1843: Oberlandesgericht Königsberg
Es begann 1841 mit „Vier Fragen beantwortet von einem Ostpreußen“, einer politischen Schrift des preußischen Arztes Johann Jacoby, anonym veröffentlicht in Mannheim, in ganz Deutschland verbreitet und vom Bundestag alsbald verboten. In dieser Situation – die Polizei fahndet nach dem anonymen Unruhestifter – tritt Jacoby hervor und schickt dem preußischen König Friedrich Wilhelm IV. mit einer höflichen Autorenwidmung ein Exemplar.
Jacoby wurde angeklagt und vom Criminal-Senat des Kammergerichts am 5.4.1842 zu zweieinhalb Jahren Festungsstrafe und Entzug des Rechts zum Tragen der preußischen Nationalkokarde verurteilt – wegen Majestätsbeleidigung (Teil 2, Titel 20, § 196 des Allgemeinen Landrechts) und frechen, unehrerbietigen Tadels der Landesgesetze (Teil 2, Titel 20, § 151 des Allgemeinen Landrechts).
Er ging in Berufung und verteidigte sich vor dem Ober-Apellations-Senat des Kammergerichts abermals selbst. Der Senat unter Vorsitz des Wirklichen Geheimrats Wilhelm Heinrich von Grolman sprach Jacoby am 19.1.1843 in vollem Umfang frei.
Bis hierher haben diese geschichtlichen Ereignisse, aufgrund derer Jacoby später als der „Schöpfer des politischen Lebens in Preußen“ bezeichnet worden ist, noch nichts mit dem Thema dieses Beitrags zu tun. Der kuriose Teil dieser Justizgeschichte beginnt erst jetzt und er erinnert an die Justizempörung von Kleists Kohlhaas in ihrer noch friedlichen Phase.
Jacoby begehrte, die Entscheidungsgründe für seinen Freispruch zu erfahren. Dies wurde ihm jedoch von dem Chefpräsidenten des OLG Königsberg, Friedrich von Zander, verweigert (die Beamten des Oberlandesgerichts dürften nach heutigen Kategorien die Rolle der Staatsanwaltschaft gehabt haben, vgl. § 147 Abs. 5 Satz 1 StPO). Daraufhin wandte sich Jacoby an den Justizminister, Heinrich Gottlob von Mühler. Dieser sollte das Königsberger Gericht anweisen, die Urteilsgründe herauszugeben. Dabei erinnerte er den Minister an eine öffentliche Äußerung, die dieser selbst getan hatte:
„Ew. Excellenz haben offenes Gericht als ein ‚begründetes Bedürfniss des Volkes‘ […] anerkannt.“
Zwei Monate später erhielt Jacoby die Antwort, nicht vom Minister selbst, sondern vom OLG Königsberg: Der Minister habe entschieden, daß dem Freigesprochenen ein Recht auf Mitteilung der Entscheidungsgründe nicht zustehe. Er könne aber eine Ausfertigung der Erkenntnisformel beantragen und werde diese erhalten.
Jacoby aber wollte sich mit der Urteilsformel, die er bereits kannte („wird freigesprochen“), nicht zufrieden geben und wandte sich nunmehr mit einem langen, juristisch stichhaltigen Schreiben direkt an den König. Er führte aus, daß es zum einen keine Rechtsgrundlage dafür gebe, ihm die Gründe seines Freispruchs vorzuenthalten und zum anderen ihm nicht einmal der Grund dieser Vorenthaltung bekannt gemacht wurde. Deshalb bat er – „vertrauend der erhabenen Gerechtigkeit meines Königes“:
„Ew. Majestät möge zu befehlen geruhen, dass mir eine vollständige Abschrift des wider mich ergangenen Erkenntnisses ausgefertigt werde.“
Die Eingabe an die Allerhöchste Stelle blieb nicht ohne Wirkung: Der Justizminister wies das Oberlandesgericht an, daß dem Freigesprochenen die Urteilsgründe vorgelesen werden dürfen. Hierbei müßte aber sorgsam verhindert werden, daß dabei mitgeschrieben werde. Gegen diese Einschränkung richtete Jacoby noch einmal ein Gesuch an den König. Als das Justizministerium ihm aber mitteilte, daß seine „untertänigste Bitte“ endgültig abgelehnt worden war, ließ Jacoby vom Oberlandesgericht einen Verlesungstermin anberaumen.
Bei diesem Termin kam es zu einem kleinen Eklat: Jacoby begann nämlich, sich Notizen zu machen. Als der mit der Verlesung betraute Strafrichter dies bemerkte, drohte er, den Termin zu beenden. Jacoby protestierte: er notiere nicht den Wortlaut des Urteils, sondern mache sich nur Notizen zur Gedächtnisstütze. Eine Einigung kam nicht zustande. Es wurde ein Protokoll darüber aufgenommen, daß der Richter gedroht und Jacoby protestiert habe, und die Verlesung wurde fortgesetzt.
Gleichwohl gelang es Jacoby, ein umfangreiches Gedächtnisprotokoll von dem Urteil zu erstellen, wobei er wichtige Passagen als besonders verläßlich kennzeichnete, weil er sich diese zweimal hatte vorlesen lassen. Das Urteil in dieser Form, zusammen mit dem Schriftwechsel, der zu der kuriosen Vorlesung am OLG Königsberg geführt hatte, veröffentlichte er kurz darauf in der von Karl Marx mitherausgegebenen (einzigen) Ausgabe der Deutsch-Französischen Jahrbücher in Paris (Jahrgang 1844, S. 45-70), gleich hinter einem ebenso realsatirischen Gedicht von Heinrich Heine.
Ein Jahr später treffen der König (eben der, der 1848 in Berlin auf das Volk schießen ließ und für die Märzgefallenen weder vor ein innerstaatliches Gericht noch vor einen Internationalen Strafgerichtshof gestellt wurde) und Kammergerichtspräsident von Grolman bei einem gesellschaftlichen Anlaß zusammen. Der König fragt den Richter, warum dieser damals Jacoby nicht eingesperrt habe. Von Grolman antwortet sinngemäß „Il y a des juges à Berlin, Majestät.“ Daraufhin legt ihm der König den Rücktritt nahe, den der Gerichtspräsident später auch einreicht.
Das Verhältnis zwischen Johann Jacoby und Friedrich Wilhelm IV. blieb gespannt: Am 3.11.1848 machte eine Delegation der Preußischen Nationalversammlung dem König in Schloß Sanssouci ihre Aufwartung. Die Abgeordneten verlesen und überreichen ihre Forderung nach Ablösung der konservativen Regierung. Der König läßt dies wortlos über sich ergehen und schickt sich an, den Empfangssaal zu verlassen. Da tritt Johann Jacoby, Mitglied der Delegation, hervor und – Eklat! – stellt den König zur Rede. Er will, daß der König mit der Delegation über die Lage im Lande diskutiert. „Gestatten Eure Majestät uns Gehör?“ Der sagt Nein und wendet sich um. Jacoby ruft ihm die historisch gewordenen Worte hinterher: »Das ist das Unglück der Könige, daß sie die Wahrheit nicht hören wollen!« (siehe Uwe Wesel, Die Prophezeiung des Doktor Jacoby).
2011: Bundesverwaltungsgericht
Auch die folgende Justizgeschichte nimmt auf höchster politischer Ebene ihren Anfang. Am 27.1.2006 bestellt Bundespräsident Horst Köhler den Bundesminister der Verteidigung, Franz Josef Jung, zu einem Gespräch auf Schloß Bellevue ein. Der Bundespräsident möchte sich vom Minister persönlich unterrichten lassen über einen politischen Vorgang, der seit einigen Tagen auf den Fluren des Bundestages und in den Medien Furore macht. Der Minister hatte nämlich entschieden, zwei hochrangige Offiziere der Bundeswehr zu entlassen (oder – juristisch genauer – in den einstweiligen Ruhestand zu versetzen). Es handelt sich um Generalleutnant Hans-Heinrich Dieter, der als Stellvertreter des Generalinspekteurs der Bundeswehr und Inspekteur der Streitkräftebasis zu den drei ranghöchsten deutschen Soldaten gehört (an der Spitze der militärischen Hierarchie steht der Generalinspekteur der Bundeswehr, damals General Wolfgang Schneiderhan, beigeordnet sind ihm zwei Stellvertreter) sowie um Generalleutnant Jürgen Ruwe, den Stellvertreter des Inspekteurs des Heeres.
Die beiden Generäle, so erläutert der Minister dem Bundespräsidenten, stünden unter hinreichendem Verdacht, sich schwerer Dienstvergehen schuldig, ja vielleicht sogar strafbar gemacht zu haben. Das Vertrauen in eine einwandfreie Amtsführung durch diese hochrangigen, politiknahen Offiziere sei jedenfalls in einem Maße beschädigt, daß er, der Minister, den Bundespräsidenten ersuche, sie gemäß § 50 Abs. 1 SG, Art. 60 Abs. 1 GG in den einstweiligen Ruhestand zu versetzen.
Die vom Grundgesetz vorgesehene Zuständigkeit des Bundespräsidenten für die Entlassung eines Soldaten auf Ersuchen durch den Bundesminister der Verteidigung ist normalerweise eine Formsache, hat doch der Bundespräsident nach der Konzeption des Grundgesetzes keine politische Kontrollfunktion. Deshalb dürfte Jung davon ausgegangen sein, daß sein Ersuchen, das er am 25.1.2006 dem Bundesoberhaupt übermittelt hatte, ohne weiteres in eine von diesem unterzeichnete Zurruhesetzungsurkunde münden würde. Doch in diesem Fall hatte Bundespräsident Köhler allen Anlaß, den ungewöhnlichen Schritt zu gehen, sich vom Minister vortragen zu lassen. Denn in politisch beteiligten Kreisen wurde geraunt, daß im Ministerium in diesem Fall ein falsches Spiel gespielt wurde, daß hier etwas zum Himmel stank.
Alles hatte drei Monate zuvor begonnen, Ende Oktober 2005, zu einem Zeitpunkt also, in dem das Bundesverteidigungsministerium noch nicht von Jung, sondern von Peter Struck geleitet wurde. Doch dieses Detail zunächst nur am Rande. Generalleutnant Hans-Heinrich Dieter erhielt in seiner Funktion als höhere Einleitungsbehörde Meldung von disziplinaren Vorermittlungen mit dem Schauplatz Bundeswehruniversität Hamburg. Der General war gleich aus drei Gründen alarmiert: Zum ersten, weil es in dem Fall um den Vorwurf von neonazistischen Umtrieben in einer Offiziersschmiede der Bundeswehr ging und die Ermittlungen offenbar nicht vorankamen. Zum zweiten, weil der junge Leutnant, gegen den ermittelt wurde, der Sohn von Generalleutnant Jürgen Ruwe war und wegen der personellen Verbindung mit der Generalität der Bundeswehr bei einem Bekanntwerden des Falles das Bild der Streitkräfte in der Öffentlichkeit um so gefährdeter war. Zum dritten, weil Hans-Heinrich Dieter und Jürgen Ruwe eine enge Bekanntschaft verband.
Generalleutnant Dieter schaltete deshalb seinen Vorgesetzten ein, Generalinspekteur Schneiderhan (den, wie gesagt, obersten Soldaten der Bundeswehr) und besprach den Fall mit ihm. Die Generäle erörterten, ob der Fall eine Brisanz habe, der eine „Leitungsvorlage“, d.h. eine Meldung an die politische Spitze (die Staatssekretäre und den Minister) rechtfertigte. Dies wurde zunächst zurückgestellt. Dieter sagte aber Schneiderhan, er wolle mit Ruwe sprechen, damit dieser auf seinen Sohn einwirke, um die hängenden disziplinaren Ermittlungen voranzubringen. Schneiderhan hatte dagegen keine Einwände. Tags darauf kamen Dieter und Ruwe zusammen und besprachen den Fall. Ruwe war, von Seiten seines Sohns, über das Vorliegen von Ermittlungen schon im Bilde und war bereit, das Anliegen Dieters, daß diese Ermittlungen gemäß den gesetzlichen Vorgaben beschleunigt werden sollten, zu unterstützen. Er gab aber zu bedenken, daß er für ein förderndes Gespräch mit seinem Sohn überhaupt wissen müsse, welche konkreten Vorwürfe nun im Raume stünden. Dieter gab ihm recht und sagte ihm zu, zu prüfen, welche Informationen er an ihn weitergeben könne. Am selben Tag wandte sich Dieter deshalb erneut an Schneiderhan, berichtete ihm von dem Gespräch und äußerte, daß er Ruwe den „Sachstandsvermerk zu den Vorermittlungen“ aus den bekannten Gründen zur Verfügung stellen würde. Schneiderhan hatte dagegen keine Einwände.
Ruwe besprach auf Grundlage des ihm zur Verfügung gestellten Vermerks den Fall mit seinem Sohn, wobei er ihm insoweit Einblick gewährte, als es die Vorwürfe gegen diesen betraf. Er berichtete Dieter später schriftlich von dem Ergebnis dieses Gesprächs. Dieter erfuhr irritiert, daß sich in der Sache von Seiten der Wehrdisziplinaranwaltschaft monatelang nichts gerührt hatte. Er ließ vom Rechtsberater des Inspekteurs der Streitkräftebasis vorsorglich die mit Schneiderhan diskutierte Leitungsvorlage ausarbeiten. Die weitere juristische Prüfung im Ministerium ergab jedoch, daß es ratsam sei, zunächst den Fortgang der Ermittlungen durch den Wehrdisziplinaranwalt abzuwarten, so sie denn zügig erfolgten. Davon unterrichtete Dieter wiederum Generalinspekteur Schneiderhan.
Die soeben geschilderten Vorgänge decken den Zeitraum vom 19.10.2005 bis 4.11.2005 ab. Am 16.12.2005 erreichte Dieter und Ruwe die Nachricht, daß von Seiten einer (anderen) Wehrdisziplinaranwaltschaft Ermittlungen gegen sie aufgenommen worden waren. Vorwurf: Weitergabe eines vertraulichen Vermerks. Es folgten Vernehmungen der beiden Generalleutnante, an denen diese ohne juristischen Beistand teilnahmen, da sie nicht ernsthaft glaubten, ihr Verhalten könne eine Dienstverletzung sein, und sie von einem leicht aufzuklärenden Mißverständnis des Hergangs ausgingen.
In der Zwischenzeit hatte im Zuge der Abwahl der rot-grünen und Konstituierung der großen Koalition ein Wechsel im Amt des Bundesverteidigungsministers stattgefunden. Am 22.11.2005 war Peter Struck (SPD) von Franz Josef Jung (CDU) abgelöst worden. Und es gab einen weiteren Wechsel in der politischen Spitze des Ministeriums: Am 16.12.2005 ersetzte Jung den bisherigen beamteten Staatsekretär Klaus-Günther Biederbick durch Peter Wichert. Wichert war bereits von 1991 bis 2000 Staatssekretär, ein alter Hase im Ministerium also, ganz im Gegensatz zu Jung selbst, der bisher verteidigungspolitisch noch nicht in Erscheinung getreten war (er war 2005 erstmalig in den Bundestag gewählt worden, konnte also auch nicht im Verteidigungsausschuß Erfahrungen sammeln). Es begann eine Zeit, in der Wichert das Ministerium faktisch leitete, befand sich doch Jung bis 9.1.2006 auch noch im Urlaub.
Die Generalleutnante sind zu diesem Zeitpunkt überzeugt von der Geringfügigkeit, wenn nicht Haltlosigkeit der Ermittlungen gegen sie. Denn weder Schneiderhan, Wichert noch Jung besprechen den Fall mit ihnen auch nur einmal. Dieter fährt deshalb wie jedes Jahr am 22.12.2005 für zwei Wochen arglos in Urlaub. Doch die Ruhe täuscht. Staatssekretär Wichert beginnt, im Hintergrund virtuos auf der Klaviatur der ministerialen Personalpolitik zu spielen: Er gibt eine Ministervorlage zur Anwendung des § 50 SG in Auftrag, die am 28.12.2005 vorliegt und sofort von Wichert und dem Leiter der Personalabteilung, Wilmers, unterschrieben wird. Von den Ermittlungen der Wehrdisziplinaranwaltschaft gibt es zu diesem Zeitpunkt noch keine Neuigkeiten, der Minister selbst ist im Urlaub. In Anbetracht des Fehlens des Ministers trägt Wichert den Fall und seine Lösungsabsicht statt dessen der Vorsitzenden des Verteidigungsausschusses des Bundestages und dem Wehrbeauftragten vor. Wie Ruwe später vermutet: Allein zu dem Zweck, für den später aus dem Urlaub zurückgekehrten Minister vollendete Tatsachen zu schaffen.
In einem einstündigen dienstlichen Gespräch am 6.1.2006 zwischen Wichert und Ruwe, der – anders als Dieter – nicht in Urlaub ist, erwähnt Wichert weder die Diszplinarangelegenheit noch seine auf Hochtouren laufenden Unternehmungen, Ruwe und Dieter ihrer Ämter zu entheben.
Am 9.1.2006 kehrt Minister Jung aus dem Urlaub zurück. Er wird von Wichert über die Vorgänge mündlich unterrichtet: Es drohe ein peinliches Disziplinarverfahren gegen die ranghohen Generalleutnante und dieses könne durch eine politische Lösung, nämlich die Anwendung von § 50 SG, vermieden werden. Verteidigungsausschuß und Wehrbeauftragter seien schon auf dem Laufenden. Der Minister zögert jedoch noch.
Am 20.1.2006 sickert der Fall zu den Medien durch. „Der Spiegel“ hat Wind davon bekommen (über wen, ist nicht bekannt), daß in höchsten Militärkreisen angeblich gekungelt würde, um den vermeintlich rechtsradikalen Sohn eines Generals zu decken. Der Spiegel-Mitarbeiter arbeitet mit journalistischer Sorgfalt und holt vor der Veröffentlichung eine Stellungnahme bei Ruwe ein. Dadurch kann Ruwe der grob entstellenden Darstellung die Spitze nehmen. In entsprechend entschärfter Form erscheint die Meldung natürlich trotzdem („Der Staatssekretär Peter Wichert hat dem Ministeriums-Neuling Ende voriger Woche empfohlen […]“). Der Druck auf den Neuling Jung ist damit perfekt.
Ruwe wendet sich in dieser Situation brieflich an Jung, mit der Bitte, in einer persönlichen – überhaupt ersten – Unterredung den Fall aus seiner Sicht darstellen zu dürfen. Jung ignoriert das Schreiben (falls es ihn überhaupt je erreichte). Er fertigt statt dessen die Zurruhesetzungsurkunden aus und übermittelt sie dem Bundespräsidenten.
Als Jung zwei Tage darauf Köhler auf Schloß Bellevue gegenüber sitzt und ihm erklären soll, wieso es erforderlich ist, zwei bislang hochangesehene Generäle auf die vorgesehene Weise zu desavouieren, gelingt ihm dies – gestützt allerdings einzig auf die Wahrheiten, die ihm sein Staatssekretär Wichert zur Verfügung gestellt hatte. Köhler unterschreibt.
Tags darauf, am 27.1.2006, stehen die Generalleutnante – in getrennten Zeremonien – Jung, Wichert und Schneiderhan ein letztes Mal gegenüber – zur Überreichung der Urkunden, zur „feierlichen“ Verabschiedung. Bei dieser Gelegenheit war Jung erstmalig bereit, ein klärendes Gespräch mit Dieter zu führen. Ein solches Angebot des Ministers vor den anderen beiden Herren – keiner der Drei hatte zuvor mit ihm über die gegen ihn erhobenen Vorwürfe gesprochen – mußte Dieter wie Hohn vorkommen. Er verließ das Ministerium, ohne die Drei eines Abschiedsgrußes zu würdigen.
Es ist an dieser Stelle angebracht, darauf hinzuweisen, daß die vorstehende Darstellung im wesentlichen auf den chronologischen Berichten beruht, die Dieter und Ruwe selbst veröffentlicht haben (Quelle Dieter, Quelle Ruwe). Ich habe keinen Grund, an der Wahrheit dieser Berichte zu zweifeln. Die Generäle haben naturgemäß viel Subjektives zu dem Fall zu sagen und das tun sie auch. Doch sie haben die nüchterne Beschreibung der Vorgänge von ihren Wertungen getrennt und erstere sind in sich in jeder Hinsicht kohärent, plastisch und nicht berechnend. Und was hinzukommt: Sie stimmen inhaltlich nicht nur mit den Medienberichten über den Fall überein, sondern auch mit den Gerichtsentscheidungen, die sich anschlossen. Dort sind keine abweichenden Feststellungen getroffen worden. Und von Seiten des Ministeriums oder der anderen beteiligten Personen gibt es keine abweichenden Darstellungen (nur abweichende Bewertungen).
Es stellt sich die Frage, was denn überhaupt der Grund für diese zutiefst irritierende Vorgehensweise von Wichert, Schneiderhan und Jung war. Diese Frage kann ich nicht beantworten, sondern nur die Vermutung der beiden Generäle wiedergeben, daß sie für pointiert vertretene Auffassungen zu einigen Fragen der Neustrukturierung der Bundeswehr bekannt waren, die sie der neuen Leitung des Ministeriums als unbequem erscheinen ließen und daß der Anlaß günstig war, sich ihrer zu entledigen, ohne daß diese Sachfragen auch nur Aufmerksamkeit bekämen.
Die juristische Situation ist nun folgende: Die Generäle wurden verabschiedet aufgrund einer Vorschrift (§ 50 Abs. 1 SG), die allein auf politische Zweckmäßigkeit abstellt und keinerlei Fehlverhalten der Betroffenen voraussetzt. Offiziell wurde jedoch ein solches Fehlverhalten als Grund genannt. Das heißt: Obwohl die Verabschiedung in ihrer juristischen Bedeutung eine ehrenvolle war, mußte sie unweigerlich vor der Truppe und der Öffentlichkeit als eine unehrenhafte Entlassung erscheinen. Völlig verständlich also, daß Dieter und Ruwe diese Schmähung nicht auf sich sitzen lassen wollten. Und so entschieden sie sich, juristisch um die Wiederherstellung ihrer Ehre zu kämpfen. Doch wie soll das funktionieren, wenn der Ehrverlust und die bürokratischen Maßnahmen, die gerichtlich einzig angegriffen werden können, unverbunden nebeneinander stehen? Was folgte, war ein juristischer Zweifrontenkrieg:
Zum einen wollten die Generäle die Frage der ihnen vorgeworfenen Pflichtverletzung klären lassen. Sie hatten von Anfang an eingeräumt, daß sie einen Fehler begangen hatten, nämlich den weitergegebenen Vermerk nicht hinsichtlich Dritter anonymisiert zu haben. Daß dieser Fehler aber keine soldatische Pflichtverletzung war. Nach Darstellung der (neuen) Ministeriumsspitze sollte ihr Verhalten aber eben eine solche gewesen sein, und zwar in solchem Maße, daß sie sogar den Bereich der Strafbarkeit streifte und jedenfalls ein Verbleiben im Amt ausschlösse (was übrigens bedeuten würde, daß Generalinspekteur Schneiderhan, der in alle Vorgänge einbezogen war, dieselbe Pflichtverletzung begangen hatte). Deshalb bestanden die Generäle auf der Durchführung eines gerichtlichen Disziplinarverfahrens (§ 95 WDO). Bundesminister Jung verweigerte ihnen dies und ließ die disziplinarischen Vorermittlungen einstellen. Immerhin kam er ihnen aber so weit „entgegen“, daß er das Vorliegen eines Dienstvergehens förmlich feststellte. Dies gab den Generälen die Möglichkeit, vor dem Bundesverwaltungsgericht diese Feststellung anzugreifen (§ 92 Abs. 4 WDO).
Allerdings waren diese Verfahren von vornherein nicht geeignet, den eigentlichen Streitpunkt zu klären. Denn da es sich nicht um Disziplinarverfahren handelte, war vom BVerwG über die Schwere des Vergehens nicht zu entscheiden (und es war doch die Schwere, die angeblich die politische Entscheidung des § 50 SG auslöste). Und eine Wiedereinstellung in den aktiven Dienst war auf diesem Weg erst recht nicht zu erreichen. Die Feststellungsklagen boten dem Gericht nur Anlaß für eine schematische Subsumtion unter den Tatbestand des § 14 SG (Verschwiegenheitspflicht).
Die drei Richter des 2. Wehrdienstsenats des Bundesverwaltungsgerichts hielten es für richtig, die Verfahren auf dem Beschlußwege zu erledigen (§ 80 Abs. 3 Satz 1 Halbsatz 2 WDO), d.h. aufgrund Aktenlage, ohne Beweisaufnahme und ohne Hinzuziehung von ehrenamtlichen Richtern (in diesem Fall: Kameraden im Generalsrang, § 75 Abs. 2 WDO). So war gewährleistet, daß die Subsumtion besonders seelenlos ausfallen würde. Und so kam es, daß die drei Richter des Bundesverwaltungsgerichts mit Beschlüssen vom 4.4.2007 (Fall Dieter: 2 WDB 6.06, Fall Ruwe: 2 WDB 7.06) die Auffassung des Bundesverteidigungsministeriums, daß gegen die Verschwiegenheitspflicht verletzt worden sei, bestätigten.
Zu dem eigentlichen Kern des Falles drang die Subsumtionsautomatik des BVerwG nicht durch, nämlich daß es gar nicht um die Frage des Ob eines Dienstvergehens ging, sondern um die Art und Weise, wie die Ministeriumsspitze ein solches, wenn es denn vorlag, instrumentalisierte. Es war interessanterweise das Bundesverfassungsgericht, das, auf eine Verfassungsbeschwerde von Ruwe hin, erstmals auf diesen Punkt einging und zu einer Subsumtion unter das allgemeine Persönlichkeitsrecht (d.h. die Ehre des Generals) ansetzte (Beschluß vom 7.1.2008 – 2 BvR 1093/07):
Insbesondere soll [der Einzelne] vor verfälschenden oder entstellenden Darstellungen seiner Person in der Öffentlichkeit geschützt werden, die von nicht ganz unerheblicher Bedeutung für die Persönlichkeitsentfaltung sind. Das allgemeine Persönlichkeitsrecht umfasst auch den Schutz der persönlichen Ehre.
Aber auch die Verfassungsbeschwerde blieb erfolglos. Sinngemäß sagte das BVerfG: „Es tut uns leid, hier können wir nichts für Sie tun. Angegriffen ist nur der Beschluß des BVerwG. Dieser erschöpft sich in einer Auslegung und Anwendung von § 14 SG und als solcher führt er selbst keine Ehrverletzung herbei.“
Von der kürzlich verstorbenen DDR-Bürgerrechtlerin Bärbel Bohley stammt der Ausspruch „Wir wollten Gerechtigkeit und bekamen den Rechtsstaat“. Die Erfahrung, daß diese beiden Konzepte zusammenhängen, sich aber nicht decken, mußten nun auch Dieter und Ruwe machen.
Doch der Fall zeigt noch ein Weiteres auf: Daß es auch einem anerkannten Rechtsstaat nicht gelingt, das zu verhindern, was man unter dem Stichwort „selektive Justiz“ der gegenwärtigen Staatsspitze Rußlands gegenüber anprangert: Der Fall Michail Chodorkowski ist der prominenteste und sicher nicht einzige Fall dieser Kategorie. Der Ex-Magnat war angeklagt worden und wird weiterhin angeklagt, diverse Wirtschaftsverbrechen begangen zu haben. Der Skandal, den die Welt darin sieht, ist nicht, daß sie von seiner Unschuld überzeugt ist (er mag im Sinne der Anklage unschuldig sein oder nicht). Der Skandal liegt darin, daß seine etwaigen Vergehen dieselben sind, die alle anderen russischen Oligarchen begangen haben. Daß aber gerade gegen ihn vorgegangen wurde in einem Zeitpunkt, in dem er sich gegen die Politik des Kremls aussprach und sich anschickte, eine politische Opposition zu organisieren. Vor diesem Hintergrund ist die Frage, ob er schuldig ist oder nicht, nicht die Frage, die für die Bewertung von Bedeutung ist.
Und ebenso ist es nicht die Frage, ob im Falle Dieter/Ruwe ein Verstoß gegen § 14 SG vorliegt (der gegebenenfalls als Sanktion einen „Verweis“, § 22 WDO, verdienen würde), die den Fall kennzeichnet. Es ist die Verpackung eigentlicher Motive in eine rechtliche Hülle. Außen Wahrheit, innen Lüge!
Das zweite Verfahren der beiden Generäle in ihrem juristischen Zweifrontenkrieg gibt hierfür ein weiteres Beispiel ab: Sie klagten vor dem VG Köln unmittelbar gegen ihre Absetzung durch den Bundespräsidenten. Tragendes Argument war hierbei folgendes: Ihnen war zu keinen Zeitpunkt Gelegenheit gegeben worden, den Fall aus ihrer Sicht darzustellen. Auf diese Weise hätten sie nämlich aufklären können, daß in der Vorlage des Bundesverteidigungsministers an den Bundespräsidenten wesentliche Aspekte unterschlagen worden seien. Die Entscheidung des Bundespräsidenten beruhe also auf unzureichender Kenntnisgrundlage und kranke an dem Verfahrensfehler unterlassener Anhörung (sei es in Anwendung von § 28 VwVfG oder von § 12 SG [Kameradschaft]). Davon wollte das Verwaltungsgericht nichts hören und erklärte in seinen Urteilen vom 21.12.2007, daß im Sonderfall von § 50 SG eine Anhörung nicht erforderlich sei (Fall Dieter: 27 K 746/06, Fall Ruwe: 27 K 840/06). Und bezeichnend ist die Antwort, die das Verwaltungsgericht auf das Argument gab, der in der Öffentlichkeit vorgeschobene vermeintliche Pflichtenverstoß sei nicht der wahre Grund für das Ersuchen Jungs an den Bundespräsidenten gewesen:
Denn Verfahrensgegenstand ist hier nicht die eventuelle (weitere) Motivationslage des Verteidigungsministers bei seiner Entscheidung.
Auch der geneigteste Leser dieser Nacherzählung eines Jahre zurückliegenden Ereignisses wird langsam ungeduldig und fragt sich zu Recht: „Und was hat das Ganze mit dem Thema ‚Geheimjustiz‘ zu tun?“. Dieser Teil der Geschichte kommt nun und ich hoffe, aus den folgenden Ausführungen wird erklärlich, warum die breite Darstellung der Vorgeschichte berechtigt war.
Dieter und Ruwe, gekränkt durch das Versagen des Rechtsstaats, kämpften weiter um Genugtuung, wenigstens auf Nebenkriegsschauplätzen. Sie begehrten Unterstützung durch den Bundestag, stellten Strafanzeigen, wandten sich an Justizminister, an Datenschutzbeauftragte. Vor ein paar Monaten bemerkten sie, daß eine der Entscheidungen des Wehrdienstsenats, der ihre Anträge zurückgewiesen hatte, im Internet in der amtlichen Datenbank des Bundesverwaltungsgerichts veröffentlicht war. Daneben war auch die damalige Pressemitteilung des Gerichts zugänglich, die zwar eine inhaltlich korrekte Kurzfassung des Beschlusses gab, die aber den Generälen ein besonderer Dorn im Auge ist, weil sie vermuten, daß sie Ausgangspunkt war für die völlig entstellende Schlagzeile „Jung entließ Generäle zu Recht“ in der FAZ vom 27.04.2007.
Einer der beiden Generäle wandte sich deshalb an das Bundesverwaltungsgericht mit der Bitte, den Beschluß und die Pressemitteilung aus dem Internetauftritt zu entfernen. Ihre Veröffentlichung sei rechtswidrig. Grundlage für diese Beurteilung ist offenbar § 9 WDO, der – soweit hier von Interesse – auszugsweise lautet:
§ 9. Auskünfte. (1) […] Mitteilungen über Ermittlungen des Disziplinarvorgesetzten, über Vorermittlungen des Wehrdisziplinaranwalts und über gerichtliche Disziplinarverfahren sowie über Tatsachen aus solchen Verfahren werden ohne Zustimmung des Soldaten oder des früheren Soldaten nur erteilt
1. an Dienststellen im Geschäftsbereich des Bundesministeriums der Verteidigung, an Gerichte und Staatsanwaltschaften, soweit dies zur Erfüllung der in der Zuständigkeit des Empfängers liegenden Aufgaben erforderlich ist, sowie
2. an Verletzte zur Wahrnehmung ihrer Rechte.
Die Präsidentin des Bundesverwaltungsgerichts, Marion Eckertz-Höfer, ließ sich von dieser Argumentation überzeugen und setzte tatsächlich den „digitalen Radiergummi“ an. Beschluß und Pressemitteilung wurden gelöscht. Darüber hinaus sah sie offenbar die Voraussetzungen für einen Folgenbeseitigungsanspruch als gegeben an und schrieb private Urteilsdatenbanken an mit der Bitte, diese Dokumente ebenfalls zu löschen, denn es sei nachträglich ein Verstoß gegen datenschutzrechtliche Bestimmungen erkannt worden.
Das pikante an dieser Entscheidung der Präsidentin als Leiterin der Verwaltungsabteilung des Bundesverwaltungsgerichts ist, daß die fragliche Entscheidung von den Richtern des Wehrdienstsenats als juristisch so bedeutsam angesehen worden war, daß sie nicht nur mit einem amtlichen Leitsatz versehen wurde, sondern auch in die gedruckte amtliche Sammlung der Rechtsprechung des Gerichts aufgenommen wurde (BVerwGE 128, 295). Ob der betreffende Band nunmehr aus den Universitätsbibliotheken und Anwaltskanzleien zurückgerufen und eingestampft wird, ist nicht bekannt. Aber auch führende Datenbanken wie beck-online und Juris haben bislang keinen Anlaß gesehen, die Entscheidung aus ihrer Rechtsdokumentation herauszunehmen. Und das zu Recht:
Das Vorgehen der Präsidentin ist nämlich alles andere als ein anekdotischer Fall, sondern führt direkt zu den Grundfragen von Sinn und Zweck der Veröffentlichung von Gerichtsentscheidungen.
Die Veröffentlichung, die öffentliche Zugänglichmachung von Gerichtsentscheidungen hat vor allem zwei Zielrichtungen: Zum einen soll sie gewährleisten, daß die Gerichte, die „im Namen des Volkes“ Recht sprechen, dabei von eben diesem Volk überwacht werden können, sei es durch Vermittler wie die Medien, sei es unmittelbar durch interessierte Personen. Die Entwicklung der Rechtsprechung ist, als Fortsetzung der Gesetzgebung, in ähnlicher Weise wie diese ein politischer Vorgang. Die Unabhängigkeit der Gerichte bedarf des Korrelats, daß die Richter ihre Entscheidungen vor der Öffentlichkeit verantworten und die Öffentlichkeit, wenn sie Fehlentwicklungen vermutet, den Prozeß einer Gesetzesänderung anstoßen kann. Die andere, nun schon wieder praktischere Zielrichtung ist, daß die Fachöffentlichkeit, d.h. andere Gerichte, aber auch insbesondere Anwälte, Juristen in Rechtsabteilungen etc. die Rechtsentwicklung im Auge behalten können und diese entsprechend in ihre Entscheidungen einfließen lassen können. Die Rechtsentwicklung ist nicht nur das, was in den Gesetzblättern steht, sondern auch das, was die Gerichte, insbesondere die obersten Gerichte, entscheiden.
Diese allgemeinen, grundsätzlichen Überlegungen müssen allerdings nicht bedeuten, daß restlos alles öffentlich gemacht wird. Es gibt zahlreiche Fälle, in denen das Gesetz mit guten Gründen eine vertrauliche Behandlung des Inhalts von Gerichtsverfahren vorsieht. Hier sei nur verwiesen auf die Fälle, in denen das Gesetz die Durchbrechung des Grundsatzes von der Öffentlichkeit gerichtlicher Verfahren anordnet (§§ 169 ff. GVG). Zu diesen Durchbrechungen mag man § 9 WDO zählen.
Diese Vorschrift könnte auf den ersten Blick tatsächlich zu dem zwingenden Ergebnis führen, daß das Bundesverwaltungsgericht rechtswidrig gehandelt hat, als es die Entscheidung und die Pressemitteilung im Falle Dieter/Ruwe veröffentlichte. Aber eben nur auf den ersten Blick. Die Reichweite dieser Bestimmung ist nämlich eingeschränkt, muß eingeschränkt sein, durch den Grundsatz der verfassungskonformen Auslegung. Die vorstehend genannten Gründe für eine grundsätzliche Veröffentlichung von Gerichtsentscheidungen stehen nämlich nicht im Range beliebiger Prinzipien, sondern haben Verfassungsrang. Dies hat das Bundesverwaltungsgericht in seiner Grundsatzentscheidung vom 26.2.1997 (6 C 3.96) ausdrücklich ausgesprochen. Stehen aber diese Grundsätze im Range über § 9 WDO, dann sind sie bei der Auslegung und Anwendung dieser Vorschrift zwingend zu berücksichtigen. Das bedeutet nicht, daß § 9 WDO Makulatur wäre. Es bedeutet aber, daß die verfassungsrechtlichen Grundsätze sich in Einzelfällen gegen ein rigoroses Veröffentlichungsverbot, das sich aus einfachgesetzlichen Normen ergeben mag, durchsetzen können und müssen.
So liegt es meiner Meinung nach hier. Die allgemeinen Gründe, die für die grundsätzliche Veröffentlichung von Gerichtsentscheidungen sprechen, liegen in diesem konkreten Fall in jeder Hinsicht in gesteigerter Form vor. Die Verabschiedung der Generäle war ein Vorgang höchst politischer Natur und juristisch ist die rechtliche Prüfung durch den Wehrdienstsenat (sei sie nun im Ergebnis richtig oder falsch) von besonderem Interesse, auch für künftige Fälle. Der Senat selbst sieht es so, hat er doch einen amtlichen Leitsatz gebildet und die Entscheidung als in der amtlichen Sammlung veröffentlichungswürdig eingestuft. Die Persönlichkeitsrechte der Generäle, die natürlich grundsätzlich anzuerkennen sind, treten demgegenüber hier meiner Meinung nach zurück: Da ihr Fall ohnehin schon Gegenstand öffentlicher Erörterung war, sind die personenbezogenen Informationen, die aus dem (ohnehin gekürzt veröffentlichten) Entscheidungstext entnommen werden können, ohne eigenständiges Gewicht. Daß der Senat eine den Generälen ungünstige statt eine günstige Entscheidung getroffen hat, stellt für sich genommen keinen Persönlichkeitseingriff dar (man muß dafür nicht auf die Entscheidung des BVerfG verweisen, es versteht sich von selbst).
Die Generäle stören sich an der Veröffentlichung der BVerwG-Beschlüsse vor allem deshalb, weil sie die Beschlüsse für falsch halten. Das ist sehr nachvollziehbar, aber es belegt im Gegenteil die Veröffentlichungswürdigkeit gerade dieser Beschlüsse. Je kontroverser eine gerichtliche Entscheidung ist, um so mehr spricht dies für ihre Veröffentlichung.
Über den vorliegenden Einzelfall hinaus trägt die Entscheidung der Präsidentin des Bundesverwaltungsgerichts und ihr „geläutertes“ Verständnis von § 9 WDO die große Gefahr in sich, daß von nun an Entscheidungen der Wehrdienstsenate nicht oder weniger oder bis zur Unkenntlichkeit gekürzt der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden. Daß diese Senate also öffentlich, auch fachöffentlich, nicht mehr in einer Weise überwacht werden können, wie es das Grundgesetz vorsieht. Deshalb ist die Entscheidung der Präsidentin ein Rechtspolitikum und ein folgenschwerer Fehler.
Um aber doch noch auf den Fall Dieter/Ruwe zurückzukommen, so scheint mir, daß die Genugtuung, die ihnen juristisch versagt geblieben ist, ihnen zumindest zum Teil geschichtlich doch noch geschehen ist: Vier Jahre nach ihrer eigenen schimpflichen Verabschiedung, sollten Staatssekretär Wichert und Generalinspekteur Schneiderhan am eigenen Leib ein böses Spiel und selbst einen ehrenrührigen Abgang erleben. Es war die Zeit der Kundus-Affäre und der neue, schneidige Bundesverteidigungsminister, der Hochstapler Karl-Theodor zu Guttenberg, geriet unter Druck. Diesmal war er es, der die Klaviatur der Personalintrige bediente. Er schirmte sich gegen Vorwürfe dadurch ab, daß er vorgab, Wichert und Schneiderhan hätten ihm absichtlich wichtige Akten vorenthalten. Sie wurden in Anwendung von § 50 SG in den einstweiligen Ruhestand versetzt. Anschließend kämpften sie in der Öffentlichkeit um die Wiederherstellung ihrer Ehre und – es gelang ihnen. Denn in diesem Fall mußte Guttenberg von Talkshow zu Talkshow bis hin zum parlamentarischen Untersuchungsausschuß immer mehr von seiner Darstellung zurückweichen – kurz: seine Lüge einräumen.
Und wie Dieter und Ruwe beschritt Wichert den Rechtsweg, um seine Ehre wiederherzustellen: Vorletzte Woche einigten sich Wichert und Der Spiegel auf einen gerichtlichen Vergleich, daß seine Rolle in der Guttenberg-Intrige falsch dargestellt worden war.
Schluß
Dieser Beitrag handelte von einem mutigen Königsberger Arzt, der dem König vor den Gerichten die Stirn bot. Und er handelte von zwei Soldaten, die sich unversehens in den Mühlen der Justiz wiederfanden. In beiden Fällen sollte – wenn auch aus ganz unterschiedlichen Gründen – die Öffentlichkeit von dem Verhalten der Justiz nichts erfahren. Der Beitrag soll deshalb enden mit einem Zitat eines anderen berühmten Königsbergers, das Thomas Fuchs einem kürzlich erschienenen Aufsatz vorangestellt hat, in welchem es auch – von anderer Warte – um die Durchbrechung von Tendenzen zu Geheimjustiz und Herrschaftswissen geht:
”Alle auf das Recht anderer Menschen bezogene Handlungen, deren Maxime sich nicht mit der Publizität verträgt, sind unrecht.“
Immanuel Kant