Die politische Wende im Herbst 1989 erlebte ich als Schüler einer achten Klasse an einer Polytechnischen Oberschule. Mit dieser Klassenstufe begann – jedenfalls bei uns auf dem Dorf – damals der Staatsbürgerkundeunterricht. Dieser sollte uns ein gefestigtes Klassenbewusstsein und das Bekenntnis zum Arbeiter-und-Bauern-Staat vermitteln. Wir kamen angesichts der politischen Ereignisse nicht weit damit. Als uns das Gerücht erreicht hatte, der Unterricht werde insoweit eingestellt, zerrissen wir Schüler in spontaner Reaktion darauf jubelnd die Lehrbücher (André Schneider war dabei der Mutigste). Die uns deshalb von der Schuldirektorin angedrohten Konsequenzen blieben vollständig aus. Das erste Kraftfahrzeug westlicher Produktion hatte dann kurze Zeit darauf unser ehemaliger Staatsbürgerkundelehrer, zugleich ehemaliges SED-Mitglied. Er erklärte später, er habe es – das Politische – nicht besser einzuschätzen gewusst. Die politische Erziehung wurde dann am Gymnasium mit gegenläufigem Vorzeichen im Geschichtsunterricht und einem Fach namens Gesellschaft, Recht und Wirtschaft fortgesetzt, auch anhand von Materialien der Bundeszentrale für politische Bildung.
Man wird sich vorstellen können, dass ein solches Erlebnis zu Misstrauen gegenüber staatlich veranstalteter politischer Erziehung führt. Als nächstes kam ich damit als Kriegsdienstverweigerer und deshalb Ersatzdienstleistender in Berührung. Ich wurde aufgefordert, an einem einwöchigen Lehrgang der Bundeszentrale für politische Bildung teilzunehmen. Das habe ich im jugendlichen Überschwang als politische Indoktrination abgelehnt.
Mit der Bundeszentrale für politische Bildung habe ich mich dann spätestens im Studium der Rechtswissenschaften versöhnt, nämlich als ich erfuhr, dass man von dort Bücher kostenlos oder für wenig Geld beziehen könne. Für meine Begriffe richtig gute Sachen waren zwar selten darunter, aber tatsächlich habe ich noch heute ein mit viel Gewinn gelesenes Buch von Volker Grassmuck, Freie Software. Zwischen Privat- und Gemeineigentum, Bonn 2002, aus der Reihe Themen und Materialien der Bundeszentrale für politische Bildung in meinem Regal stehen.
Damit kommen wir nun langsam auf den Punkt. In derselben Reihe Themen und Materialien soll Ende des Jahres 2012 das Handbuch Praktische Geschichtsvermittlung in der Migrationsgesellschaft erscheinen. Es handelt sich um eine Materialiensammlung, mit welcher der Versuch unternommen werden soll, noch vorhandene Lücken in der Vermittlung von bestimmten Aspekten der Zeitgeschichte zu füllen. Dazu erreichte die dejure.org Rechtsinformationssysteme GmbH, gesetzlich vertreten von Oliver García, am 5. Oktober 2012 ein Schreiben der Bundeszentrale für politische Bildung vom 18. September 2012 zum Aktenzeichen FBC-2117/42. Man wolle in dem genannten Lehrwerk einen Text von ihm verwenden und bitte um Einverständnis. Bei dem Text handelt es sich um den Folgenden:
M1 – Grundgesetz Artikel 16
Grundgesetz Artikel 16a (1949). Politisch Verfolgte genießen Asylrecht.
Grundgesetz Artikel 16a (geändert und ergänzt 1993). (1) Politisch Verfolgte genießen Asylrecht.
(2) [1] Auf Absatz 1 kann sich nicht berufen, wer aus einem Mitgliedstaat der Europäischen Gemeinschaften oder aus einem anderen Drittstaat einreist, in dem die Anwendung des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge und der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten sichergestellt ist. [2] Die Staaten außerhalb der Europäischen Gemeinschaften, auf die die Voraussetzungen des Satzes 1 zutreffen, werden durch Gesetz […] bestimmt.
(3) [1] Durch Gesetz […] können Staaten bestimmt werden, bei denen auf Grund der Rechtslage, der Rechtsanwendung und der allgemeinen politischen Verhältnisse gewährleistet erscheint, dass dort weder politische Verfolgung noch unmenschliche oder erniedrigende Bestrafung oder Behandlung stattfindet. [2] Es wird vermutet, dass ein Ausländer aus einem solchen Land nicht verfolgt wird.Quelle: http://dejure.org/gesetze/GG/16a.html.
Oliver García erklärte am Abend des Eingangstages per E-Mail, man sei natürlich damit einverstanden.
Bei diesem Vorgang ging, obwohl alle Beteiligten wohl von Anfang im „richtigen“ politischen System erzogen wurden, auf so vielen Ebenen etwas schief, dass ich hierauf einmal im Einzelnen eingehen muss:
- Der Text soll laut Überschrift von Art. 16 GG handeln, beschäftigt sich aber mit (einem) Art. 16a GG.
- Es gibt keinen Art. 16a GG 1949. Wiedergegeben ist der Text von Art. 16 Abs. 2 S. 2 GG 1949.
- Art. 16a GG 1993 wird in unredlicher Weise zitiert (siehe die dazu angefertigte Synopse). Ohne Hinweis darauf, dass der Text unvollständig wiedergegeben ist („[…]“), werden Art. 16a Abs. 2 S. 3, Abs. 4 und Abs. 5 GG unterschlagen. Art. 16a Abs. 3 S. 2 GG wird dahingehend verfremdet, dass aus dem Wort „Staat“ das Wort „Land“ und der Nebensatz „solange er nicht Tatsachen vorträgt, die die Annahme begründen, daß er entgegen dieser Vermutung politisch verfolgt wird“ weggelasssen wird. Es drängt sich der Eindruck auf, dass die Schüler vor all den Formulierungen verschont werden sollen, die man im Asylrecht politisch kritisieren könnte.
- Auf dejure.org ist die Fassung des Grundgesetzes von 1949 entgegen der Quellenangabe nicht nachgewiesen. Jemand hat also, was den angeblichen Art. 16a GG 1949 angeht, seine noch vorhandenen Lücken in der Zeitgeschichte durch freie Dichtung geschlossen. Es wurde offenbar nicht einmal der Versuch unternommen, die historische Fassung einzusehen. Schon die für 1949 angegebene Buchstaben-Nummerierung des Artikels hätte aber Zweifel aufkommen lassen müssen.
- Als Quelle für einen Gesetzestext wird nicht das Bundesgesetzblatt, sondern ein privater Anbieter angegeben.
- Obwohl Zitate nach § 51 UrhG zulässig sind, wird für ein solches um Einverständnis gebeten.
- Obwohl amtliche Werke, insbesondere Gesetze, nach § 5 Abs. 1 UrhG überhaupt keinen urheberrechtlichen Schutz genießen, wird für das Abdrucken um Einverständnis gebeten.
- Eine staatliche Stelle bittet einen Privaten um Einverständnis für das Abdrucken eines amtlichen Werks.
- Es wird ein Privater um Einverständnis gebeten, der den Text nicht verfasst hat.
- Oliver García erklärt das ihm nicht zustehende Einverständnis. Die formalen Fehler sind dabei auch ihm nicht aufgefallen.
Mache ich aus einer Mücke einen Elefanten? Vielleicht, vielleicht aber auch nicht. Bei den Herausgebern der Materialiensammlung liegt jedenfalls ein Fehlverhalten vor. Politische Erziehung gerät durch falsches Zitieren von Gesetzestexten zur Farce. Ein darauf gegründeter Diskurs ist unzulässig. Und auch bei der Bundeszentrale für politische Bildung lasse ich die Ausrede, es habe sich um einen formalisierten Vorgang gehandelt, nicht gelten. Dort hat sich immerhin jemand die Mühe gemacht, Namen und Anschrift des vermeintlichen Rechtsinhabers ausfindig zu machen. Diese Mühe hätte sich ein nach den Maßstäben der Bundeszentrale rechts- und wirtschaftspolitisch Gebildeter ohne weiteres Nachdenken sparen können.
Einer der wesentlichsten Unterschiede zwischen der Deutschen Demokratischen Republik und der Bundesrepublik Deutschland war die Eigentumsordnung. Dort gab es Volkseigentum (das ich nicht vermisse), hier gibt es Privateigentum (das meines Erachtens durch das Erb- und Stiftungsrecht zu sehr geschützt ist). Die Zuschrift der Bundeszentrale für politische Bildung lässt sich auch ein wenig als ins Absurde geratener Ausdruck dieses Unterschieds lesen, was ich sehr schade finde. Das Gemeineigentum wird, trotz entsprechender Schriften im eigenen Bestand der Bundeszentrale, in Deutschland zu gering geschätzt und von dazu nicht Befugten vereinnahmt.
Mein Ärger an dieser ganzen Geschichte, ich gebe es zu, erklärt sich auch ein bisschen dadurch, dass die Mühe, die ich mir damit mache, die historischen Fassungen der Gesetze zu edieren und in den zeitlichen Zusammenhang zu stellen, bei solchen schönen Gelegenheiten nicht honoriert wird. Dabei hätte mein Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland vom 23. Mai 1949. Historisch-synoptische Edition. 1949—2012 (HTML, PDF) als wissenschaftliche Ausgabe im Sinn des § 70 Abs. 1 UrhG tatsächlich als eigenständige und bequem erreichbare Quelle genannt werden können. Diese hatte ich der Bundeszentrale für politische Bildung mit E-Mail vom 22. Juni 2008 sogar zur Veröffentlichung angeboten, leider ohne jemals auch nur eine Antwort erhalten zu haben. Es wäre sonst vielleicht alles ganz anders gekommen. Aber so habe ich aus der Angelegenheit wenigstens eine kleine Geschichte machen können.