Die Berichterstattung über das tragische Loveparade-Unglück in Duisburg, das 21 Menschen das Leben kostete, war von Anfang an nicht von sachlicher Ursachenanalyse, sondern reflexartig von der sich erst daran anschließenden Frage bestimmt, ob jemand und wenn ja, wer dafür verantwortlich ist. Im Mittelpunkt der Hexenjagd stehen der Veranstalter der Loveparade Rainer Schaller, der die Veranstaltung genehmigende Oberbürgermeister Adolf Sauerland und die polizeilichen Einsatzkräfte vor Ort. Schuld will keiner gewesen sein. Und am Ende wird, trotz möglicherweise festzustellenden fahrlässigen Verhaltens, vielleicht auch keiner wegen fahrlässiger Tötung bestraft werden.
Das Strafrecht ist kein technisches Hilfsmittel zur Effektivierung der Strafverfolgung. Strafen ist stets autoritär. Denn wie soll man es anders bezeichnen, wenn der Staat einem seiner Bürger eine Geldstrafe auferlegt, die Nutzung seines Kraftfahrzeugs verbietet, die Freiheit entzieht oder (in einigen Ländern der Welt, auch in demokratisch regierten) sogar das Leben nimmt? Seine vornehmste Aufgabe besteht, eben weil es Recht ist, vielmehr darin, dem autoritären staatlichen Tun und den gesellschaftlichen Bestrafungswünschen seine Grenzen aufzuzeigen. Es ist seinem Wesen nach geradezu anti-autoritär (Thomas Vormbaum, Einführung in die moderne Strafrechtsgeschichte, Berlin 2009, S. 274).
Ausgehend von dem Unbehagen, das mit der keinem der Betroffenen gerecht werdenden Berichterstattung verbunden ist, und gerechtfertigt durch den begrenzenden Zweck des Strafrechts, möchte ich die unglückliche Gelegenheit ergreifen, um auf ein systematisches Problem aufmerksam zu machen, das auch den Straftatbestand der fahrlässigen Tötung nach § 222 StGB betrifft.
Mit dem Ersten Gesetz zur Reform des Strafrechts (1. StrRG) vom 25. Juni 1969 (BGBl. I 1969 S. 645—682)
„Artikel 3 [1. StrRG]. Geltungsbereich. Die Vorschriften dieses Abschnitts gelten für die Strafdrohungen des Bundesrechts, soweit sie durch dieses Gesetz nicht besonders geändert werden.
Artikel 4 [1. StrRG]. Überleitung von Freiheitsstrafdrohungen. Ist für Verbrechen, Vergehen oder Übertretungen als Strafe Zuchthaus, Gefängnis oder Haft angedroht, so tritt an die Stelle dieser Strafen Freiheitsstrafe.
Artikel 5 [1. StrRG]. Mindest- und Höchstmaße. (1) An die Stelle von lebenslangem Zuchthaus tritt lebenslange Freiheitsstrafe.
(2) Ist Zuchthaus ohne besonderes Mindestmaß angedroht, so beträgt das Mindestmaß der Freiheitsstrafe ein Jahr.
(3) Ist Gefängnis oder Haft ohne besonderes Höchstmaß angedroht, so beträgt das Höchstmaß der Freiheitsstrafe bei Gefängnis fünf Jahre und bei Haft sechs Wochen.
(4) Ist Zuchthaus, Gefängnis oder Haft mit einem besonderen Mindest- oder Höchstmaß angedroht, so gilt dieses Mindest- oder Höchstmaß auch für die Freiheitsstrafe.Artikel 6 [1. StrRG]. Wahlweise Androhung von Freiheitsstrafen. (1) [1] Sind Zuchthaus und Gefängnis wahlweise angedroht, so tritt an deren Stelle Freiheitsstrafe. [2] Ist in diesen Fällen das Mindestmaß der Gefängnisstrafe oder das Höchstmaß der Zuchthausstrafe besonders bestimmt, so gilt dieses Mindest- oder Höchstmaß auch für die Freiheitsstrafe.
(2) Sind Einschließung und Gefängnis oder Haft und eine andere Freiheitsstrafe wahlweise angedroht, so gilt Absatz 1 sinngemäß.“
und dem Einführungsgesetz zum Strafgesetzbuch (EGStGB) vom 2. März 1974 (BGBl. I 1974 S. 469—650)
„Artikel 10 [EGStGB]. Geltungsbereich. (1) Die Vorschriften dieses Abschnitts gelten für die Strafvorschriften des Bundesrechts, soweit sie nicht durch Gesetz besonders geändert werden.
[…]Artikel 11 [EGStGB]. Freiheitsstrafdrohungen. Droht das Gesetz Freiheitsstrafe mit einem besonderen Mindestmaß an, das einen Monat oder weniger beträgt, so entfällt die Androhung dieses Mindestmaßes.
Artikel 12 [EGStGB]. Geldstrafdrohungen. (1) [1] Droht das Gesetz neben Freiheitsstrafe ohne besonderes Mindestmaß wahlweise keine Geldstrafe an, so tritt neben die Freiheitsstrafe die wahlweise Androhung der Geldstrafe. [2] Dies gilt auch, wenn die Androhung des besonderen Mindestmaßes der Freiheitsstrafe nach Artikel 11 entfällt.
(2) An die Stelle einer neben Freiheitsstrafe wahlweise angedrohten Geldstrafe von unbeschränkter Höhe oder mit einem besonderen Höchstmaß oder mit einem Höchstmaß, das in dem Mehrfachen, Einfachen oder Bruchteil eines bestimmten Betrages besteht, tritt Geldstrafe mit dem gesetzlichen Höchstmaß (§ 40 Abs. 1 Satz 2, Abs. 2 Satz 3 des Strafgesetzbuches), soweit Absatz 4 nichts anderes bestimmt.
(3) Ist Geldstrafe neben Freiheitsstrafe vorgeschrieben oder zugelassen, so entfällt diese Androhung.
(4) [1] Droht das Gesetz Freiheitsstrafe bis zu sechs Monaten an, so beträgt das Höchstmaß einer wahlweise angedrohten Geldstrafe einhundertachtzig Tagessätze. [2] Dies gilt auch, wenn sich die wahlweise Androhung der Geldstrafe aus Absatz 1 ergibt.“
wurden neben einer Vielzahl gezielter Änderungen insbesondere im Strafgesetzbuch auch die Strafandrohungen des gesamten Bundesrechts „übergeleitet“.
In all der seitdem vergangenen Zeit scheint niemandem aufgefallen zu sein, welchen gesetzgebungstechnischen Charakter diese Überleitungen eigentlich haben. Beim Ersetzen bestehender Rechtsregeln durch Änderungsgesetze spricht man von Derogation. Dies ist die Aufhebung der Geltung einer – in Geltung stehenden – Norm (lex prior) durch eine andere Norm (lex posterior). Dabei ist zwischen materieller und formeller Derogation zu unterscheiden. Die materielle Derogation verändert den Wortlaut nicht, sondern sie überlagert ihn (Wortlautüberlagerung). Der Normbefehl wird für bestimmte Konstellationen modifiziert, eingeschränkt oder erweitert. Bei der formellen Derogation wird der Wortlaut dagegen geändert (Wortlautänderung). Konkrete Formulierungen werden aufgehoben, ergänzt oder ersetzt. Der Normalfall bundesdeutscher Änderungsgesetze ist die Wortlautänderung. Im vorliegenden Fall handelt es sich aber zweifelsfrei um bloße Wortlautüberlagerungen. Die typischen Merkmale von Wortlautänderungen fehlen nämlich. Es werden keine konkreten Normen als Änderungsobjekte genannt. Der Wortlaut wird weder bei einem Änderungsobjekt noch bei einem Änderungssubjekt mitgeteilt. Üblicherweise wird der betreffende Wortlaut durch Einrückung, Absetzung und/oder Anführungszeichen gekennzeichnet. Davon ist hier nichts zu finden.
In den amtlichen Bekanntmachungen des Strafgesetzbuchs vom 1. September 1969 (BGBl. I 1969 S. 1445—1501) und vom 2. Januar 1975 (BGBl. I 1975 S. 1—79), die auf gesetzlichen Ermächtigungen beruhen, wurde diese Unterscheidung nicht beachtet. Das Bundesjustizministerium passte den Wortlaut vielmehr jeweils sinngemäß an. Die einem Bundesminister zur Bekanntmachung eines geänderten Gesetzes erteilte Ermächtigung begründet nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts aber keinerlei Rechtsetzungsbefugnis. Unter Umständen kann bereits mit der Änderung von Überschriften, der Vorschriftenfolge oder der Zeichensetzung eine Änderung des Normgehalts bewirkt werden. Der aus dem Schönfelder bekannte Wortlaut des § 222 StGB
„§ 222 [StGB]. Fahrlässige Tötung. Wer durch Fahrlässigkeit den Tod eines Menschen verursacht, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.“
entspricht deshalb nicht der Gesetzeslage. Tatsächlich ist der Wortlaut der Vorschrift in der letzten Fassung vom 16. April 1940 wie folgt:
„§ 222 [StGB]. Fahrlässige Tötung. Wer durch Fahrlässigkeit den Tod eines Menschen verursacht, wird mit Gefängnis bestraft.“
Seitdem wurde der Wortlaut nicht mehr im Weg formeller Derogation geändert, sondern nur noch zweifach (!) durch materielle Derogation überlagert. Um ihren Inhalt zu erschließen, muss der Rechtsunterworfene folgende Vorschriften anwenden: Die Vorschriften des Zweiten Abschnitts des Ersten Strafrechtsreformgesetzes gelten nach den Artt. 3, 105 Nr. 2 des 1. StrRG für die Strafdrohungen des Bundesrechts, soweit sie durch dieses Gesetz nicht besonders geändert werden. Ist für Verbrechen, Vergehen oder Übertretungen als Strafe Zuchthaus, Gefängnis oder Haft angedroht, so tritt nach den Artt. 4, 105 Nr. 2 des 1. StrRG an die Stelle dieser Strafen Freiheitsstrafe. Ist Gefängnis oder Haft ohne besonderes Höchstmaß angedroht, so beträgt nach den Artt. 5 Abs. 3, 105 Nr. 2 des 1. StrRG das Höchstmaß der Freiheitsstrafe bei Gefängnis fünf Jahre und bei Haft sechs Wochen. Die Vorschriften des Zweiten Abschnitts des Einführungsgesetzes zum Strafgesetzbuch gelten nach den Artt. 10 Abs. 1, 326 Abs. 1 des EGStGB für die Strafvorschriften des Bundesrechts, soweit sie nicht durch Gesetz besonders geändert werden. Droht das Gesetz neben Freiheitsstrafe ohne besonderes Mindestmaß wahlweise keine Geldstrafe an, so tritt nach den Artt. 12 Abs. 1 S. 1, 326 Abs. 1 des EGStGB neben die Freiheitsstrafe die wahlweise Androhung der Geldstrafe.
Widerspricht mir jemand, wenn ich sage, dass die Rechtsfolge einer fahrlässigen Tötung, nämlich „Freiheitstrafe bis zu fünf Jahren oder […] Geldstrafe“, im Strafgesetzbuch nicht bestimmt ist? Sie ergibt sich vielmehr erst aus den Artt. 3, 4, 5 Abs. 3, 105 Nr. 2 des 1. StrRG und den Artt. 10 Abs. 1, 12 Abs. 1 S. 1, 326 Abs. 1 des EGStGB. Hier wirken drei Regelungsbereiche, die nicht konkret aufeinander Bezug nehmen, kaskadenartig alle möglichen Strafandrohungen des Bundesrechts betreffend zusammen. Tatbestand und Rechtsfolge des Delikts sind außer für Experten fast unauffindbar auseinander gerissen. § 222 StGB ist im Übrigen kein Einzelfall. Mit Blick auf die Strafandrohung sind im heutigen Strafgesetzbuch noch 57 Vorschriften mit einfacher Wortlautüberlagerung und 60 Vorschriften mit zweifacher Wortlautüberlagerung in Kraft. Darunter befinden sich Kapitalverbrechen wie Mord und Totschlag.
Die Entscheidung des Gesetzgebers, Strafandrohungen nicht im Weg formeller Derogation, sondern durch materielle Derogation überzuleiten, erweist sich damit am Maßstab des Bestimmheitsgrundsatzes und des Gebots der Normenklarheit als für die Vergangenheit unheilbar falsch. Die genannten Vorschriften des Ersten Strafrechtsreformgesetzes und des Einführungsgesetzes zum Strafgesetzbuchs sind wegen Verstoßes gegen die Artt. 20 Abs. 3, 103 Abs. 2 GG verfassungswidrig und nichtig. Ob diese Rechtsfolge unmittelbar auch auf die in Bezug genommenen Vorschriften des Strafgesetzbuchs übergreift, sei hier dahin gestellt. Zu Gefängnis kann, wie bei § 222 StGB in der Fassung vom 16. April 1940 vorgesehen, heute jedenfalls niemand verurteilt werden, weil es diese Strafart nicht mehr gibt. Die fahrlässige Tötung nach § 222 StGB in der Fassung vom 16. April 1940 ist daher als straffrei anzusehen.
Im Einzelnen ist das alles in meinem Aufsatz „Die Nichtigkeit weiter Teile des Strafgesetzbuchs“ und noch ausführlicher in meinem Editionsbericht „Dichtung und Wahrheit. Beobachtungen eines Konsolidierers auf einer Zeitreise durch das Strafgesetzbuch“ nachzulesen.