Ich habe gerade das Reichsgesetzblatt Teil II 1923 quergelesen, um mein Buch „Fundstellen deutscher Reichs- und Bundesgesetze“ voranzubringen. In den Grundsätzen für den Vollzug von Freiheitsstrafen vom 7. Juni 1923 (RGBl. II 1923 S. 263) stieß ich dabei zu meinem Erstaunen auf den Begriff „geistig Minderwertige“.
Cornelia Schmitz-Berning (Vokabular des Nationalsozialismus, Berlin, 2000, S. 407) schreibt, im NS-Staat habe der Ausdruck „minderwertig“ im Kontext des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses vom 14. Juli 1933 (RGBl. I 1933 S. 529), des Gesetzes zum Schutze der Erbgesundheit des deutschen Volkes (Ehegesundheitsgesetz) vom 18. Oktober 1935 (RGBl. I 1935 S. 1246), der Ausmerze „Asozialer“ und in letzter Konsequenz der Vernichtung „lebensunwerten Lebens“ gestanden. In den Gesetzesformulierungen selbst sei der Ausdruck nicht vorgekommen.
Es scheint mir aber so, dass „rassenhygienisches“ Gedankengut und das damit über Menschen mit geistigen Behinderungen gebrachte Leid bereits während der Weimarer Republik nicht nur in den pseudowissenschaftlichen Schriften der Eugeniker, sondern auch in Texten mit normativem Charakter, eben dem genannten Staatsvertrag, existierte. Dieser dürfte dann mangels eines Strafvollzugsgesetzes auch zur Zeit des Nationalsozialismus fortgegolten haben. Für „geistig Minderwertige“ waren nach § 5 Abs. 1 der Grundsätze nach Bedarf besondere Anstalten oder Abteilungen einzurichten. Gefangene, die nach dem Gutachten des Anstaltsarztes geistig so „minderwertig“ sind, dass sie nicht im regelmäßigen Strafvollzuge gehalten werden können, sollten nach § 213 Abs. 1 der Grundsätze in den besonderen Anstalten oder Abteilungen für „geistig Minderwertige“ untergebracht werden. Bei der Behandlung „geistig Minderwertiger“ konnte nach § 215 Abs. 1 der Grundsätze, und zwar auch dann, wenn sie nicht in besonderen Anstalten oder Abteilungen untergebracht sind, mit Rücksicht auf ihren Geisteszustand auf Antrag des Anstaltsarztes von den sonst bestehenden Vorschriften „abgewichen“ werden.
Nachtrag: Siehe dazu auch das Manuskript der Rede des Präsidenten der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde (DGPPN) vom 23. November 2010.