De legibus-Blog

1. August 2013

Günter Schaub und die mutige Tat

Thomas Fuchs

Das Bundesarbeitsgericht hatte seinen Sitz nach § 40 Abs. 1 ArbGG 1953 in der Zeit vom 1. Oktober 1953 bis zum 19. März 1996 bekanntlich in Kassel. Die Senate des Bundesarbeitsgerichts konnten nach § 40 Abs. 1 S. 2 ArbGG 1994 (und § 40 Abs. 1a S. 2 ArbGG 1996) seit dem 23. September 1994 Sitzungen aber auch in Erfurt abhalten.

Günter Schaub, der damals Vorsitzender des 4. Senats dieses Gerichts war, hielt dagegen ausweislich einer Reihe von Entscheidungen jedenfalls schon seit dem 21. April 1993, 9.00 Uhr, Sitzungen in Erfurt ab (BAG, Beschluss vom 4. Februar 1993 – 4 AZR 541/92; BAG, Beschluss vom 10. März 1993 – 4 AZR 541/92; BAG, Urteil vom 21. April 1993 – 4 AZR 541/92). Diese Vorgehensweise begründete er mit § 219 Abs. 1 ZPO, wonach die Termine an der Gerichtsstelle abgehalten werden, sofern nicht eine sonstige Handlung erforderlich ist, die an der Gerichtsstelle nicht vorgenommen werden kann. Bereits das Reichsgericht habe entschieden, dass eine auswärtige Sitzung in diesem Sinne erforderlich sei, wenn sie dem Interesse der Rechtsfindung diene (BAG, Beschluss vom 4. Februar 1993 – 4 AZR 541/92, Rdnr. 5).

Hier sei eine Verhandlung in den neuen Bundesländern erforderlich, weil es um die Auslegung von dort geltendem Tarifrecht gehe. Davon sei eine große Anzahl von Arbeitnehmern und Arbeitgebern betroffen, denen im Interesse der Öffentlichkeit der Gerichtssitzung die Möglichkeit eingeräumt werden müsse, sich über die Rechtsstaatlichkeit der Verhandlung zu vergewissern (BAG, ebenda, Rdnr. 6). Außerdem habe der Senat so die Möglichkeit, Erkenntnisse über die Lage in den neuen Ländern zu gewinnen (BAG, ebenda, Rdnr. 7; BAG, Urteil vom 21. April 1993 – 4 AZR 541/92, Rdnr. 24, 42). Ferner hätten es die Parteien durch die Terminierung in Erfurt leichter, an der mündlichen Verhandlung teilzunehmen, wodurch diese eine Anschauung davon gewinnen könnten, wie das Bundesarbeitsgericht seine Aufgaben im Rahmen eines rechtsstaatlichen Verfahrens wahrnehme. Dies sei geeignet, das Verständnis für die Gerichtsentscheidung zu fördern und damit deren befriedende Wirkung zu erhöhen (BAG, ebenda, Rdnr. 41). Diese Vorgehensweise sei schließlich auch durch die historische Einmaligkeit des deutschen Einigungsprozesses gerechtfertigt (BAG, ebenda, Rdnr. 43—48).

Recht überzeugend wirkten diese rechtsstaatlichen Ausführungen schon damals nicht, weshalb der Gesetzgeber mit dem bereits angeführten § 40 Abs. 1 S. 2 ArbGG 1994 für „Klarheit“ sorgte (dazu Deutscher Bundestag, Drucksache 12/7009, S. 6).

Im Nachruf von Harald Schliemann auf den am 18. April 2013 verstorbenen Schaub kam nun heraus, dass dieser lediglich eine auf seiner Geburtstagsfeier am 4. Januar [1993?] geborene Idee umsetzte, politischem Druck, bereits vor der Verlegung des Gerichtssitzes einen oder zwei Senate von Kassel nach Erfurt zu verlegen, dadurch zu begegnen, dass ein Teil der Gerichtsverhandlungen in Erfurt abgehalten werde. Unter anderem für diese „mutige Tat“ wurde Schaub von der Universität Jena auch noch mit der Ehrendoktorwürde geehrt (Harald Schliemann, Günter Schaub †, NZA 2013, S. 662).

Die gebrachte Begründung, die bereits im damaligen Verfahren als politisch motiviert angegriffen wurde und nach meinem Empfinden unfreiwillig komisch wirkt, mag noch vertretbar sein. Es ist aber dieses Auseinanderfallen von erklärtem und eigentlichem Zweck (Verhinderung des vorzeitigen Umzugs von ein bis zwei Senaten) und die damit verbundene Heuchelei, die mir sauer aufstößt.

Zitiervorschlag für diesen Beitrag:
https://blog.delegibus.com/3618

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