De legibus-Blog

25. März 2013

Der Deal bekommt Bewährung

Andrea Groß-Bölting

Das Bundesverfassungsgericht hat mit seinem Urteil vom 19. März 2013 (2 BvR 2628/10 u.a.) über die Verfassungsmäßigkeit der gesetzliche Regelung der Verständigung in Strafsachen entschieden und stellt in den Leitsätzen 3 und 4 Folgendes klar:

Das Verständigungsgesetz sichert die Einhaltung der verfassungsrechtlichen Vorgaben (das im Grundgesetz verankerte Schuldprinzip und die mit ihm verbundene Pflicht zur Erforschung der materiellen Wahrheit sowie der Grundsatz des fairen, rechtsstaatlichen Verfahrens, die Unschuldsvermutung und die Neutralitätspflicht des Gerichts) in ausreichender Weise. Der in erheblichem Maße defizitäre Vollzug des Verständigungsgesetzes führt derzeit nicht zur Verfassungswidrigkeit der gesetzlichen Regelung.

Mit den Vorschriften des Verständigungsgesetzes hat die Zulassung von Verständigungen im Strafverfahren eine abschließende Regelung erfahren. Außerhalb des gesetzlichen Regelungskonzepts erfolgende sogenannte informelle Absprachen sind unzulässig.

Sehr deutlich hat das Bundesverfassungsgericht zum Ausdruck gebracht, was beim Deal zulässig ist und was nicht:

  • Gerichte dürfen das verständigungsbasierte Geständnis nicht nur durch einen bloßen Abgleich mit der Aktenlage überprüfen, „da dies keine hinreichende Grundlage für die erforderliche Überzeugungsbildung aus dem Inbegriff der Hauptverhandlung (§ 261 StPO) darstellt und mit einem solchen Verständnis dem Transparenzanliegen des Verständigungsgesetzes und der Ermöglichung einer wirksamen Kontrolle verständigungsbasierter Urteile gerade nicht Rechnung getragen werden könnte“ (Rnr. 71 des Urteils);
  • eine Strafrahmenverschiebung darf nicht Gegenstand einer Verständigung sein, und „zwar auch dann nicht, wenn sie sich auf Sonderstrafrahmen für besonders schwere oder minder schwere Fälle im Vergleich zum Regelstrafrahmen bezieht“ (Rnr. 74 des Urteils);
  • die Verständigung muss zwingend in der Hauptverhandlung stattfinden, weil nur dort die Protokollierung nach § 273 Abs. 1a Satz 1 StPO und damit die bezweckte Kontrolle gewährleistet ist. Es ist zu protokollieren, „wer die Anregung zu den Gesprächen gab und welchen Inhalt die einzelnen „Diskussionsbeiträge“ aller Verfahrensbeteiligten sowie der Richter hatten, insbesondere von welchem Sachverhalt sie hierbei ausgingen und welche Ergebnisvorstellungen sie äußerten“ (Rnr. 86);
  • die Öffentlichkeit muss durch Information über alles, was zur Beurteilung der Angemessenheit einer etwaigen Verständigung erforderlich ist, ihre Kontrollfunktion ausüben können (Rnr. 89).

Diese Punkte sind nicht sensationell, sie ergeben sich aus dem Gesetz und sind mit den Mitteln der Gesetzesauslegung, die wir Juristen irgendwann einmal in unserer Ausbildung gelernt haben, durchaus ermittelbar.

Sensationell ist eher die Klarheit, mit der das Bundesverfassungsgericht den Gesetzesvollzug als in weiten Teilen rechtswidrig bezeichnet (Rnr. 117 des Urteils):

Die repräsentative empirische Erhebung von Prof. Dr. Altenhain, die Anhörung der Auskunftspersonen in der mündlichen Verhandlung, aber auch die schriftlichen Stellungnahmen zu den Verfassungsbeschwerden und die vorliegende obergerichtliche Rechtsprechung zeigen zwar, dass Gerichte, Staatsanwaltschaften und Verteidigung in einer hohen Zahl von Fällen die gesetzlichen Vorgaben missachten und die Rechtsmittelgerichte der ihnen zugewiesenen Aufgabe der Kontrolle der Verständigungspraxis nicht immer in genügendem Maße nachgekommen sind. Aus diesem empirischen Befund kann jedoch derzeit noch nicht auf ein in der Norm selbst angelegtes und daher zu deren Verfassungswidrigkeit führendes Versagen der zur Gewährleistung der verfassungsrechtlichen Vorgaben normierten Schutzmechanismen geschlossen werden.

Dies ist ein für mich bislang einmaliger Vorgang. Nicht verschämt, nicht dezent versteckt, sondern offen wird einer erheblichen Anzahl von Richtern attestiert, sich nicht an geltendes Recht zu halten, sondern nach eigenen Vorstellungen zu handeln und sich über das Gesetz zum Zwecke besserer Praktikabilität und zur Vermeidung eines unnötigen Formalismus hinwegzusetzen. Der logisch nächste Schritt wäre die Frage nach der Legitimität derartiger gerichtlichen Entscheidungen. Danach stellt sich die Frage nach der (verfassungsrechtlichen) Konsequenz der nicht vorhandenen oder zumindest stark beschädigten Legitimität solcher Entscheidungen und deren Bestandskraft. Diese Fragen hat das Bundesverfassungsgericht aber nicht diskutiert. In den drei entschiedenen Fällen war die Konsequenz die Aufhebung der Entscheidungen der Fachgerichte. Im Übrigen hat das BVerfG die Verfahrensbeteiligten und den Gesetzgeber für die Zukunft verpflichtet.

Der Gesetzgeber muss die weitere Entwicklung sorgfältig im Auge behalten (Rnr. 121 des Urteils):

Sollte sich die gerichtliche Praxis weiterhin in erheblichem Umfang über die gesetzlichen Regelungen hinwegsetzen und sollten die materiellen und prozeduralen Vorkehrungen des Verständigungsgesetzes nicht ausreichen, um das festgestellte Vollzugsdefizit zu beseitigen und dadurch die an eine Verständigung im Strafverfahren zu stellenden verfassungsrechtlichen Anforderungen zu erfüllen, muss der Gesetzgeber der Fehlentwicklung durch geeignete Maßnahmen entgegenwirken.

Der Staatsanwaltschaft wird in der Verständigungssituation eine herausgehobene Bedeutung bei der Kontrolle der Einhaltung der gesetzlichen Vorschriften zugeschrieben.

Die Rechtsmittelgerichte werden aufgefordert, einen Verstoß gegen die Transparenz- und Dokumentationspflichten grundsätzlich mit der Folge der Rechtswidrigkeit einer gleichwohl getroffenen Verständigung zu versehen (Rnr. 97 des Urteils):

Hält sich das Gericht an eine solche gesetzwidrige Verständigung, wird ein Beruhen des Urteils auf diesem Gesetzesverstoß regelmäßig schon deshalb nicht auszuschließen sein, weil die Verständigung, auf der das Urteil beruht, ihrerseits mit einem Gesetzesverstoß behaftet ist. Bei einem Verstoß gegen Transparenz- und Dokumentationspflichten wird sich nämlich in den meisten Fällen nicht sicher ausschließen lassen, dass das Urteil auf eine gesetzwidrige „informelle“ Absprache oder diesbezügliche Gesprächsbemühungen zurückgeht.

Die Tatgerichte werden verpflichtet, sich an das Gesetz zu halten. Doch reicht das? Wird es helfen, der gesetzwidrigen Praxis endlich Fesseln anzulegen?

Klar ist seit der Entscheidung, dass sich Richter und andere Verfahrensbeteiligte nicht mehr auf einen Verbotsirrtum, eine divergierende Auslegung berufen können, wenn sie am Gesetz vorbei dealen. Klar ist auch, dass das Bundesverfassungsgericht mit seinem Urteil die Strafbarkeitsrisiken für die Verfahrensbeteiligten bei gesetzwidrigem Dealen benannt und damit erhöht hat (Rnr. 78 des Urteils). Und schließlich ist klar, dass die Einschätzung, dass der in erheblichem Maße defizitäre Vollzug des Verständigungsgesetzes derzeit nicht zur Verfassungswidrigkeit der gesetzlichen Regelung führe, eben nur vorläufig ist. Die Verfahrensbeteiligten stehen gewissermaßen unter Bewährung. Das ist spannend. Nicht nur, weil es Richter und Staatsanwälte bildlich auf „die andere Seite des Tisches“ zieht und ihnen vermittelt, was es bedeutet, unter Bewährung zu stehen. Es ist auch spannend, weil das Gelingen einer Bewährung von dem Maß der Erkenntnis in eigenes Fehlverhalten bestimmt wird. Es ist also echte Reue gefragt.

Auch wenn die Verhängung der Bewährung durch das Bundesverfassungsgericht in erster Linie die Justiz – Gerichte und Staatsanwaltschaften – betrifft, stellen sich für Strafverteidiger die interessanten Fragen, was das für ihre Praxis bedeutet und was die Folge einer etwaigen Fortsetzung der rechtswidrigen Absprachepraxis sein wird.

Ganz pragmatisch muss eine Folge des Urteils sein, dass auch Verteidiger nun wieder alle Verfahrensakten lesen und sich die Kenntnis vieler TKÜ-Aufzeichnungen, Beiakten, Protokolle etc. nicht durch eine Verständigung noch vor Beginn der Hauptverhandlung ersparen können. Das wird den ökonomischen Gewinn des Gentlemen-agreements auf dem Gang so deutlich schmälern, dass die geringe zeitliche Ersparnis im Vergleich zum kontradiktorischen Verfahren wieder Lust auf den „guten, alten Strafprozess“ machen könnte.

Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts ruft daneben uns Verteidigern wieder ins Bewusstsein, dass die Freiheit der Willensentschließung unserer Mandanten von Verfassungs wegen zu schützen ist. Das gibt Anlass für Strafverteidiger, sich mit den Motiven aus einander zu setzen, warum der Deal auch bei ihnen so beliebt ist. Ist es die Angst vor dem Konflikt, die Müdigkeit, sich nicht wieder streiten zu wollen, die tiefsitzende Wirkung vieler Frustrationen, die man einfach nicht mehr will, welche den Deal so beliebt macht? Ist es das gute Verhältnis zu den Juristenkollegen, den Richtern und Staatsanwälten, von denen man in den Kantine lieber freundlich gegrüßt als bewusst übersehen wird? Ist es wirklich das viel zitierte Mandanteninteresse? Und ist das – nachvollziehbare – Mandanteninteresse an einer möglichst geringen oder zu umgehenden Bestrafung, dem Strafverteidiger gesetzlich sowieso nicht schrankenlos folgen dürfen, legitimerweise die einzige Handlungsmaxime?

Ohne die meist nur zur Auferlegung von Pflichten betonte Stellung des Strafverteidigers als Organ der Rechtspflege zu bemühen, müssen sich Verteidiger meines Erachtens – spätestens nach dieser Entscheidung – Gedanken über die langfristigen Folgen einer immer stärker ausufernden Deal-Praxis auch für das Institut der Strafverteidigung selbst machen. Die vom Bundesverfassungsgericht in Auftrag gegebene Studie von Prof. Dr. Altenhain nennt für gedealte Verfahren Zahlen von ca. 20 % aller Fälle. Die Risiken, den kontradiktorischen Strafprozess zu verlernen und ihn durch unreflektierte Lust am Konsens zu demontieren, sind groß. Die Entwicklung des (Straf[prozess])Rechts lebt vom Diskurs, von der Unermüdlichkeit, mit der Verfahrensbeteiligte Argumente vortragen, kreative Anträge stellen und Gerichte zum Denken zwingen. Ich sehe die Gefahr, dass uns Verteidigern ein immer größer werdender Erwartungsdruck trifft, durch Druck auf unsere Mandanten „schlanke Verfahren“ zu ermöglichen. Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts kann insofern für uns als schützende Klarstellung verstanden werden, dass der Konsens von der Konzeption der Strafprozessordnung nicht gemeint und nicht gewollt ist.

Sollte sich die „informelle Absprachepraxis“ fortsetzen, können sich auch Verteidiger strafbar machen. Das Wegdealen von besonders schweren Fällen oder Qualifikationstatbeständen kann den Tatbestand der Strafvereitelung verwirklichen. Daneben ist die Anstiftung zur Falschbeurkundung im Amt und zur Rechtsbeugung denkbar. Im Verhältnis zu unseren Mandanten stellt sich die Frage der Nötigung, ferner der Teilnahme an Freiheitsberaubung oder Verfolgung Unschuldiger.

Auch wenn mir persönlich das Urteil des Bundesverfassungsgerichts nicht weit genug geht, empfinde ich es als heilsamen Schritt, dass die professionellen Verfahrensbeteiligten des Strafverfahrens allesamt dadurch vom Verfassungsgericht beschämt werden, dass man ihnen den Wert des Geltungsanspruchs des Gesetzes und den Wert der schützenden Form der Prozessvorschriften vor Augen führen muss. Die Schmähung der Form als „Förmelei“ bekommt den verdienten Dämpfer. Der Edukationseffekt, den verfassungsgerichtliche Entscheidungen haben sollen, könnte hier kaum klarer hervortreten. Das begrüße ich.

Mit dem den Strafverteidigern eigenen, unverwüstlichen Glauben an die Veränderbarkeit menschlichen Verhaltens wünsche ich uns professionell am Strafverfahren Beteiligten eine erfolgreiche Bewährungszeit.

Nachtrag vom 28. März 2013

Zu dieser Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts ist in der ZEIT vom 27. März 2013 ein Artikel von RiBGH Prof. Dr. Thomas Fischer, stellvertretender Vorsitzender des 2. Strafsenats, mit der Überschrift „Der Deal zerstört das Recht“ erschienen.

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  1. […] Deal auf Bewährung, obwohl: Den “Deal” gibt es ja gar nicht bzw. darf es nicht (mehr) […]

    Pingback von Wochenspiegel für die 13. KW, das war der Fall Mollath, das NSU-Verfahen, der Deal auf Bewährung und der Bollerwagen im Gericht - JURION Strafrecht Blog — 31. März 2013 @ 11:55