittag desselben Tages hatte das Präsidium bereits einstimmig beschlossen, ihn nicht zu ändern. Die Anhörung hatte also den alleinigen Zweck, die Richter so zu „bearbeiten“, daß sie ihr (vom Präsidium vermutetes) Abstimmungsverhalten in einer Rechtsfrage, das zu dem Beschluß vom 11. Januar 2012 (2 StR 346/11) geführt hatte, änderten. Dazu paßt es gut ins Bild, daß sie nicht zusammen angehört wurden (eine Variante, die zu einer offenen Diskussion eher gepaßt hätte), sondern getrennt und hintereinander: auf diese Weise stiegen die Chancen des Präsidiums, das „schwächste Glied“ zu finden.

Man darf sich wohl die dadurch geschaffene Atmosphäre in der Sitzung durchaus als gespenstisch vorstellen. Mein persönlicher Höhepunkt dabei ist die fürsorgliche Erkundigung des Präsidiums, ob dem Richter denn damit geholfen wäre, den Senat zu wechseln (Dienstliche Erklärung Eschelbach, Seite 5). Man stelle es sich vor: Eine dem Präsidium nicht genehme Rechtsprechung wird über den Geschäftsverteilungsplan geändert. Da es in der gesamten Diskussion um die Doppelvorsitz-Lösung niemals darum gegangen war, daß Richter in ihren persönlichen Interessen betroffen wären, sondern ausschließlich um die Vereinbarkeit mit dem Anspruch der Prozeßbeteiligten auf den gesetzlichen Richter (Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG), konnte diese freundliche Anfrage nur einen Sinn haben: Dem Richter zu demonstrieren, daß das Präsidium über weitere Instrumente verfügt, wenn er nicht auf die Rechtsmeinung des Präsidiums umschwenkt. Der Richter antwortete schlagfertig: „Mein persönliches Schicksal ist unerheblich.“ Klingt pathetisch, traf aber den Punkt.

Die „Bearbeitung“ der Richter durch das Präsidium zeigte prompte Wirkung: Eschelbach, den das Präsidium verdächtigte, zu den „Andersdenkenden“ zu gehören (wegen des Beratungsgeheimnisses war es allen Richtern verwehrt, sich zu ihrem Abstimmungsverhalten zu äußern) nahm am 19. Januar 2012 – keine 24 Stunden nach der Anhörung im Präsidium – als Mitglied der Spruchgruppe 3 des 2. Strafsenats im Verfahren 2 StR 590/11 an einer Beschlußfassung teil, in der einstimmig in der Sache entschieden und damit auch inzident eine Fehlbesetzung verneint wurde. Entweder hatte das Präsidium Erfolg oder es hatte doch die „Andersdenkenden“ falsch identifiziert. Jedenfalls rückte die Spruchgruppe 2 erst mit Urteil vom 8. Februar 2012 von ihrer Meinung ab, daß sie wegen des aus ihrer Sicht fehlerhaften Geschäftsverteilungsplans an Sachentscheidungen gehindert sei.

Zwei Augen, vier Augen, zehn Augen

Die Dokumente enthalten auch viele weitere erhellende Details. Bekanntlich hat das BVerfG mit Beschluß vom 23. Mai 2012 (2 BvR 610/12, 2 BvR 625/12) entschieden, daß die Folgerungen, die die Spruchgruppe 2 aus dem Anspruch auf den gesetzlichen Richter zog, falsch seien. Seine Argumentation liegt weitergehend auf der Linie, die ich in „Eskalation am BGH“ vertreten hatte, wo ich den vom Präsidium beschlossenen Geschäftsverteilungsplan als rechtlich in Ordnung bezeichnete. Aber der Beschluß enthält darüber hinaus auch eine Argumentation, in der das BVerfG die Spruchgruppe 2 gewissermaßen abkanzelte. Diese hatte in ihrem ausführlich begründeten Beschluß vom 11. Januar 2012 mit der besonderen Praxis der Strafsenate des BGH argumentiert: Die Entscheidungsfindung durch die fünf zuständigen Richter kommt so zustande, daß nur der Berichterstatter und der Vorsitzende den Inhalt der Akten (insbesondere das Urteil der Vorinstanz und die Revisionsbegründung) kennen. In der Senatsberatung trägt der Berichterstatter den übrigen Richtern den Fall und seinen Lösungsvorschlag vor. Ein schriftliches Votum, das den Zuhörern helfen könnte, sich ausführlicher mit dem Fall (vor) zu befassen, gibt es nicht. Sie müssen darauf vertrauen, daß der Berichterstatter die tatsächlichen und rechtlichen Feinheiten des Falls vollständig durchdrungen hat. Lediglich die Aktenkenntnis des Vorsitzenden bietet ein gewisses Sicherheitsnetz dafür, daß wirklich alle Aspekte des Falles herausgearbeitet werden („Vier-Augen-Prinzip“). Die Rolle der Bundesanwaltschaft – dies steht nun nicht im BGH-Beschluß, aber sei hier ergänzt -, die sich ihrerseits mit dem Fall befaßt und einen Entscheidungsvorschlag unterbreitet hat, kann heutzutage kaum mehr als Sicherheitsnetz zugunsten eines Angeklagten angesehen werden. Ihre Praxis ist längst dazu übergegangen, fast reflexartig Revisionen von Angeklagten als „offensichtlich unbegründet“ anzusehen (siehe zur Entwicklung der „ou-Verwerfung“ Rosenau, ZIS 2012, 195; zur Praxis in den 1990er Jahren siehe Barton/Schubert, Die letzte Instanz: „Durch die Aktenanalyse stellte sich heraus, daß es Bundesanwälte gibt, die immer, und solche, die ’nur‘ in gut 70% der Fälle eine volle Verwerfung der Angeklagtenrevisionen beantragen.“). Wenn man noch hinzudenkt, daß der Gesetzgeber zwar für Fälle „einfacher Kriminalität“ drei Instanzen zur Verfügung stellt (Amtsgericht, Landgericht, Oberlandesgericht), aber für die „gehobene Kriminalität“ nur eine Überprüfungsinstanz, nämlich den BGH, vorsieht, dann wird klar, daß bei einem Zurücktreten sogar hinter die Linie des „Vier-Augen-Prinzips“ die Luft in Sachen Rechtsprechungsqualität besonders dünn wird.

Kein Wunder also, daß die Spruchgruppe 2 des 2. Strafsenats sagte, daß ein Geschäftsverteilungsplan, der dazu führt, daß ein Senatsvorsitzender faktisch nicht mehr die für einen wirksamen Rechtsschutz erforderliche Kontrollfunktion ausüben kann, nicht rechtmäßig sein kann.

Hier trat nun das BVerfG auf den Plan und belehrte die Spruchgruppe 2 des 2. Strafsenats, leicht auftrumpfend: In einem Kollegialgericht seien alle Richter gleichberechtigt und gleich verantwortlich. Deshalb müßten über den Sach- und Streitstand alle vollständig informiert sein, nicht nur der Berichterstatter und der Vorsitzende. Ob sich die Richter die erforderliche Kenntnis durch eigenes Aktenstudium oder allein durch den Vortrag des Berichterstatters verschaffen, sei ihnen aufgrund ihrer Unabhängigkeit freigestellt.

Wer die Entscheidung des BVerfG losgelöst von der Begründung der Spruchgruppe 2 des 2. Strafsenats liest, könnte den Eindruck bekommen, daß diese die formelle Vorsitzendenstellung aus statusrechtlichen Überlegungen heraus überschätzt und dabei die Rechtsprechungsqualität aus den Augen verloren hätte. Doch das Gegenteil ist der Fall, da diese vielleicht erstmals aus dem Anspruch auf den gesetzlichen Richter einen Anspruch auf ein hohes Rechtsprechungsniveau herausgearbeitet hatte. Nicht die Spruchgruppe 2 war unsensibel gegenüber dem Erfordernis, daß möglichst viele der für die Entscheidung verantwortlichen Richter sich mit dem Fall befassen, sondern das Präsidium: Wir können nun nachlesen, daß das Präsidium im Zuge seiner Bemühungen, sein Doppelvorsitz-Modell durchzudrücken, in einer Anhörung auf senatsinterne Regelungen hinwirkte, „wonach die Belastung des Vorsitzenden dadurch reduziert werde, daß dieser die Revisionsakten nur zum Teil lese“ (Dienstliche Erklärung Fischer, 14. März 2012, Seite 7). Wie solche Vorstellungen von „senatsinternen Regelungen“ mit der vom BVerfG reklamierten richterlichen Unabhängigkeit zum Aktenstudium durch alle (!) Richter, nicht nur den Vorsitzenden, in Einklang gebracht werden können, ist schleierhaft. Überhaupt ist die Argumentation des BVerfG reine Schaufensterjurisprudenz. Wäre sie ernst zu nehmen, müßte die Praxis nunmehr in allen fünf Strafsenaten des BGH erheblich umgestellt werden. Dazu wird es sicher nicht kommen (siehe zu diesen Fragen eingehend Fischer/Krehl, Strafrechtliche Revision, »Vieraugenprinzip«, gesetzlicher Richter und rechtliches Gehör, StV 2012, 550, hier bereits in „Zehnaugenprinzip“ aufgegriffen).

Richtig ist allerdings an der Entscheidung des BVerfG, daß der Grundsatz des gesetzlichen Richters als Verfassungsgrundsatz, d.h. oberhalb der Ebene seiner Ausformungen durch das einfache Recht, sehr elastisch ist. Eine Verfassung, die nicht einmal einen Anspruch auf eine zweite Instanz einräumt (BVerfG, Beschluß vom 30. April 2003 – 1 PBvU 1/02; anders übrigens Art. 2 Protokoll Nr. 7 zur MRK) und die, wenn es eine solche gibt, gegen Einzelrichterentscheidungen keine Einwände hätte – wie sollte sie sich mit Feinheiten aufhalten wie damit, ob in einem bestimmten Verfahren das „Zwei-Augen-Prinzip“, „Vier-Augen-Prinzip“ oder „Zehn-Augen-Prinzip“ zu gelten habe? Wenn hinzukommt, daß in der zuständigen Kammer der BVerfG-Präsident Voßkuhle sitzt, der es manchmal selbst nicht so genau nimmt mit dem Grundsatz des gesetzlichen Richters, dann war abzusehen, daß die Erwartungen der Spruchgruppe 2 des 2. Strafsenats an das BVerfG zu hoch gesteckt waren.

Die Auswahl der Arena

Nicht alles spielt sich im Äther des Verfassungsrechts ab – und das ist auch gut so. Die Grundsatzentscheidung des Großen Senats für Zivilsachen des BGH, in der die 75-Prozent-Regel für die Mindestmitwirkung eines Vorsitzenden Richters aufgestellt worden war (Beschluß vom 19. Juni 1962 – GSZ 1/61), hatte Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG nicht einmal erwähnt, obwohl es auch ihr um die Rechtsprechungsqualität ging. Die konkrete gesetzliche Ausgestaltung zur Qualitätssicherung in dieser Hinsicht findet sich (heute) in der einfach-gesetzlichen Vorschrift des § 21f GVG. Wenn nun die Spruchgruppe 2 des 2. Strafsenats meinte, die Fragestellung „verfassungsrechtlich veredeln“ zu müssen, so dürfte diese Hochstufung eher etwas mit dem prozessualen Ziel zu tun gehabt haben, das BVerfG zum Schiedsrichter im Streit mit dem Präsidium zu küren.

Dabei lag der richtige Schauplatz, wo die Meinungsverschiedenheit hätte ausgetragen werden können und müssen, auf der Hand: Anstatt am 8. Februar 2012 zu sagen, man sei falsch besetzt, entscheide aber trotzdem in der Sache (eine möglicherweise in die Entscheidung eingebaute Sollbruchstelle im Hinblick auf spätere Ablehnungsverfahren), wäre es für die Spruchgruppe 2 des 2. Strafsenats – und zwar bereits zu einem früheren Zeitpunkt – geboten gewesen, gemäß § 132 Abs. 2 GVG den Großen Senat für Strafsachen anzurufen. Eine Divergenz zwischen zwei Strafsenaten lag vor, da bereits am 11. Januar 2012 der 4. Strafsenat (der mit demselben Doppelvorsitzenden) die identische Rechtsfrage der Gültigkeit des Geschäftsverteilungsplans abweichend entschieden hatte (4 StR 523/11). Auf die Frage, ob § 132 Abs. 2 GVG bei einer Divergenz innerhalb eines Senats analog anzuwenden ist, kam es nicht einmal an. Übrigens sind alle Entscheidungen des 4. Strafsenats zwischen dem 12. Januar 2012 und dem 7. Februar 2012 (etwa in den Verfahren 4 StR 499/11, 4 StR 605/11 und 4 StR 493/11) unter Verstoß gegen § 132 Abs. 2 GVG ergangen.

Die vom 2. Strafsenat am 8. Februar 2012 für seine höchst ambivalente Entscheidung gegebene Begründung, daß anders den Verfahrensbeteiligten auf unabsehbare Zeit eine Sachentscheidung vorenthalten würde, traf deshalb nicht zu. Warum sollte die vom 2. Strafsenat bereits detailliert herausgearbeitete Rechtsfrage nicht in kurzer Frist vom Großen Senat (unter dem Vorsitz von Tolksdorf und mit Fischer und Ernemann als weitere von insgesamt elf Mitgliedern) zu entscheiden gewesen sein? Hätte der Große Senat sich in der Begründung oder auch nur im Ergebnis dem 2. Strafsenat angeschlossen, dann hätte sich mit Sicherheit das Präsidium dieser Entscheidung gebeugt. Im umgekehrten Fall wäre der 2. Strafsenat gemäß § 138 Abs. 1 Satz 3 GVG an die Entscheidung gebunden gewesen.

Maximalinvasiv

Nicht die Spruchgruppe 2 des 2. Strafsenats, sondern das Präsidium war es, das die formelle, nämlich statusrechtliche Vorsitzendenstellung überbewertete und dadurch den Konflikt auslöste. Es stellte den im wesentlichen dienstrechtlichen Gehalt des § 21f Abs. 1 GVG über die Belange der tatsächlichen Rechtsprechungsqualität. Um dieser Norm Genüge zu tun, schickte es Ernemann als eine Art Frühstücksdirektor in den 2. Strafsenat und schwächte dadurch gleichzeitig den Rechtsschutz der Revisionsführer (vor allem der Angeklagten) sowohl im 2. als auch im 4. Strafsenat. Das kann man schlicht als eine Schnapsidee bezeichnen. Wenn überhaupt eine geschäftsverteilungsplanmäßige Reaktion auf das Besetzungsdilemma nötig gewesen sein sollte, dann hätten andere, weniger „invasive“ Lösungen den Vorrang verdient. Die minimalinvasive Lösung unter dieser Prämisse, die noch dazu eine Aufwertung des Rechtsprechungsniveaus gebracht hätte, wäre es gewesen, wenn – wie in „Eskalation am BGH“ vorgeschlagen (so nun auch Antrag Eschelbach, Seite 23) – Tolksdorf selbst den Vorsitz im 2. Strafsenat übernommen hätte (§ 21e Abs. 1 S. 3 GVG). Daß aber mit Ernemann ausgerechnet ein Vorsitzender Richter, der sechs Monate später in Ruhestand geht, mit dem Doppelvorsitz betraut wird, so daß dann weitere Unruhe und Akklimatisationsbedarf ausgelöst werden, das kann man als Schnapsidee innerhalb einer Schnapsidee bezeichnen.

Schulterschluß

Die Auseinandersetzung zwischen der Spruchgruppe 2 des 2. Strafsenats und dem Präsidium war – auch wenn einem der Ausdruck widerstrebt – ein Machtkampf. Das Präsidium hielt sich für befugt, die Rechtmäßigkeit seiner Entscheidung selbst zu beurteilen und sie deshalb dem „renitenten“ Spruchkörper zu oktroyieren. Die Spruchgruppe 2 hielt – im Prinzip zu Recht – dagegen, daß nur die Rechtsprechung dafür da ist, in bindender Weise Rechtsfragen zu beantworten; und das Präsidium übt nun einmal keine Rechtsprechung aus. Sie hielt sich deshalb dem Präsidium für übergeordnet. Doch wenn das Präsidium an die Rechtsprechung gebunden ist, warum dann gerade an die der Spruchgruppe 2 des 2. Strafsenats und nicht an die gegenläufige der anderen Spruchgruppen des 2. Strafsenats und aller Spruchgruppen des 4. Strafsenats?

Den Machtkampf hat das Präsidium zwar gewonnen, dabei aber sein Gesicht verloren, wenn nicht gar seine Seele. Unter den zehn gewählten Mitgliedern fand sich kein einziges, das gegen die Mobbing-Methoden des vom BGH-Präsidenten orchestrierten Präsidiums Protest eingelegt hätte. Das Äußerste war es, wenn Mitglieder zu erkennen gaben, daß ihnen das Ganze unangenehm war (Antrag Eschelbach, Seite 24). Der Gesetzgeber hat das Präsidium als demokratisches und damit notwendig pluralistisch verfaßtes Gremium konzipiert. Beim BGH hat es, wenn es darauf ankommt, jedoch den Charme eines Politbüros.

Vielleicht hat dies etwas mit der Zusammensetzung des BGH-Präsidiums zu tun: Von seinen zehn gewählten Mitgliedern sind sieben Vorsitzende Richter am Bundesgerichtshof und drei (einfache) Richter am Bundesgerichtshof. Könnte das Übergewicht der Vorsitzenden Richter ein Schlüssel zur Erklärung der Unversöhnlichkeit sein, mit der der Konflikt ausgetragen wurde? Begünstigt möglicherweise die Ballung des höheren Amtsstatus eine kollektive Arroganz? Schafft sie, um einen der betroffenen Richter zu zitieren, eine irrige „auf Kontrolle und Gehorsam ausgerichtete, hierarchische Vorstellung von den Kompetenzen im Gericht“ (Antrag Eschelbach, Seite 34, und S. 35, wo von einem eingetretenen „unüberwindlichen Perseveranz-, Inertia- und Schulterschlusseffekt“ die Rede ist)?

Die Pointe hinsichtlich der Zusammensetzung des Präsidium ist, daß nach der bis Ende 1999 geltenden Rechtslage die Präsidien paritätisch zusammengesetzt waren: Die eine Hälfte der gewählten Mitglieder waren Vorsitzende, die andere einfache Richter. Durch das Gesetz zur Stärkung der Unabhängigkeit der Richter und Gerichte vom 22. Dezember 1999 (BGBl. I S. 2598) wurde dieses Blocksystem abgeschafft mit der Begründung, es handele sich um ein „Zweiklassensystem […], das undemokratisch ist und vor allem auch dem Grundsatz der Gleichwertigkeit der Richterämter […] widerspricht“ (Bundestags-Drucksache 14/979, S. 4). Der Gesetzgeber hielt es nicht für wünschenswert, wenn „die gewählten Vorsitzenden Richter des Gerichts zusammen mit den Gerichtspräsidenten stets die Mehrheit im Präsidium [haben], obwohl die Vorsitzenden Richter häufig nicht einmal ein Viertel der Richter eines Gerichts ausmachen“ (ebd.). Die vom Gesetzgeber angestrebte Demokratisierung ist jedenfalls beim BGH nach hinten losgegangen, wenn statt der undemokratischen Anzahl von fünf Vorsitzenden Richtern gegenwärtig deren sieben im Präsidium sitzen.

Ende dieses Jahres sind Wahlen beim BGH, bei denen turnusmäßig fünf neue Präsidiumsmitglieder gewählt werden (§ 21b Abs. 4 GVG). Vielleicht erlebt der BGH seine orangefarbene Revolution.

Nachtrag vom 11. Januar 2013

Auf Nachfrage teilte der Bundesgerichtshof mit, daß die Wahl zur Neubesetzung von fünf Sitzen im Präsidium am 4. Dezember 2012 stattfand. Wahlberechtigt waren 129 Mitglieder des Bundesgerichtshofs. Es wurden 127 Stimmzettel abgegeben, von denen 124 gültig waren (bei der letzten Wahl am 9. Dezember 2010 waren von 120 abgegebenen Stimmzetteln alle gültig).

Seit diesem Jahr veröffentlicht der Bundesgerichtshof die Zusammensetzung seines Präsidiums im Internet.

Während das Verhältnis zwischen Vorsitzenden und sonstigen Richtern unter den gewählten Präsidiumsmitgliedern vor der Wahl sieben zu drei war, ist es nun vier zu sechs.

Nachtrag vom 20. Februar 2013

Der SPIEGEL berichtet in seiner Ausgabe vom 18. Februar 2013 ausführlich über den Führungsstil von BGH-Präsident Tolksdorf und die Stimmungslage bei den Richtern am BGH. Der Beitrag geht auch auf die letzte Präsidiumswahl ein: Eine von „Tolksdorf-getreuen Senatsvorsitzenden“ aufgestellte Vorschlagsliste sei durchgefallen, während eine Oppositionsliste deutlich gewonnen habe.

Zitiervorschlag für diesen Beitrag:
https://blog.delegibus.com/2438

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    Pingback von Der Fall Gustl Mollath: Rosenkrieg und Versagen von Justiz & Psychiatrie IX | gabrielewolff — 19. Februar 2013 @ 01:38