Der BGH hatte kürzlich einen prozessual kniffligen Fall mit Bezügen zum europäischen Zivilverfahrensrecht und zum Versicherungsrecht zu entscheiden, an dem – aus der Sicht des BGH – die beiden Vorinstanzen gescheitert waren (BGH, Urteil vom 7.12.2010 – VI ZR 48/10). Doch der Rechtsfehler, den der BGH beanstandet hat, verblaßt gegenüber dem, der ihm selbst unterlief: Mit seiner Entscheidung verstößt der BGH gegen das Rechtsstaatsprinzip. Aber der Reihe nach:
Es geht um einen Verkehrsunfall, der sich auf einer französischen Autobahn zugetragen hatte. Die in Deutschland ansässige Klägerin ist Eigentümerin eines LKW, auf die ein anderer LKW aufgefahren war, und macht deshalb einen Schadenersatzanspruch geltend. Sie hat beim AG Homburg Klage gegen die spanische Haftpflichtversicherung dieses Fahrzeugs erhoben. Die Klage wurde auf ausdrückliches Verlangen der Klägerin nicht an die Beklagte zugestellt, sondern an die Schadenregulierungsbeauftragte im Sinne von Art. 4 der Richtlinie 2000/26/EG. Die Klägerin ist nämlich der Meinung, daß sich aus dieser Richtlinienbestimmung auch eine Zustellungsbevollmächtigung der Schadenregulierungsbeauftragten ergebe.
Die Beklagte erfuhr über die Schadenregulierungsbeauftragte von der Klage, betraute einen Rechtsanwalt mit ihrer Vertretung in dem Verfahren und machte über diesen in erster Linie geltend, daß ihr die Klage nicht wirksam zugestellt worden sei. Das Amtsgericht ließ sich von dieser Argumentation überzeugen und wies die Klage ab. Das Oberlandesgericht als Berufungsinstanz sah es genauso, versuchte aber noch zu erreichen, daß die Zustellung an die Beklagte nachgeholt werde. Hierfür wäre nach Meinung des OLG gem. Art. 8 ZVO erforderlich gewesen, daß die Klageschrift in das Spanische übersetzt wird. Dies lehnte die Klägerin ab und zog es vor, für ihren Standpunkt, daß die Zustellung an die Schadenregulierungsbeauftragte wirksam war, in der Revision weiterzukämpfen. Das OLG wies demnach die Berufung zurück und ließ die Revision zu, damit der BGH – durch Anrufung des EuGH (Art. 267 AEUV) – die aufgeworfene Frage der Auslegung von Art. 4 der Richtlinie 2000/26/EG klären könne.
Der BGH dachte aber nicht daran, sie zu klären. Er sah vielmehr einen eleganteren Weg, die Wirksamkeit der Zustellung zu bejahen, einen Weg, auf den in den Vorinstanzen niemand gekommen war. Man kann von einer Sternstunde der Jurisprudenz sprechen, wenn in einer höheren Instanz durch einen neuen Blick auf den Fall das bislang Schwierige von ihm abfällt und die verblüffend leichte Lösung, die immer schon in ihm enthalten war, hervortritt. Ein solcher Anwendungsfall „juristischer Gedankenkunst“ kommt in der Rechtsprechung des BGH immer wieder vor und man kann nur spekulieren, ob es das Gericht alleine ist, dem der Ruhm zukommt oder ob auch die BGH-Anwälte, die den Fall zuerst neu aufbereiten, einen Anteil an ihm haben. In manchen Fällen kann aber eine solche Kreativität nach hinten los gehen. So liegt es hier.
Die Lösung des BGH, der Kern seiner Leitsatzentscheidung ist: Die Beklagte war ja über alle Instanzen anwaltlich vertreten an dem Verfahren beteiligt. Wenn aber nun ein Verfahrensbevollmächtigter bestellt wird, ist dieser kraft Gesetzes zustellungsbevollmächtigt (§ 172 Abs. 1 Satz 1 ZPO), ja sogar ausschließlicher Zustellungsempfänger. An die Beklagte selbst darf daneben gar nicht zugestellt werden, so daß die vom OLG angestrebte Zustellung in Spanien (unter Beachtung der Vorschriften der ZVO) sogar unzulässig gewesen wäre.
Nun ist aber die Klage nicht an den Anwalt zugestellt worden. Gem. § 189 ZPO gilt jedoch ein Dokument, das unter Verletzung zwingender Zustellungsvorschriften zugegangen ist, „in dem Zeitpunkt als zugestellt, in dem das Dokument der Person, an die die Zustellung dem Gesetz gemäß gerichtet war oder gerichtet werden konnte, tatsächlich zugegangen ist“. Da der Anwalt eine Person ist, an den die Klageschrift gerichtet werden konnte (eben wegen § 172 Abs. 1 Satz 1 ZPO), greife diese rückwirkende Zustellungsfiktion ein, wenn er tatsächlich in den Besitz der Klageschrift gekommen ist. Da seine Prozeßerklärungen eine Kenntnis des Klageinhalts voraussetzen, spreche viel dafür. Dies nun soll das AG, an das der BGH den Rechtsstreit dementsprechend zurückverwiesen hat, in erster Linie aufklären.
Sogar für den Fall, daß bei dieser Aufklärung herauskommen sollte, daß der Anwalt nie das Schriftstück als solches vorliegen hatte, der Weg über „§ 189 ZPO i.V.m. § 172 Abs. 1 Satz 1 ZPO“ also scheitert, weiß der BGH eine Lösung: Das AG müsse dann wegen seiner Prozeßförderungspflicht die Zustellung der Klageschrift an den Anwalt veranlassen. Dadurch jedenfalls schaffe es die bis jetzt nicht vorliegende Voraussetzung dafür, in der Sache zu entscheiden.
Die entscheidende Besonderheit des Rechtsstreits hat der BGH in seinem pfiffigen Lösungsweg übersehen: Es handelte sich um ein „schwebendes Verfahren“ im wahrsten Sinne des Wortes, denn es war unklar, ob zwischen Klägerin und Beklagter überhaupt ein Prozeßrechtsverhältnis zustande gekommen war. Was sie bislang geführt haben, war ein Rechtsstreit über das Vorliegen eines Rechtsstreits, gewissermaßen ein „Als-ob-Prozeß“, als dessen Ergebnis sich herausstellen konnte, daß gar kein Prozeß vorlag. Ein Lehrbuchbeispiel für eine solche Konstellation ist der Fall des allgemein als prozeßunfähig geltenden Klägers: Wer nicht prozeßfähig ist, kann keine wirksame Klage erheben. Aber unter der Geltung des als Teil des Rechtsstaatsprinzips anerkannten allgemeinen Justizgewährungsanspruchs kann auch die Frage der Prozeßfähigkeit verbindlich nur von den Gerichten entschieden werden. Deshalb ist anerkannt, daß jeder, und mag er noch so prozeßunfähig erscheinen, ein Verfahren einleiten kann, wobei in diesem seine Prozeßfähigkeit zunächst fingiert wird.
Im vorliegenden Fall war der Anwalt aufgetreten als Vertreter einer Partei, die möglicherweise gar nicht an dem Verfahren beteiligt war, und zwar gerade um diese Nichtbeteiligung klarzustellen. Und das mit Erfolg: Das AG, das ursprünglich selbst die Zustellung an die Schadenregulierungsbeauftragte veranlaßt hatte und demnach davon ausgegangen war, daß dadurch wirksam ein Rechtsstreit gegen die Beklagte eingeleitet werden konnte (wäre niemand aufgetreten, wäre mit Sicherheit ein Versäumnisurteil ergangen), ließ sich durch die Ausführungen des Anwalts eines Besseren belehren und entschied, daß mangels wirksamer Zustellung in Wirklichkeit kein Prozeßrechtsverhältnis zwischen den Parteien entstanden war, die Beklagte also nur eine Scheinpartei war.
Wenn es aber kein Prozeßrechtsverhältnis zwischen Klägerin und Beklagter gab, dann kann zwischen ihnen weder § 189 ZPO noch § 172 ZPO zur Anwendung kommen. Der BGH will also das Prozeßrechtsverhältnis, das allein zu dem Zweck fingiert ist, sein Bestehen einer gerichtlichen Prüfung zuzuführen, dazu nutzen, es überhaupt erst herzustellen. Dieser Begründungsweg des BGH erinnert an des Freiherrn von Münchhausen Geschichte, er habe sich am eigenen Zopfe aus dem Morast gezogen (mitsamt dem Pferde, auf dem er saß).
Der Irrtum des BGH ist nicht allein ein Logikfehler (petitio principii), sondern führt zu einer handfesten Rechtsschutzverweigerung: Die Entscheidung des BGH bedeutet, daß sich ein Scheinbeklagter in einem Fall wie diesem nicht effektiv gegen den Schein des Bestehens eines Prozeßrechtsverhältnisses verteidigen kann. Denn sobald er einen Anwalt auftreten läßt, gerät er in die Falle der BGH-Lösung, daß er gerade dadurch wirksam zum Beklagten gemacht werden kann. Wenn der Fall, entsprechend dem Streitwert, beim Landgericht anhängig ist, kann er sich aber nur durch einen Anwalt verteidigen lassen. Beim Amtsgericht ist der Scheinbeklagte hingegen selbst postulationsfähig (so daß die spanische Versicherung im hiesigen Fall tatsächlich selbst ihre Argumente hätte vortragen können, der Trick des BGH nicht anwendbar gewesen wäre und also doch die eigentliche Streitfrage des Art. 4 der Richtlinie 2000/26/EG hätte entschieden werden müssen). Doch versteht es sich von selbst, daß die Verhinderung einer qualifizierten juristischen Vertretung vor Gericht durch eine entsprechende fallstrickhafte Auslegung des Verfahrensrechts einer Rechtsschutzverweigerung gleichkommt.
Nachtrag vom 20. September 2012
Zu der in diesem Beitrag nicht behandelten weiteren Frage, ob eine Zustellung(sfiktion) nach ZPO-Regime eine Zustellung nach ZVO-Regime überhaupt ersetzen kann, siehe das derzeit beim EuGH anhängige Verfahren Alder ./. Orlowski (C-325/11), in dem der Generalanwalt am 20. September 2012 Schlußanträge vorgelegt hat.