Der Präsident des Bundesgerichtshofs Professor Dr. Klaus Tolksdorf wurde am 26. April 2012 bei der Staatanwaltschaft Karlsruhe anonym wegen Verletzung des Dienstgeheimnisses nach § 353b Abs. 1 S. 1 Nr. 1 StGB, § 43 DRiG angezeigt. Es geht um das Offenbaren des Abstimmungsverhaltens einzelner Richter über die Handlungsfähigkeit des 2. Strafsenats vor dem Hintergrund des Besetzungsstreits über dessen Vorsitz. Oliver García hatte mit seinen Beiträgen (im Wesentlichen vom 18. Januar 2012 und 20. Mai 2012), die offenbar vielfach aufmerksam verfolgt werden, auch etwas Öl mit ins Feuer gegossen. Aber um es gleich zu sagen: Wir waren es nicht. Die Anzeige wurde uns vielmehr erst am 31. Mai 2012 aus vom Anonymus unterrichteten Kreisen zugespielt.
Wer war es also? Wir wissen es natürlich nicht, aber der Anzeigentext enthält doch einige Indizien, mit denen sich der Kreis der in Frage kommenden Personen recht eng ziehen lässt.
Die Anzeige wurde offensichtlich von einem Juristen verfasst. Von den in Frage kommenden Berufsgruppen, nämlich Hochschullehrern, Rechtsanwälten, Staatsanwälten und Richtern lässt sich die erste von vornherein ausschließen. Dafür ist die Rechtslage zu wenig akademisch und viel zu praktisch aufgearbeitet. Dies gilt insbesondere für das Merkmal der Gefährdung öffentlicher Interessen, über das im Zusammenhang mit dem Brechen des Beratungsgeheimnisses in der Rechtsprechung noch keine Sicherheit herrscht (siehe Graf, Münchener Kommentar zum Strafgesetzbuch, Band 4, 1. Auflage 2006, § 353b Rdnr. 41), welches in der Anzeige aber gleichwohl nur mit zwei Sätzen gestreift wird (Seiten 6—7).
Das Layout des Anzeigentextes ist auch über weite Strecken mit der DIN 5008: 2011-04 „Schreib- und Gestaltungsregeln für die Textverarbeitung“ nicht zu vereinbaren. Das Datum ist nicht unterhalb des Anschriftenfelds in die Bezugszeichenzeile, sondern rechts oberhalb der Anschrift gesetzt. Und das Anschriftenfeld enthält Leerzeilen (doppelter Zeilenabstand). Die DIN 2008: 2011-04 ist das Grundgesetz eines jeden Sekretariats. Es wird als solches auf der Sekretärsschule von vorn bis hinten auswendig gelernt. Der Text wurde folglich ohne Hilfe einer geschulten Schreibkraft ausgefertigt. Deshalb dürften auch die Rechtsanwälte als anzeigenerstattende Berufsgruppe auszuschließen sein. Rechtsanwälte, die ihre Texte diktieren, hätten keinen Anlass gesehen, sich dieses Mal selbst an den Rechner zu setzen. Und diejenigen, die wie ich immer selbst tippen, wissen, was sie tun. Das Gegenteil zeigt sich hier auch an den Fundstellenzitaten, zum Beispiel:
- „Bernsmann in: Strafverteidiger 2012, Heft 5, S. 274 ff.“ (Seite 2) und „Bernsmann, Strafverteidiger 2012, Heft 5, Seite 74 ff.“ (Seite 3) sowie
- „BGH a.a.O., Rdn. 41“ (Seite 2) und „BGH a.a.O., Randnummer 11“ (Seite 3).
Die Notation ist sehr undiszipliniert, einmal wird das zitierte Werk mit „in:“ eingeleitet, ein andermal nicht, die Worte „Seite“ und „Randnummer“ werden ausgeschrieben oder nicht und bei der Seitenzahl „274“ wurde beim zweiten Zitat die erste Ziffer vergessen. Mit diesen Hinweisen soll keineswegs auf einen undisziplinierten Charakter angespielt werden. Solche Unregelmäßigkeiten verraten aber den ungeübten Selbstschreiber, der sonst nur diktiert. Rein vom Interesse her würde sich ein Rechtsanwalt auch nur dann zur Anzeige entschließen, wenn es ihm nützt. Hierzu würde er seinen Namen nennen.
Ich meine auch, dass ein Staatsanwalt als Anzeigenerstatter auszuschließen ist. Seine Anzeige wäre unweigerlich wie eine Anklageschrift aufgebaut. Eine Anklageschrift ist schließlich nichts anderes als eine sorgfältig durchgeprüfte Anzeige. Diesem Muster folgt die Anzeige jedoch nur in grob angedeuteter Form. Außerdem kann ich mir nicht vorstellen, dass ein Staatsanwalt seine Karriere mit einem solchen Schritt gefährden würde. Es ist ja nicht auszuschließen, dass die Urheberschaft am Ende doch noch irgendwie aufgedeckt wird.
Damit bleibt die Berufsgruppe der Richter. Versuchen wir, dies durch weitere Auffälligkeiten zu bestätigen und uns dadurch der betreffenden Person anzunähern. Die angezeigte Tat wird nach § 353b Abs. 4 S. 1 StGB nur mit Ermächtigung verfolgt. Die Ermächtigung wird nach § 353b Abs. 4 S. 2 Nr. 2 Buchst. a StGB im hier vorliegenden Fall von der obersten Bundesbehörde erteilt. Die Anzeige richtet sich deshalb auch an das Bundesministerium der Justiz, und zwar an die Abteilung Z. Diese ist für den gesamten Bereich der Verwaltung und Organisation des Ministeriums zuständig. Sie hat die vielfältige Aufgabe, die personellen, organisatorischen, haushaltsmäßigen und infrastrukturellen Voraussetzungen für die Arbeit des Ministeriums und der zu seinem Geschäftsbereich gehörenden Gerichte und Behörden zu schaffen. Diese trotz eher diffuser Aufgabenbeschreibung konkret vorgenommene Adressierung kann nur ein Justizinsider leisten. Dafür, dass es sich dabei um einen Richter handelt, spricht auch, dass er eine Pressemitteilung des Bundesvorstands der Neuen Richtervereinigung vom 10. Februar 2012 (Seite 3) zitiert. Wer sonst als ein Richter liest die Verlautbarungen eines solchen Verbands. Ich habe von der Neuen Richtervereinigung erst jetzt gehört.
Es spricht auch viel dafür, dass es sich nicht um einen jüngeren, sondern um einen älteren Richter handelt, der nicht durch das Internet „sozialisiert“ wurde. Das zeigt sich wiederum an den Fundstellenzitaten. So heißt es „Schünemann in: ZIS-online.com, Ausgabe 1-2/2012, S. 1 ff.“ (Seite 2) und „www.delegibus.com, Beitrag vom 18.01.2012″ (Seite 3). Ein internetaffiner Mensch würde in beiden Fällen einen konkreten URL verwenden, nämlich http://zis-online.com/dat/artikel/2012_1-2_643.pdf und http://blog.delegibus.com/2043. Im Fall des De-legibus-Blogs liegt sogar ein Falschzitat vor, weil der unvollständige URL nicht zum Blog, sondern in unsere „Wissenschaftsabteilung“ führt.
Kommen wir zu einzelnen auffälligen Formulierungen. „Richtern, die sich der Meinung des Beschuldigten nicht anschließen wollten, soll er die Versetzung in andere Senate ‚angeboten‘ haben“ (Seite 3). Diese Information ist nicht belegt, sondern ausdrücklich als Gerücht deklariert („soll […] ‚angeboten‘ haben“). Dieses Gerücht dürfte nur beim Bundesgerichtshof verbreitet worden sein, ich habe jedenfalls im Internet keine Anzeichen dafür gefunden. „Das Bemühen des Beschuldigten, seine Macht zu demonstrieren, nimmt immer befremdlichere Züge an“ (Seite 6). „Der Beschuldigte hat dem Ansehen des Bundesgerichtshofes fortgesetzt erheblich geschadet“ (Seite 7). Hierdurch kommt ganz zart eine gewisse Selbstbetroffenheit zum Ausdruck. Der Anonymus könnte also Richter am Bundesgerichtshof sein oder gute Kontakte dorthin haben.
Es bleibt die Frage, wem es nutzt. Und weshalb wurde nur Tolksdorf und nicht Ernemann angezeigt? An dieser Stelle wollen wir die personelle Analyse lieber abbrechen.
In der Sache ist zu sagen, dass diese Strafanzeige schon gar nicht zu einem Ermittlungsverfahren führen wird, weil das Bundesministerium der Justiz die erforderliche Ermächtigung nicht erteilen wird. Und das zu Recht. Keine Geheimnisse sind Tatsachen, die offenkundig sind oder sich aus allgemeinen Quellen ohne Weiteres ermitteln lassen (Tröndle/Fischer, Strafgesetzbuch und Nebengesetze, 52. Auflage 2004, § 353b Rdnr. 7; BGH, Urteil vom 22. Juni 2000 – 5 StR 268/99, jurisRdnr. 11). Der Anonymus meint dazu, die Kenntnis, dass drei Richter gegen die Rechtsansicht des Präsidiums des Bundesgerichtshofs stimmten, könne der Beschuldigte nur durch einen Bruch des Beratungsgeheimnisses nach § 43 DRiG erlangt haben (Seite 5). Das sehen wir anders. Die drei betreffenden Richter können ja nur diejenigen sein, die den Beschluss vom 11. Januar 2012 (2 StR 346/11) trugen. Wenn man die Namen der fünf Richter, die an diesem Verfahren beteiligt waren, mit den Namen der drei Richter abgleicht, die an dem inzwischen vorliegenden Beschluss vom 9. Januar 2012 (2 ARs 405/11) beteiligt waren, in dem mehrheitlich keine Fehlbesetzung angenommen wurde, dann sind zwei der drei Richter Fischer und Eschelbach und der dritte entweder Ott oder Krehl. Das Abstimmungsverhalten muss somit als offenkundig angesehen werden.
Aber diese Strafanzeige zielt sicher auch nicht auf die Durchführung eines Ermittlungsverfahrens ab.