De legibus-Blog

28. April 2013

Zehn Jahre Gefängnis wegen Lesens eines BGH-Beschlusses

Oliver García

Armin Nack, der Vorsitzende des 1. Strafsenats des BGH, geht übermorgen in den Ruhestand. Sektkorken werden dann vielleicht nicht nur auf der Abschiedsfeier am BGH knallen, sondern auch in Strafverteidigerkanzleien in Baden-Württemberg und Bayern sowie bei Steuerstrafverteidigern in ganz Deutschland. Die Angeklagtenrechte zurückzudrängen, die Strafkammern in ihrer Arbeit möglichst wenig zu behelligen und das Strafniveau konsequent anzuheben, das waren einige der Anliegen, die Nacks Arbeit am BGH in den Jahren nach seiner Beförderung zum Vorsitzenden prägten. Wieweit der 1. Strafsenat dauerhaft durch seine Person geprägt wurde, wird sich in den nächsten Monaten herausstellen. Vielleicht ergeht es Nack wie seinem früheren Kollegen Gerd Nobbe, bis 2009 Vorsitzender des Bankrechtssenats, nach dessen Fortgang der Umschwung in seinem Senat so abrupt war, daß der Pensionär Nobbe sich in der Rolle des schärfsten Kritikers des Bankrechtssenats wiederfand (Krüger, Swap!, myops 14/2012, S. 19), in der Rolle des machtlosen Entscheidungsrezensenten, die er früher belächelt hatte.

In diesem Blog befaßten sich bereits einige Beiträge von mir mit Nack und seinem Senat („Ungeeignete Senatsvorsitzende am BGH: Wenn Richter befremdet sind“, „Bundesgerichtshof: Die schiere Freude am Strafen“). Die Beiträge waren offenbar so kritisch, daß sich ein Leser einmal sogar veranlaßt sah, Nack mir gegenüber vorauseilend in Schutz zu nehmen (meine Antwort).

Am Ende seiner Justizkarriere hatte Armin Nack noch einmal einen aufregenden Fall, in dem er an vorderster Front – nicht aus der typischen Perspektive eines Revisionsrichters – daran beteiligt war, einen Straftäter dingfest zu machen. Das Ende der Ära Nack ist ein schöner Anlaß, über diesen kuriosen Fall zu berichten und ihn zu kommentieren.

Es geht um den Fall Michael Schreiber und darum, wie es Nack gelang, Schreiber zu einem Insassen eines Berliner Gefängnisses zu machen, wo dieser seit ein paar Monaten eine zehnjährige Freiheitsstrafe wegen Betrugs und Steuerhinterziehung absitzt.

Am 18. August 2010 war der damals 63-jährige Schreiber in Südafrika, wo er seit 2003 lebte, aufgrund eines Auslieferungsersuchens aus Deutschland verhaftet worden. Es ging, wie die südafrikanische Zeitung The Star berichtete, aus der Sicht der südafrikanischen Behörden bei der Auslieferung um einen Vollstreckungshaftbefehl, der in Deutschland wegen Bewährungswiderrufs ergangen war. Von einer siebenjährigen Freiheitsstrafe waren noch 1035 Tage zur Vollstreckung offen. Der Bewährungswiderruf erfolgte, so erfährt man bei Gerichtsreporterin Barbara Keller, weil Schreiber nach Erlaß einer Reststrafe gegen eine Bewährungsauflage verstoßen hatte: Er hatte bei einem Umzug seine neue Adresse nicht mitgeteilt.

Am 15. Oktober 2010 wurde Schreiber der deutschen Polizei übergeben. In Deutschland stellte sich heraus, daß gegen Schreiber außer dem Vollstreckungshaftbefehl auch noch ein Haftbefehl des AG Tiergarten vom 23. Juli 2007 vorlag, wegen Taten, die Schreiber nach seiner Haftentlassung im Juni 2001 begangen haben soll. Wegen dieser Taten – Betrug, Urkundenfälschung und Steuerhinterziehung im Zusammenhang mit einem großangelegten fingierten Handel mit hochwertigen Computerprozessoren – wurde vor dem LG Berlin Anklage erhoben und Schreiber wurde am 30. September 2011 zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zehn Jahren verurteilt.

Hiergegen legte Schreiber Revision beim BGH ein, unter anderem mit dem Argument, Anklage und Verurteilung seien nicht zulässig gewesen, da seine Auslieferung aus Südafrika nur wegen des Vollstreckungshaftbefehls bewilligt worden sei. Damit hatte er Erfolg: Mit Beschluß vom 25. Oktober 2012 – 1 StR 165/12 – stellte der 1. Strafsenat das Strafverfahren wegen eines Verstoßes gegen das Völkerrecht vorläufig ein und teilte dem LG Berlin mit, daß der Haftbefehl des AG Tiergarten vom 23. Juli 2007 außer Vollzug zu setzen sei. Schreiber wurde am Tag darauf aus der Untersuchungshaft entlassen.

Dies hatte seinen Grund in dem auslieferungsrechtlichen Grundsatz der Spezialität. Art. 14 Abs. 1 des hier anwendbaren Europäischen Auslieferungsübereinkommens (EuAlÜbk) hat folgenden Wortlaut:

Der Ausgelieferte darf wegen einer anderen, vor der Übergabe begangenen Handlung als derjenigen, die der Auslieferung zugrunde liegt, nur in den folgenden Fällen verfolgt, abgeurteilt, zur Vollstreckung einer Strafe oder Maßregel der Sicherung und Besserung in Haft gehalten oder einer sonstigen Beschränkung seiner persönlichen Freiheit unterworfen werden:

a) wenn der Staat, der ihn ausgeliefert hat, zustimmt. Zu diesem Zweck ist ein Ersuchen unter Beifügung der in Artikel 12 erwähnten Unterlagen und eines gerichtlichen Protokolls über die Erklärungen des Ausgelieferten zu stellen. Die Zustimmung wird erteilt, wenn die strafbare Handlung, derentwegen um Zustimmung ersucht wird, an sich nach diesem Übereinkommen der Verpflichtung zur Auslieferung unterliegt;

b) wenn der Ausgelieferte, obwohl er dazu die Möglichkeit hatte, das Hoheitsgebiet des Staates, dem er ausgeliefert worden ist, innerhalb von 45 Tagen nach seiner endgültigen Freilassung nicht verlassen hat oder wenn er nach Verlassen dieses Gebiets dorthin zurückgekehrt ist.

Im vorliegenden Fall hatte, so der BGH, der Verstoß gegen den Spezialitätsgrundsatz zur Folge, daß das Revisionsverfahren auszusetzen war, um die Zustimmung Südafrikas für die Strafverfolgung einzuholen. Bei Erteilung der Zustimmung werde die rechtswidrige Durchführung des Strafverfahrens rückwirkend geheilt und das Verfahren könne in der Revisionsinstanz fortgesetzt werden; eine Wiederholung der Hauptverhandlung sei nicht erforderlich. Deshalb gab der BGH der Staatsanwaltschaft Berlin mit einer Fristsetzung von zwei Monaten auf, dem Senat mitzuteilen, „ob ein Nachtragsersuchen entsprechend Art. 14 Abs. 1 Buchst. a EuAlÜbk an die zuständigen Behörden der Republik Südafrika auf den Weg gebracht wurde“.

Doch weder auf diese Mitteilung noch überhaupt auf Südafrika kam es im weiteren Verlauf an. Michael Schreiber, der sich nichts Böses dachte, wurde am 22. November 2012, nicht einmal vier Wochen nach seiner Freilassung, in Berlin erneut festgenommen. Der Haftbefehl von 2007 war auf Antrag des Staatsanwalts wieder in Vollzug gesetzt worden. Der Grund: Es war bei der Staatsanwaltschaft ein Brief Schreibers eingegangen, in dem es hieß: „Ich bin vorgestern, am 15.11.2012 in Zürich gewesen.“ Schreiber war sogar so mitteilsam, daß er einige Straßen, durch die ihn sein Weg in Zürich geführt hatte, erwähnte.

Der Staatsanwalt konnte wahrscheinlich sein Glück kaum fassen, denn während er im bisherigen Verfahren das Auslieferungsrecht nur halbherzig beachtet hatte, wußte er nun aufgrund des Einstellungsbeschlusses des BGH vom 25. Oktober 2012 besser Bescheid. Dort stand nämlich wörtlich:

In gleicher Weise kann die Spezialitätsbindung aus Art. 14 EuAlÜbk entfallen, wenn der Ausgelieferte noch nachträglich auf die Einhaltung des Grundsatzes der Spezialität verzichtet und sich mit der uneingeschränkten Strafverfolgung einverstanden erklärt oder wenn – was Art. 14 Abs. 1 Buchst. b EuAlÜbk ausdrücklich zulässt – der Ausgelieferte, obwohl er die Möglichkeit hatte, das Hoheitsgebiet des Staates, dem er ausgeliefert worden ist, innerhalb von 45 Tagen nach seiner endgültigen Freilassung nicht verlassen hat oder er nach Verlassen dieses Gebiets dorthin zurückgekehrt ist und er auf die sich daraus ergebenden Rechtsfolgen bei seiner Freilassung hingewiesen worden war (vgl. dazu BGH, Beschlüsse vom 9. Februar 2012 – 1 StR 148/11 und 1 StR 152/11, aaO).

Da stand sie, die Gebrauchsanweisung für den Fall Schreiber: Er hatte mit seinem Besuch in Zürich Deutschland verlassen und war nun wieder da. Die Spezialitätsbindung ist entfallen!

Da half es auch nichts mehr, daß Schreiber nun zurückruderte. In der Revisionsentscheidung des BGH vom 19. Dezember 2012 ist zu lesen:

(2) Seinen Aufenthalt in Zürich bestätigte er bei seiner erneuten Festnahme in Berlin nach umfassender Belehrung gegenüber einem Polizeibeamten. Ausweislich des Festnahmeberichts vom 22. November 2012 (dort S. 3) gab er an, er sei „vor kurzem tatsächlich für einen Tag in der Schweiz bei einer Treuhandgesellschaft gewesen“. Nachdem ihm im Rahmen des Gesprächs bewusst wurde, dass diese Aus- und erneute Einreise der Grund für die Invollzugsetzung des Haftbefehls war, gab er an: „Dann war ich halt nicht in der Schweiz. Das kann man mir eh nicht nachweisen. An der Grenze finden ja keine Kontrollen mehr statt.“

(3) Bei der Eröffnung des Beschlusses, mit dem der Haftbefehl wieder in Vollzug gesetzt worden war, gab der Angeklagte an, er habe „zwar geschrieben, er sei nach seiner Entlassung in der Schweiz gewesen. Tatsächlich sei er jedoch gar nicht dort gewesen“ (Niederschrift zum Haftbefehlsverkündungstermin vom 22. November 2012).

Nun ging es schnell, wie nach einem Drehbuch: Nur vier Tage später, am 26. November 2012, beantragte die Bundesanwaltschaft, das Revisionsverfahren, das im Oktober vorläufig eingestellt worden war, wieder aufzunehmen und die Revision als offensichtlich unbegründet zu verwerfen. Nachdem die Verteidigung am 14. Dezember 2012 dazu Stellung genommen hatte, entschied der BGH mit Beschluß vom 19. Dezember 2012 – 1 StR 165/12 – dem Antrag der Bundesanwaltschaft gemäß. Seitdem ist die Verurteilung Schreibers zu einer Freiheitsstrafe von zehn Jahren rechtskräftig. Daran änderte auch die von ihm eingelegte Anhörungsrüge nichts: Sie wurde mit einem letzte Woche veröffentlichten Beschluß vom 9. April 2013 – 1 StR 165/12 – zurückgewiesen.

Zur Begründung führte der BGH aus: Schreiber sei „endgültig freigelassen“ gewesen i. S. v. Art. 14 Abs. 1 Buchst. b EuAlÜbk, weil der Haftbefehl von 2007 ohne Auflagen außer Vollzug gesetzt worden war. Maßgeblich sei allein, daß er in seiner Bewegungsfreiheit rechtlich nicht eingeschränkt war. Deshalb sei selbst dann, wenn es auf diese Voraussetzungen für den zweiten Fall des Art. 14 Abs. 1 Buchst. b EuAlÜbk (Wiedereinreise) überhaupt ankommen sollte, durch den Kurzaufenthalt des Angeklagten in der Schweiz die Spezialitätsbindung entfallen.

Diese Rechtsfolge scheitere auch nicht daran, daß – wie die Verteidigung meint – der Angeklagte nicht auf sie „bei seiner Freilassung hingewiesen“ worden sei, eine Anforderung, die der BGH in seinem Oktober-Beschluß ausdrücklich aufgestellt hatte (siehe vorletztes Zitat). Dieses Vorbringen der Verteidigung war die härteste Nuß, die der BGH zu knacken hatte, denn in der Tat hatte gegenüber Schreiber eine ausdrücklich Belehrung nie stattgefunden. In einem früheren Fall, in dem der 1. Strafsenat sich mit der auslieferungsrechtlichen Spezialität zu befassen hatte (Beschluß vom 9. Februar 2012 – 1 StR 148/11), hatte Armin Nack sich noch die Mühe gemacht, dem Angeklagten einen Brief zu schreiben:

Mit Schreiben vom 12. August 2011, dem Angeklagten zugegangen am 18. August 2011, hat der Vorsitzende des Senats den Angeklagten und seine Verteidiger auf die Rechtswirkungen eines Verbleibs des Angeklagten in der Bundesrepublik Deutschland gemäß der Art. 14 Abs. 1 Buchst. b EuAlÜbk, Art. 38 Abs. 2 Buchst. b Nr. 1 Schweizerisches IRSG hingewiesen.

Im Fall Schreiber lautete die pfiffige Antwort des Senats so: Die Passage in dem Oktober-Beschluß über die Rechtswirkungen von Art. 14 Abs. 1 Buchst. b EuAlÜbk sei selbst der Hinweis. Und er reiche aus, weil Schreiber selbst den Beschluß gelesen hatte. Ebenso wie schon bei der Frage seines Aufenthalts in der Schweiz sah sich der Senat in der Lage, dies als bewiesen anzusehen. Einmal mehr erwies sich Schreibers briefliches Mitteilungsbedürfnis als Eigentor. Er hatte nämlich nicht nur an die Staatsanwaltschaft Berlin geschrieben, sondern – mit Datum vom 5. November 2012 – auch an das LG Berlin. In diesem als „Memorandum“ bezeichnetem Schreiben heißt es, er habe „sehr aufmerksam den Beschluss des BGH durchgelesen“.

Seine Briefe haben ihn also doppelt reingeritten und sein Schicksal in Form einer zehnjährigen Freiheitsstrafe besiegelt – könnte man sagen. Man könnte aber auch sagen: Der Betrüger wurde betrogen und die BGH-Entscheidung ist sowohl rechtsstaats- als auch völkerrechtswidrig. Die Begründung dafür lautet so:

Wie kam der BGH überhaupt auf die in seinem Oktober-Beschluß aufgestellte Voraussetzung, daß der Angeklagte auf die Rechtsfolgen von Art. 14 Abs. 1 Buchst. b EuAlÜbk hingewiesen werden müsse? Weder im EuAlÜbk noch im deutschen IRG ist etwas dazu zu finden. Diese Frage ist in der Literatur gestellt worden und dort versuchsweise so beantwortet worden (Inhofer, BeckOK IRG § 83h, 11a): Da diese Voraussetzung aufkam in dem schon angesprochenen Beschluß vom 9. Februar 2012 – 1 StR 148/11 – und dieser Fall eine Auslieferung aus der Schweiz betraf, sei sie nur mit Art. 38 Abs. 2 Buchst. B Nr. 1 Schweizerisches IRSG zu erklären. Im vorliegenden Südafrika-Fall fehlt aber eine solche ausdrückliche Regelung (auch im südafrikanischen Recht). Im Ergebnis ist aber diese Voraussetzung hier richtig vom BGH aufgestellt, denn sie ergibt sich schlicht aus der rechtsstaatlichen Fürsorgepflicht der Justiz, die selbst einen rechtswidrigen Zustand herbeigeführt hatte. Wie der BGH feststellte, war der Angeklagten in rechtswidriger (völkerrechtswidriger) Weise angeklagt und verurteilt worden. Der Schwebezustand, den der BGH mit der vorläufigen Einstellung herbeiführte, ist eine in Art. 14 EuAlÜbk nicht geregelte Situation. Das EuAlÜbk verbot die Anklage im vorliegenden Fall, sagt aber nichts dazu, was gilt, wenn trotzdem angeklagt wurde. Hier war der BGH aufgerufen, rechtsgestaltend eine angemessene Lösung zu finden und die Handlungsoptionen des Angeklagten klar auszusprechen. Seine Lösung war aus mehreren Gründen nicht angemessen:

Schon der Ansatzpunkt des BGH war falsch, wenn er schrieb, der Angeklagte sei „endgültig freigelassen“ gewesen, weil der Haftbefehl von 2007 ohne Auflagen außer Vollzug gesetzt worden war. Auf diesen Haftbefehl kam es gar nicht an. Wenn Art. 14 Abs. 1 Buchst. b EuAlÜbk von „endgültiger Freilassung“ spricht, dann meint er damit eine Freilassung in dem Verfahren, für das die Auslieferung bewilligt wurde, nicht in dem Verfahren, dem der Spezialitätsgrundsatz entgegensteht. Der BGH hätte also im Rahmen seiner Begründung abstellen müssen auf das Vollstreckungsverfahren (die wegen Bewährungswiderrufs noch offenen 1035 Tage, wegen derer der Vollstreckungshaftbefehl ausgestellt worden war). Was aus dieser Strafhaft und dem dazugehörigen Haftbefehl geworden ist, derentwegen Schreiber überhaupt ausgeliefert wurde, ist weder dem Oktober- noch dem Dezemberbeschluß des BGH zu entnehmen. Aber allein auf sie kam es an.

Der BGH hat – fast scheint es, absichtlich – für Verwirrung in seinem Oktober-Beschluß gesorgt, indem er mit Nr. 2 des Tenors der Staatsanwaltschaft aufgab, ein Nachtragsersuchen nach Art. 14 Abs. 1 Buchst. a EuAlÜbk auf den Weg zu bringen und dem Senat innerhalb einer Frist von zwei Monaten mitzuteilen, ob dies geschehen ist. Diese Fristsetzung ging aber von vornherein ins Leere, wenn man die Rechtsmeinung aus dem Dezember-Beschluß zugrundelegt: Diese besagt, daß Schreiber gezwungen war, binnen 45 Tagen nach seiner Freilassung aus der Untersuchungshaft (sie erfolgte, wie vom BGH veranlaßt, am Tag nach dem Oktoberbeschluß) Deutschland zu verlassen, um Rechtsnachteile zu vermeiden. Hätte Schreiber dies getan, wäre es bei der vorläufigen Einstellung geblieben (§ 205 StPO). Hätte Schreiber hingegen Deutschland nicht binnen der 45 Tage verlassen, wäre gemäß Buchstabe b von Art. 14 Abs. 1 EuAlÜbk die Spezialitätsbindung ohne Rücksicht auf die Position der Südafrikaner (diese hatten laut BGH-Beschluß selbst das Nachtragsersuchen angeregt) entfallen. So oder so hätte sich aus der Sicht des Oktober-Beschlusses nach spätestens 45 Tagen das Problem der Spezialität also von selbst erledigt. Die gegenüber der Staatsanwaltschaft ausgesprochene Fristsetzung von zwei Monaten (die Bemessung der Frist wurde vom BGH sogar mit den Interessen des Angeklagten – Art. 6 Abs. 1 MRK – begründet) ergab deshalb keinen Sinn.

Der Aufforderung an die Staatsanwaltschaft in Tenor Nr. 2 kam also von vornherein keinerlei Bedeutung zu. Sie kann nur auf zwei Wegen erklärt werden: Entweder als bewußtes Täuschungsmanöver – eine kriminalistische Falle für Schreiber – oder als Zeichen, daß der BGH selbst nicht die Konsequenzen seines Rechtsstandpunkts überschaute. Wenn es letzteres ist (über die Rechtsfolgen des ersteren braucht man nicht zu diskutieren), dann ist dies zugleich der Beleg dafür, daß die Rechtslage in diesem (vom EuAlÜbk nicht vorgesehenen) Fall völlig unklar war und der Angeklagte aus rechtsstaatlichen Gründen einer qualifizierten Belehrung bedurfte. Dies um so mehr, als für einen Bürger die Bereitschaft, sich für ein anhängiges Gerichtsverfahren präsent zu halten, im Regelfall ohnehin die rechtlich geforderte Handlungsweise ist. Wenn das Gesetz hingegen für die Rechtewahrung zur Flucht zwingen sollte, so kann einem Angeklagten die Ermittlung dieser Rechtslage nicht ohne weiteres überlassen werden. Wenn die unklare Rechtslage auch noch durch ein Fehlverhalten der Justiz (völkerrechtswidrige Inhaftierung und Anklage) ausgelöst wurde, werden diese Anforderungen weiter gesteigert.

Wie unter diesen Voraussetzungen der 1. Strafsenat des BGH ernsthaft argumentieren kann, daß Schreiber ausreichende Hinweise auf die Rechtslage und seine Verhaltensoptionen hatte, weil er im Oktober-Beschluß folgende Passage las, ist nicht nachvollziehbar (hier zur besseren Lesbarkeit – die der vermeintliche Adressat nicht hatte – gekürzt):

In gleicher Weise kann die Spezialitätsbindung aus Art. 14 EuAlÜbk entfallen, wenn […] der Ausgelieferte, obwohl er die Möglichkeit hatte, das Hoheitsgebiet des Staates, dem er ausgeliefert worden ist, innerhalb von 45 Tagen nach seiner endgültigen Freilassung nicht verlassen hat oder er nach Verlassen dieses Gebiets dorthin zurückgekehrt ist und er auf die sich daraus ergebenden Rechtsfolgen bei seiner Freilassung hingewiesen worden war ([…]).

Daß der BGH das aber tatsächlich ernst meint, liest man im Dezember-Beschluß so:

Damit war der Angeklagte so deutlich über die Rechtsfolgen des Art. 14 Abs. 1 Buchst. b EuAlÜbk unterrichtet, dass er sie unschwer erfassen konnte. Besondere Anhaltspunkte dafür, der Angeklagte könnte nicht in der Lage gewesen sein, die aufgezeigten Rechtsfolgen zu verstehen (vgl. zu § 136 StPO: BGH, Urteil vom 16. März 1993 – 1 StR 888/92, NStZ 1993, 395), sind weder dargetan noch sonst ersichtlich.

Selbst wenn man dem BGH seine Überzeugung, Schreiber hätte den Oktober-Beschluß besonders sorgfältig studiert, abnimmt, würde gerade dies für die Frage der Unterrichtung das Gegenteil belegen: Wenn ein Adressat eines solchen Textes – zumal ein juristischer Laie – komplizierte Ausführungen liest und der Nachsatz lautet „und er auf die sich daraus ergebenden Rechtsfolgen bei seiner Freilassung hingewiesen worden ist“, dann ist seine natürlichste Reaktion, daß er sich nicht näher hineindenken muß, weil er ohnehin „bei der Freilassung“ auf die (konkreten) „sich daraus ergebenden Rechtsfolgen“ hingewiesen wird. Später aber zu erfahren, dieser Text selbst sei schon der Hinweis gewesen, kann nicht anders als eine Lehrstunde in Zynismus erscheinen.

Wie kompliziert der zitierte, angeblich ausreichende Hinweis ist, kann man auch dem Umstand entnehmen, daß Art. 14 Abs. 1 Buchst. b EuAlÜbk im Oktober-Beschluß mit einem anderen Inhalt erläutert wurde als im Dezember-Beschluß. Während in letzterem Beschluß (wohl zutreffend) klargestellt ist, daß der Fall der Wiedereinreise nicht das Verstreichen der Schonfrist von 45 Tagen als Voraussetzung hat, war im Oktober-Beschluß noch umgekehrt (oder zumindest mißverständlich) zu lesen: „oder wenn nach Verstreichen der Schonfrist des Art. 14 Abs. 1 Buchst. b EuAlÜbk die dort genannten Voraussetzungen erfüllt sind“.

Mit Rechtsstaatlichkeit hat also das Vorgehen des 1. Strafsenats gegen Schreiber nichts zu tun. Eine Verfassungsbeschwerde erscheint aussichtsreich, falls sie rechtzeitig eingelegt wurde oder noch werden kann. Da die Strafvollstreckung aber auch eine Fortsetzung und Vertiefung des Völkerrechtsverstoßes ist, den Deutschland gegenüber Südafrika begangen hat, könnte auch die südafrikanische Regierung durch einen völkerrechtlichen Protest eine Freilassung Schreibers bewirken.

Was darüber hinaus die Bewertung dieses Vorgehens betrifft, kann man darüber streiten, ob es sich um einen Geniestreich – den Streich eines bösen Genies – handelt, um einen häßlichen Winkelzug oder um Bauernschläue, auf die – wie jemand anderes einmal schrieb – manche Richter stolz sind.

Zitiervorschlag für diesen Beitrag:
https://blog.delegibus.com/3326

Rückverweis URL
  1. […] Ruhestand des Vorsitzenden des 1. Strafsenats des BGH, und seine Folgen, siehe auch […]

    Pingback von Wochenspiegel für die 18. KW, das waren die "Nachrückertombola", die Causa Hoeneß und das Kontaktverbot in Düren - JURION Strafrecht Blog — 5. Mai 2013 @ 10:45