De legibus-Blog

7. Januar 2018

Ethik contra Recht am Bundesverfassungsgericht

Oliver García

Letzte Woche hat das Bundesverfassungsgericht ein Dokument veröffentlicht, das von seinen 16 Richtern „im November 2017“ beschlossen wurde (das Fehlen eines Datums deutet auf einen Umlaufbeschluß hin) und den Titel trägt „Verhaltensleitlinien für Richterinnen und Richter des Bundesverfassungsgerichts“. In der Presse wird es mit Begriffen wie „Verhaltenskodex“, „Ethik-Kodex“ und „Benimm-Regeln“ beschrieben. Einem Artikel von Christian Rath auf LTO lassen sich ein paar Details zum Zustandekommen dieses Dokuments entnehmen. Man erfährt dort, daß die treibende Kraft der Gerichtspräsident Andreas Voßkuhle war und daß wegen „großer Meinungsunterschiede“ eine Einigung unter den Richtern zunächst nicht gesichert war.

Da es sich nicht um den Ehrenkodex von Fähnlein Fieselschweif oder die Konstitution einer Freimaurerloge handelt, sondern um ein Dokument einer staatlichen Einrichtung – Gericht und Verfassungsorgan zugleich -, das nach eigenem Anspruch Verhaltenspflichten für Personen aufstellt, ist in juristischer Hinsicht natürlich die Einstiegsfrage interessant, welche Rechtsqualität es hat. Eine Rechtsgrundlage ist in ihm selbst nicht angegeben und es ist im Gesetz – zu denken wäre an das Grundgesetz oder das Gesetz über das Bundesverfassungsgericht – auch keine zu finden. Rath schreibt zum Normcharakter folgendes und dürfte damit die Intention richtig deuten:

Letztlich geht es um eine Selbstverpflichtung der aktuellen Generation der Verfassungsrichter, verbunden mit der medial vermittelten Erwartung, dass sich auch die ausgeschiedenen Richter daran halten mögen. Künftige Richter können sich die Richtlinien zu eigen machen, indem sie kleine Punkte ändern oder ergänzen und damit das gesamte Regelwerk anerkennen.

Wobei zu ergänzen ist, daß sicherlich nicht bei jedem Eintritt eines neuen Richters kleine Punkte gesucht werden müssen, sondern die Erwartung bestehen dürfte, daß sich auch eine andere Form finden wird, in der sich die Geltungsanerkennung durch den Neuling ausdrückt.

Ist damit die Frage nach der Geltungsgrundlage dieser Leitlinien zufriedenstellend beantwortet? Ich denke nicht. Das Regelwerk zielt insoweit, als es nicht nur wolkige Haltungserwartungen formuliert, sondern auch konkrete Pflichten zum Handeln und Unterlassen aufstellt, auf normative Verhaltenssteuerung. Beispiele sind die Pflicht, Einkünfte offenzulegen, die die Richter für (erlaubte) wissenschaftliche Veröffentlichungen und Veranstaltungsteilnahmen erzielt haben (Nr. 9 der Richtlinien) und die Pflicht, innerhalb eines Jahres nach dem Ausscheiden aus dem BVerfG in den Sachgebieten, für die sie beim BVerfG zuständig waren, keine Mandate zu übernehmen und nicht vor Gericht aufzutreten (Nr. 15 der Richtlinien). Der letzte Punkt steht sogar im Widerspruch zu § 3 Abs. 2 BRAO, wonach das Recht eines Rechtsanwalts, in Rechtsangelegenheiten aller Art vor Gerichten, Schiedsgerichten oder Behörden aufzutreten, „nur durch ein Bundesgesetz beschränkt werden“ kann – und eben nicht durch eine untergesetzliche Norm unklaren Charakters. Nach dem demokratischen Rechtsstaatsverständnis des Grundgesetzes müssen Handlungs- und Unterlassungspflichten auf ein Gesetz rückführbar sein, und handele es sich dabei auch nur um eine hinreichend konkretisierte (vgl. Art. 80 Abs. 1 Satz 2 GG) Ermächtigungsnorm. Der Umstand, daß möglicherweise die Verhaltensleitlinien keine „echten Normen“ sein wollen, sondern als freiwillige Selbstverpflichtung der Betroffenen ausgestaltet sind, eliminiert nicht die Legitimationszweifel (etwa im Sinne eines „volenti non fit iniuria“), sondern macht die Sache erst recht problematisch. Umgehungskonstruktionen, die letztlich auf der Ebene des Gruppenzwangs und einer medialen Mobbingmentalität gegenwärtige und vor allem künftige Richter zu einer Selbstunterwerfung unter Normen außerhalb des verfassungsrechtlich vorgesehenen Kanons bestimmen, sind kein gutes Zeichen für die Gesundheit einer Verfassungskultur, und schon gar nicht, wenn sie gerade von der Institution erfunden werden, deren Aufgabe der Schutz der Verfassung ist.

Daß das BVerfG auf solche Abwege gerät, verheißt nichts Gutes gerade für Fälle, in denen es zur Entscheidung über neue Konstruktionen einer informalisierten, an private Akteure überantwortete Normüberwachung berufen ist, wie im Falle des umstrittenen Netzwerkdurchsetzungsgesetzes.

Zitiervorschlag für diesen Beitrag:
https://blog.delegibus.com/4570

Rückverweis URL