Gerade einmal drei Wochen seit dem Inkrafttreten des Konsumcannabisgesetzes hat der Bundesgerichtshof eine Grundsatzentscheidung getroffen. So glaubt es sein 1. Strafsenat zumindest, der – am letzten Montag – eine Pressemitteilung mit dem markigen Titel „Konsumcannabisgesetz – Bundesgerichtshof setzt Grenzwert der nicht geringen Menge für Tetrahydrocannabinol (THC) auf 7,5 g fest” und gleichzeitig den dazugehörigen Beschluß – 1 StR 106/24 – im Volltext veröffentlichen ließ.
Der Beschluß selbst datiert vom 18. April 2024, und das ist die zweite zeitliche Auffälligkeit. Nur vier Tage brauchte der Senat nach der Beschlußfassung für die Fertigstellung der Gründe – rekordverdächtig, liegt diese Zeitspanne doch typischerweise zwischen ein und zwei Monaten, gerade für ausführlich begründete Beschlüsse (näheres zu den Abläufen innerhalb der BGH-Strafsenate nachzulesen beim ehemaligen Vorsitzenden des 2. Strafsenats, Thomas Fischer, in seiner ZEIT-Kolumne „Kunst der Fehler”).
Der 1. Strafsenat hatte es also eilig, seinen Fuß in die Tür der sich in entwickelnden Cannabis-Rechtsprechung nach der Hanf-Freigabe zu bekommen. Da passieren leicht Fehler, wie Fischer bereits vor 8 Jahren in seiner Kolumne titelte, die sich just mit Manövern und Winkelzügen des 1. Strafsenats beschäftigte.
Einen Fehler in seinem Beschluß hat der 1. Strafsenat ebenso schnell erkannt und – vielleicht als Reaktion auf eine erste Welle der Kritik – still und heimlich behoben. Als gestern in lto.de eine Besprechung des BGH-Beschlusses von Konstantin Grubwinkler unter dem nicht weniger markigen Titel „BGH-Entscheidung ist verfassungswidrig” erschien, war darin ein Kritikpunkt zu lesen, der bereits ins Leere ging:
„Zwar ist denkbar, dass auch der Besitz einer die Strafbarkeitsschwelle nur geringfügig überschreitenden Menge Cannabis – also geringfügig mehr als 50g – das Regelbeispiel des § 34 Abs. 3 Satz 2 Nr. 4 KCanG verwirklicht.”
Mit dieser Bemerkung dokumentiert der Senat eindrucksvoll seine Unkenntnis: Denn die Strafbarkeitsschwelle nach neuem Recht liegt bei 60g und nicht – wie im Beschluss genannt – bei 50g.
Wer jetzt den Beschluß beim BGH herunterlädt, wird den kritisierten Satz in ihm nicht finden. Denn schon am Dienstag hatte der BGH den Beschluß durch eine Fassung ausgetauscht, in der von „60 g” statt „50 g” die Rede ist und ein paar Absätze weiter, von „Überschreitung des Grenzwerts zur nicht geringen Menge um das 2.946,3-fache” statt „… um das 2.939,8-fache”. Von wegen iudex non calculat.
Um diese Art und Weise, wie der Kritik an einer BGH-Entscheidung der Wind aus den Segeln genommen wurde, soll es hier eigentlich nicht gehen, doch sie ist so ungewöhnlich, daß sie eine Nebenbetrachtung wert ist. Einen Hinweis auf den Austausch des Wortlautes findet sich nirgends. Ein Nachtrag, der auf die Korrektur hinweist, wäre zumindest in der Pressemitteilung zu erwarten gewesen. Dementsprechend ist auch unbekannt, auf welchem Wege die Korrektur zustande kam. Gab es einen Berichtigungsbeschluß des Senats? Oder hat jemand nach Gutsherrenart einfach den Wortlaut des Faksimiles einer von BGH-Richtern unterschriebenen Beschluß-Urschrift abgeändert? In welcher Fassung existiert der Beschluß dann wirklich?
Hinzu kommt, daß für eine Berichtigung des Wortlauts des BGH-Beschluß die anerkannten Voraussetzungen auch gar nicht vorliegen dürften. „Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs dürfen, sobald ein Urteil vollständig verkündet worden ist, nur noch offensichtliche Schreibversehen und offensichtliche Unrichtigkeiten berichtigt werden.” (BGH, Urteil vom 14. Januar 2015 – 2 StR 290/14; für urteilsvertretende Beschlüsse dürfte nichts anderes gelten; siehe auch OLG Stuttgart, Beschluß vom 1. April 2014 – 4 Ws 79/14). Etwaige Gesetzeskenntnisfehler oder Denkfehler in einer Entscheidung sind keine „offensichtliche Unrichtigkeiten” und rechtfertigen nicht die nachträgliche Abänderung ihres Wortlauts. Schon gar keine heimliche, d.h. nicht offen gelegte. Nach dem Urteil des BGH vom 18. Juli 2013 – 4 StR 84/13 – kann eine solche sogar Rechtsbeugung sein (keine Panik: hier scheidet das schon deshalb aus, weil die Änderung sich nicht „zugunsten oder zum Nachteil einer Partei” auswirken kann).
Der BGH-Beschluß vom 18.04.2024 ist in der oben zitierten Besprechung von Grubwinkler vor allem unter dem Gesichtspunkt kritisiert worden, daß er – explizit – von der in den Gesetzesmaterialien zum Ausdruck gekommenen gesetzgeberischen Vorstellung abweicht. In der Tat ist die Entscheidung ein weiterer Anschauungsfall für die auch in diesem Blog immer wieder kritisierte Rosinenpicker-Mentalität von Richtern im Umgang mit der Gesetzgebungsgeschichte („historisch-genetische Auslegung”). Wenn es den eigenen – auch rechtspolitischen – Vorstellungen der Richter zupaß kommt, werden die Materialien gerne herangezogen; wenn sie ihnen aber entgegenstehen, handelt es sich nicht mehr um authentische Aussagen des „Gesetzgebers”, sondern nur noch um nicht bindende Äußerungen von am Gesetzgebungsgeschehen Beteiligter (siehe etwa hier im Blog den Beitrag „ In Sachen Bundesgerichtshof ./. Parlamentarische Demokratie”). Erfreulicherweise ist aber in den letzten 15 Jahren die Aufsicht des BVerfG über die Fachgerichte in diesem Punkt strenger geworden, insbesondere mit der Betonung des Topos „klar erkennbaren Willen des Gesetzgebers” (vgl. etwa BVerfG, Beschluß vom 6. Juni 2018 – 1 BvL 7/14). Darauf hebt offenbar auch Grubwinkler ab. Ergänzen ließe sich das noch durch einen Hinweis auf die im selben Zeitraum entwickelte Rechtsprechung des BVerfG zum speziellen strafrechtlichen Verbot der Verschleifung von Tatbestandsmerkmalen als Ausdruck von Art. 103 Abs. 2 GG (BVerfG, Beschluss vom 23. Juni 2010 – 2 BvR 2559/08).
Und doch ist die von Grubwinkler gebildete Überschrift seines Beitrags falsch – aus demselben Grund, warum auch die Pressemitteilung des BGH falsch ist: Die BGH-Entscheidung als solche ist nicht verfassungswidrig (im Unterschied zu der in ihr vertretenen Meinung, was Grubwinkler allerdings eigentlich meint). Sie kann es gar nicht sein, weil der 1. Strafsenat das, was ihm offenbar ein Herzensanliegen war, im Rechtssinne gar nicht „entschieden” hat. Niemand könnte gegen die BGH-Beschluß Verfassungsbeschwerde einlegen, auch nicht die Angeklagten (unabhängig davon, daß ihre Revision erfolgreich war).
Der 1. Strafsenat hat in seinem seitenlangen Ausführungen zur Frage der nicht geringen Menge für THC keine Rechtsprechung im eigentlichen Sinne ausgeübt, sondern ein prozessual nicht vorgesehenes Rechtsgutachten verfaßt. Seine Ausführungen sind ein einziges, überlanges, durch den Fall nicht veranlaßtes obiter dictum, nicht tragende Erwägungen, die mit dem zu entscheidenden Sachverhalt nichts zu tun haben. Im vom 1. Strafsenat zu entscheidende Fall ging es um Besitz und Handeltreiben mit Marihuana im Umfang von „mindestens 160 kg mit 22.105 g THC”. Es ist kein Ergebnis der Gesetzesauslegung denkbar, in der 22 kg THC keine „nicht geringe Menge” wären. Dafür ist keine „Festsetzung” eines Grenzwertes von 7,5 g THC nötig. Das Ergebnis wäre mit jedem anderen realistisch diskutierten Grenzwert – 20, 50, 75 oder 100g, ja sogar 1000g THC – kein anderes. Die „Festsetzung” geht im konkreten Fall ins Leere. Die Argumentation des Senats ist hypothetische Natur.
Der Umstand, daß „der Gesetzgeber” (den der 1. Strafsenat insoweit als Entität gerne akzeptiert), die Ausfüllung des unbestimmten Begriffs der nicht geringen Menge „der Rechtsprechung überlassen” hat, bedeutet nicht, daß der BGH Adressat einer abstrakten Normsetzungsbefugnis, wie sie etwa in Art. 80 GG vorgesehen ist, wäre. Die Leitfunktion, die die Rechtsprechung des BGH durchaus hat, kann sich nur im Rahmen seiner konkreten, den Einzelfall entscheidenden Rechtsprechungsaufgaben vollziehen, nicht im Rahmen fallunabhängiger, gremienartiger Richtlinienaufstellung. Auch der Gesichtspunkt der Bestimmtheit von Strafnormen gebietet nicht einen solchen Grad von Abstraktion bei der Ausfüllung von unbestimmten Rechtsbegriffen; eine Jedenfalls-Entscheidung ist in klaren Fällen auch sonst üblich (vgl. BGH, Beschluß vom 12. November 1974 – 5 StR 479/74).
Was bedeutet der Umstand, daß es sich bei der angeblichen Grenzwert-Festsetzung im BGH-Beschluß um nichts weiter handelt als ein obiter dictum, praktisch (Fischer, a.a.O.: „Obiter dicta haben daher keinen guten Ruf: Sie blasen die Backen auf, wo es nichts zu pfeifen gibt.”)? Es handelt sich um einen durchaus gewichtigen Diskussionsbeitrag, an den sich manche Gerichte orientieren, andere sich von ihm abgrenzen werden wollen. Doch anders als LTO-Autor Grubwinkler („Allerdings dürfte es auch nur eine Frage der Zeit sein, bis ein anderer Senat des BGH zur selben Thematik den großen Senat für Strafsachen anrufen wird.”) und wahrscheinlich auch der 1. Strafsenat selbst meinen, geht von diesem Beschluß keinerlei Bindungswirkung aus. Kein BGH-Strafsenat wird, wenn er in einem konkreten Fall mit der Frage tatsächlich konfrontiert sein wird und anders entscheiden will, gemäß § 132 Abs. 2 GVG den Großen Senat anrufen müssen. Und, praktisch kurzfristig wohl relevanter, kein Oberlandesgericht muß in dieser Situation den Weg der Divergenzvorlage nach § 121 Abs. 2 Nr. 1 GVG beschreiten. Daß obiter dicta keine Vorlagepflicht auslösen, ist unbestritten (BGH, a.a.O.; BGH, Urteil vom 10. Juni 2015 – 2 StR 97/14; OLG Oldenburg, Beschluß vom 11. Februar 2021 – 1 Ws 14/21).
Vieles spricht dafür, daß der 1. Strafsenat durch sein Vorpreschen genau das bezweckt hat – eine Arretierung der Rechtsprechung in seinem Sinne mit Hilfe des Horror-Pleni-Effekts – dann war es ein naiver, untauglicher Versuch, vergleichbar mit dem von Fischer nachgezeichneten Fall (a.a.O.) aus dem Jahr 2016. Dort hatte der 1. Strafsenat (in überwiegend anderer Besetzung) versucht, eine Grundsatzentscheidung des 2. Strafsenats durch eine überholende eigene vermeintliche Grundsatzentscheidung zu konterkarieren und neutralisieren, die er sogar in BGHSt einrücken ließ, obwohl es sich um ein obiter dictum handelte. Ein paar Jahre später schwenkte er dann doch auf die Linie des 2. Strafsenats um.