De legibus-Blog

21. April 2013

Gustl Mollath und die Kammer des Schreckens

Oliver García

Um die Strafvollstreckungskammer am Landgericht Bayreuth und ihre Fehlleistungen im Fall Mollath ging es bereits im letzten Beitrag. Der Beitrag befaßte sich ausführlich mit einem Verfassungsverstoß, der darin liegt, daß die Kammer eine Rüge durch das BVerfG vom Oktober 2012 ignorierte – und weiter ignoriert. Dies war jedoch nur ein Ausschnitt – sogar ein kleiner Ausschnitt – aus der viel umfassenderen Rechtsverweigerung, die Mollath vor dieser Kammer erleidet.

Der Fall Mollath wäre nicht der Fall Mollath, wenn es in einem Verfahren bei einer einzigen Rechtsverletzung bliebe. Sie kommen immer gehäuft. Die unüberschaubare Vielzahl von Rechtsverstößen im Erkenntnisverfahren ist in den Wiederaufnahmeanträgen der Verteidigung und der Staatsanwaltschaft dokumentiert (einige bereits angesprochen im Beitrag „Der Fall Mollath: Ein Mehrpersonenstück, Teil 1: Otto Brixner“). Was das Vollstreckungsverfahren betrifft, für das seit dem Jahr 2009 die Bayreuther Strafvollstreckungskammer zuständig ist, so läßt sich am besten anhand einer zeitlichen Zäsur demonstrieren, in welch grundsätzlicher Weise sie ihre gesetzlichen Aufgaben verfehlt hat.

Seit Mitte März 2013 gibt es den Wiederaufnahmeantrag der Staatsanwaltschaft Regensburg. Er enthält Erkenntnisse, die eine Neubewertung der psychiatrischen Aussagen über Gust Mollath erfordern. Was in dem Wiederaufnahmeantrag der Verteidigung von Mitte Februar 2013 als noch zu klärender Wiederaufnahmegrund angeführt war, ist aufgrund der Ermittlungsmöglichkeiten der Staatsanwaltschaft, nämlich der ausführlich in ihrem Antrag wiedergegebenen Vernehmungen, nun erwiesen: Entscheidende tatsächliche Annahmen aus dem psychiatrischen Gutachten von 2005, die zu der Diagnose „Wahn“ führten, waren falsch (siehe den Beitrag „Die Rehabilitierung kam früher als erwartet“).

Obwohl der Strafvollstreckungskammer seit Mitte März dieser Wiederaufnahmeantrag vorliegt – oder aufgrund ihrer Pflicht zur Amtsermittlung (BVerfG, Beschluß vom 26. März 2009 – 2 BvR 2543/08) seit diesem Zeitpunkt hätte vorliegen müssen -, hat sie keine Anstalten getroffen, aus den neuen Erkenntnissen Schlüsse für das Vollstreckungsverfahren zu ziehen. Ihre Haltung ist offenbar, wie schon im letzten Beitrag gesagt: „All das geht uns nichts an“. Daß dies eine gründliche Verkennung der Rechtslage ist, daß die Kammer gesetzlich verpflichtet ist, Schlüsse zu ziehen, soll im folgenden dargestellt werden.

Das Stichwort lautet „Fehleinweisung“. Was es damit juristisch auf sich hat, läßt sich am besten demonstrieren, indem wir erst einmal zeitlich zurückgehen, weit zurück, nicht weniger als 30 Jahre: Um das Jahr 1980 herum fing es in der Praxis der Strafvollstreckungsgerichte an, daß Anträge gestellt wurden, mit denen eine Fehleinweisung geltend gemacht wurde. Diese Anträge wurden nicht von den Untergebrachten gestellt, sondern von den Staatsanwaltschaften auf Initiative der psychiatrischen Krankenhäuser. Fehleinweisung heißt: Die Feststellung im Urteil, daß beim Betroffenen ein psychiatrischer Zustand im Sinne von § 20 oder § 21 StGB vorlag – als Voraussetzung der angeordneten Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus gemäß § 63 StGB -, war falsch. Es lag ein Irrtum vor, eine Fehldiagnose, wie man nachträglich erkannt hat. „Man“ – das waren die Psychiater selbst. Sie sahen noch einmal hin und stellten fest: Der Betroffene gehört nicht hierher. Und sie wurden aktiv, weil sie sich der ärztlichen Wahrheit verpflichtet sahen (man behalte dieses Detail im Hinterkopf für weiter unten, wo es um die Person Klaus Leipziger geht). Es dürfte kein Zufall sein, daß wir uns um das Jahr 1980 herum befinden. Es war dies die Zeit der Psychiatriereform. In Italien war gerade das Basaglia-Gesetz erlassen. Franco Basaglia, nach dem das Gesetz benannt war, hatte als Chefarzt eines psychiatrischen Krankenhauses, also aus dem System heraus, die Zustände in den italienischen Anstalten und die dort herrschenden falschen Denkansätze so eindringlich angeprangert, daß der Gesetzgeber tabula rasa machte und zunächst einmal alle Einrichtungen schloß. In der Bundesrepublik Deutschland wiederum begannen die „68er“, in leitende Positionen zu rücken. Ein Generationswechsel fand statt, eine „Wachablösung“. Die „Bewachten“, die Psychiatrieinsassen, bekamen dadurch eine neue Chance: Irrtümer mußten nicht mehr bis aufs Messer verteidigt werden, Loyalitäten waren aufgehoben.

Nun hatten die Strafvollstreckungsgerichte, bei denen diese Anträge gestellt wurden, ein Problem: Der Fall einer Fehleinweisung war gesetzlich in ihrem Überprüfungsverfahren nicht vorgesehen. Sollten sie die Antragsteller auf die Möglichkeit eines Wiederaufnahmeverfahrens verweisen? Dort war aber nicht einmal gesichert, daß eine Fehldiagnose bei einem geistig Gesunden als Wiederaufnahmegrund anerkannt würde. Eine neue ärztliche Beurteilung ist nur in bestimmten Fällen ein „neues Beweismittel“ im Sinne von § 359 Nr. 5 StPO. Es muß nachgewiesen werden, daß der neue Gutachter etwa über „überlegene Forschungsmittel“ verfügt. Wenn aber schon der alte Gutachter über sie verfügte, sie aber aus Nachlässigkeit nicht anwandte, liegt unter diesem Gesichtspunkt kein Wiederaufnahmegrund vor (OLG Frankfurt, Beschluß vom 21. Dezember 2005 – 1 Ws 29/05). Sollten die Strafvollstreckungsgerichte sagen: „Ja, Sie haben einen Gesunden in der Anstalt, aber wir sind nicht zuständig“ („All das geht uns nichts an“)? Sie sagten es nicht, sondern fanden eine Lösung. Vielleicht dachten sie so: Ein Chefarzt stellt bei einem Patienten eine Diagnose, die zur Folge hat, daß ein Bein amputiert wurden muß. Vor der Operation tritt ein neuer Chefarzt seinen Dienst an und der stellt fest, daß die Diagnose seines Vorgängers ganz falsch war. Muß nun aus Loyalität das Bein trotzdem ab?

Ebensowenig wie dies verständlich wäre, hielten es die Richter für vertretbar, einen Gesunden aus Loyalität gegenüber der Rechtskraft und gegenüber den Richtern im Erkenntnisverfahren weiter in einem Krankenhaus festzuhalten. Sie stellten in diesen Fällen eine Erledigung der Unterbringung fest, weil sie nicht mehr durch ihren Zweck gerechtfertigt war. Mangels einer ausdrücklichen Vorschrift für diesen Fall wandten sie § 67c Abs. 2 Satz 5 StGB analog an.

Diese Lösung, zuerst angewandt vom OLG Frankfurt in seinem Beschluß vom 22. Mai 1978 – 3 Ws 290/78 -, war bald allgemein akzeptiert und wurde dann nahezu (Thomas Wolf, NJW 1997, 779: „rechtsstaatswidrig“) widerspruchslos von den Strafvollstreckungsgerichten praktiziert. Im Jahr 2004 schloß der Gesetzgeber die Gesetzeslücke und kodifizierte die bisherige Rechtsprechung in § 67d Abs. 6 StGB (vgl. BT-Drs. 15/2887, S. 10 und S. 14).

Um einem Mißverständnis entgegenzuwirken, bei der entsprechenden Anwendung von § 67c Abs. 2 Satz 5 StGB und später von § 67d Abs. 6 StGB auf die Fehleinweisung würde es sich um singuläre Ausnahmefälle in der Rechtsprechung handeln, hier eine Rechtsprechungsübersicht: OLG Frankfurt, Beschluß vom 5. November 1984 – 3 Ws 876/84; Beschluß vom 31. Mai 1999 ­ 3 Ws 149/99; Beschluß vom 30. Juni 2000 ­ 3 Ws 670/00; Beschluß vom 26. November 2001 – 3 Ws 1119/01; Beschluß vom 3. Juni 2005 – 3 Ws 298/05; OLG Hamm, Beschluß vom 22. Januar 1982 – 4 Ws 389/81; Beschluß vom 14. April 2005 – 4 Ws 101/05; Beschluß vom 27. Januar 2009 – 4 Ws 22/09; OLG Karlsruhe, Beschluß vom 30. Juni 1982 – 1 Ws 143/82; Beschluß vom 27. Mai 1987 – 4 Ws 119/87; OLG Dresden, Beschluß vom 29. Juli 2005 – 2 Ws 402/05; Beschluß vom 7. Februar 2008 – 2 Ws 18/08; OLG Jena, Beschluß vom 19. März 2009 – 1 Ws 87/09; Beschluß vom 10. September 2010 – 1 Ws 164/10; OLG Brandenburg, Beschluß vom 11. Februar 2008 – 1 Ws 12/08; OLG Bremen, Beschluß vom 24. September 2010 – Ws 90/10; OLG Rostock, Beschluß vom 08. Juni 2006 – I Ws 131/06; Beschluß vom 8. Februar 2007 – I Ws 438/06; Beschluß vom 16. November 2011 – I Ws 287/11; KG, Beschluß vom 2. Juni 2004 – 5 Ws 568/03; OLG Zweibrücken, Beschluß vom 10. Juni 2008 – 1 Ws 154/08; OLG Naumburg, Beschluß vom 24. Oktober 2012 – 1 Ws 442/12.

Wie man sieht, gibt es Rechtsprechung zu Fehleinweisungsfällen in fast aller Herren Länder. Auffällig ist, daß es – jedenfalls in der veröffentlichten Rechtsprechung der letzten 30 Jahre – keine bayerischen Fälle zu geben scheint. Liegt es daran, daß die Rechtslage – auch nach der Gesetzesänderung von 2004 – den Richtern dort unbekannt geblieben ist? Oder daran, daß sie in den dortigen psychiatrischen Krankenhäusern unbekannt ist (wie gesagt, ging ja ursprünglich die Initiative zur Lösung solcher Fälle von den Krankenhäusern aus)? Sie ist, wie der Fall Mollath zeigt, jedenfalls dem Bezirkskrankenhaus (BKH) Bayreuth, der Strafvollstreckungskammer Bayreuth und dem Strafvollstreckungssenat Bamberg unbekannt:

Was Klaus Leipziger betrifft, den Leiter der Forensik des BKH Bayreuth, so richtet er zwar alljährlich die Bayreuther Forensiktagung aus, eine interdisziplinäre Fortbildungsveranstaltung „für Mitarbeiter aus Maßregelvollzugseinrichtungen und Juristen“, doch die gesamte Rechtsprechung zur Fehleinweisung der letzten 35 Jahre scheint an ihm vorbeigegangen zu sein (und dürfte demnach auch den Teilnehmern der Tagungen, die auf ganz Bayern ausstrahlen, nicht vermittelt worden sein). Für Leipziger gelten nicht die gesetzlichen Vorgaben und die einhellige Rechtsprechung, sondern das, was er sich selbst zusammenreimt: Er dürfe seine psychiatrische Stellungnahme nur ändern, wenn es neue „juristische Feststellungen“ gäbe (siehe Telepolis vom 30. März 2013: Dr. Leipziger hält an Gefährlichkeitsprognose fest). Klarer könnte man den Widerspruch zur Fehleinweisungs-Rechtsprechung nicht ausdrücken. Damit in vollkommener Übereinstimmung steht der psychiatrisch gänzlich nichtssagende Inhalt seiner Stellungnahme vom 4. März 2013 gegenüber der Strafvollstreckungskammer.

Leipzigers „Wahn“-Diagnose für Mollath aus dem Jahr 2005 fußte entscheidend auf folgender von ihm angestellter Erwägung (zitiert nach Urteil, Seite 22):

Daraus ergebe sich, daß der Angeklagte in mehreren Bereichen ein paranoides Gedankensystem entwickelt habe. Hier sei einerseits der Bereich der „Schwarzgeldverschiebung“ zu nennen, in dem der Angeklagte unkorrigierbar der Überzeugung sei, dass eine ganze Reihe von Personen aus dem Geschäftsfeld seiner früheren Ehefrau, diese selbst und nunmehr auch beliebige weitere Personen, die sich gegen ihn stellten, z.B. auch Dr. Wörthmüller, der Leiter der Forensik am Europakanal, in der der Angeklagte zunächst zur Begutachtung untergebracht war, in dieses komplexe System der Schwarzgeldverschiebung verwickelt wären.

Was den ersten Teil dieser Argumentation („einerseits“) betrifft, so ist bereits mit dem Auftauchen des HVB-Sonderrevisionsberichts klar, daß Mollaths Überzeugung, „Personen aus dem Geschäftsfeld seiner früheren Ehefrau“ seien in ein „komplexe System der Schwarzgeldverschiebung verwickelt“ gewesen, wohl zutraf. Eine zutreffende Überzeugung, von der Mollath – so Leipziger – „korrigiert“ werden müsse (durch Gabe von Psychopharmaka, wie noch im Jahr 2011 aus der Stellungnahme des BKH hervorgeht).

Gemäß dem zweiten Teil der Argumentation zeigte sich die Paranoia darin, daß Mollath „nunmehr auch beliebige weitere Personen […], z.B. auch Dr. Wörthmüller“ in die Schwarzgeldverschiebungen verwickele. Doch der Wiederaufnahmeantrag der Staatsanwaltschaft Regensburg hat nun überzeugend dargestellt, daß alle Aussagen Mollaths über Wörthmüller Hand und Fuß hatten, nicht wahnhaft waren, sondern – so die Staatsanwaltschaft – logisch erklärbare Fehleinschätzungen waren (Wiederaufnahmeantrag Staatsanwaltschaft, Aktenblatt 253).

Einen Absatz weiter schrieb Leipziger in seinem Gutachten:

Eindrucksvoll könne am Beispiel des Dr. Wörthmüller ausgeführt werden, dass der Angeklagte weitere Personen, die sich mit ihm befassen müssten, in dieses Wahnsystem einbeziehe, wobei in geradezu klassischer Weise der Angeklagte eine für ihn logische Erklärung biete, dass Dr. Wörthmüller ihm angeboten habe, ein Gefälligkeitsgutachten zu schreiben, wenn der Angeklagte die Verwicklung des Dr. Wörthmüller in den Schwarzgeldskandal nicht offenbare.

In „klassischer Weise“ dokumentiert ist hier aber nicht eine Fehlleistung Mollaths, sondern Leipzigers selbst, denn dieser hatte ungeprüft falsche Tatsachen unterstellt. Auch dies hat die Staatsanwaltschaft herausgearbeitet. Sie schreibt als Resümee das, was jeder Leser der ausführlich dargestellten Vernehmungen erkennt: Aus der Sicht Mollaths war es „tatsächlich nicht abwegig oder gar wahnhaft, den Schluss zu ziehen, Dr. Wörthmüller habe ihm ein ‚Gefälligkeitsgutachten‘ angeboten“ (Wiederaufnahmeantrag Staatsanwaltschaft, Aktenblatt 253).

So dünn das Gutachten Leipzigers von Anfang an war, mit dem Vorliegen des HVB-Sonderrevisionsberichts und dem Wiederaufnahmeantrag der Staatsanwaltschaft bleibt nichts von Substanz in ihm übrig. Es ist vollkommen in sich zusammengebrochen. Doch Leipziger, damaliger Gutachter und jetziger Verwahrer Mollaths in Personalunion, hält unbeirrbar – in einer Art psychiatrischem Wahn-Wahn – an seiner ursprünglichen Diagnose fest. Und dies nicht aufgrund neuer eigenständiger Erkenntnisse, sondern um des Festhaltens willen (der angeblichen „Bindung“ an das Urteil). Damit beleidigt er nicht nur den gesunden Menschenverstand, sondern gleichzeitig auch die Medizin und das Recht (§ 67d Abs. 6 StGB).

Und wie ist es dabei um die Strafvollstreckungskammer bestellt? Ihre Aufklärungspflicht erforderte, daß sie spätestens nach Kenntnis des Inhalts des Wiederaufnahmeantrags der Staatsanwaltschaft eine psychiatrische Neubewertung in die Wege leitet. Nach § 67d Abs. 6 StGB muß das Gericht die Unterbringung für erledigt erklären, wenn „die Voraussetzungen der Maßregel nicht mehr vorliegen“. Die Formulierung „nicht mehr“, die bereits richterrechtlich vor der Kodifizierung verwendet wurde, darf nicht zu dem Mißverständnis verleiten, die Voraussetzungen des § 63 StGB müßten einmal vorgelegen haben. Für die oben belegte Rechtsprechung aus der Zeit vor und nach der Gesetzesänderung ist die Fehleinweisung aufgrund ursprünglicher Fehldiagnose geradezu der Hauptanwendungsfall der Erledigung (auch wenn in diesem Punkt die Gesetzesbegründung ambivalent ist). Dies ergibt sich ohne weiteres schon daraus, daß gerade für diesen Fall eine Lösung „gebraucht“ wurde. Denn für eine Entlassung aufgrund einer Heilung während der Unterbringung stand bereits eine Norm zur Verfügung: § 67d Abs. 2 StGB. Einer der Hauptzwecke der Unterbringung ist ja gerade die Therapie, also die Heilung.

§ 67d Abs. 6 StGB ist allerdings nicht so zu verstehen, daß Erledigung schon eintritt, wenn im Vollstreckungsverfahren nicht mehr mit der für eine Verurteilung erforderlichen Sicherheit die Voraussetzungen des § 63 StGB festgestellt werden können. Ein „in dubio pro reo“ kommt dem Untergebrachten in dieser Phase nicht mehr zugute. Umgekehrt muß vielmehr das Strafvollstreckungsgericht vom Nichtvorliegen der Unterbringungsvoraussetzungen positiv überzeugt sein. Da es sich zu einem Teil um medizinische Fragestellungen handelt, ist es für diese Entscheidung auf die Hilfe von Sachverständigen angewiesen. Die Gesetzesbegründung (BT-Drs. 15/2887, S. 10) geht deshalb wie selbstverständlich davon aus, daß dieser Entscheidung eine „erneute Begutachtung“ vorgelagert ist.

Die Kammer hätte demnach auf die neuen tatsächlichen Erkenntnisse so reagieren müssen, daß sie das BKH ausdrücklich beauftragt, eine schlüssige psychiatrische Stellungnahme zum Gesundheitszustand Gustl Mollaths unter Zugrundelegung dieser Tatsachen abzugeben. Entweder hat sie das nicht getan oder das BKH hat sich mit seiner Stellungnahme vom 4. März 2013 diesem Auftrag widersetzt. Diese Stellungnahme geht an der Sache vorbei, weil sie nur ein „Verlaufsbericht“ über den „Patienten“ ist. Von diesem Ansatzpunkt aus teilt das BKH mit, daß es keine Möglichkeit gebe, die Frage der Gefährlichkeit positiv zu beantworten und daß nur mit Rücksicht auf das Urteil und die früheren Gutachten die Gefährlichkeit nicht auszuschließen sei.

Nach Eingang dieser Stellungnahme hat es die Strafvollstreckungskammer ersichtlich unterlassen, das BKH auf seinen Irrtum hinzuweisen und es zu bitten, die psychiatrische Neubewertung auf der neuen Tatsachengrundlage nachzuholen. Dies läßt sich dem Umstand entnehmen, daß das BKH kurz vor dem Anhörungstermin vom 18. April 2013 zwar eine ergänzende Stellungnahme einreichte, sich diese Ergänzung jedoch nur auf den Verlaufsbericht bezog (Telepolis vom 20. April 2013: Bayreuther Psychiatrie protokollierte Telefonate zwischen Mollath und seiner Verteidigerin).

Die Strafvollstreckungskammer hat es also seit einem Monat (wenn man den HVB-Sonderrevisionsbericht hinzunimmt: seit mehreren Monaten) versäumt, die Vollstreckungssache Mollath durch sachdienliche Verfügungen in der Hauptfrage (Fehleinweisung) zu fördern, sei es weil sie selbst die Rechtslage nicht kennt oder weil sie trotz dieser Kenntnis das BKH, auf dessen Mithilfe bei der Aufklärung sie angewiesen ist, nicht auf dessen Aufgaben hinweist.

Dafür, daß die Kammer schlicht die Rechtslage verkennt, spricht ihr Umgang mit dem Gutachten von Friedemann Pfäfflin aus dem Jahre 2011. Von allen drei Gutachten, auf die die Unterbringung Mollaths gestützt ist, ist das Pfäfflin-Gutachten das einzige, das neben der Aktenauswertung auf einem ausführlichen Explorationsgespräch mit Mollath beruht. Zusätzlich stand der psychiatrische Sachverständige Pfäfflin im Anhörungstermin 2011 Rede und Antwort, wie man in den Einzelheiten der Verfassungsbeschwerde entnehmen kann. Für Justizministerin Beate Merk ist Pfäfflin – „Crème de la Crème der forensischen Psychiatrie“ – so etwas wie ein Kronzeuge dafür, daß die Verfahren im Fall Mollath immer richtig gelaufen seien (Bericht im Rechtsausschuß vom 8. März 2012).

Daß dieses Gutachten jedoch juristisch unbrauchbar ist – schon für die Fortdauerentscheidung des Jahres 2011 und erst recht jetzt -, ergibt sich aus der oben dargestellten Rechtsprechung zur Frage der Fehleinweisung, nämlich aus den prozeßrechtlichen Rückschlüssen, die aus § 67d Abs. 6 StGB zu ziehen sind. Dies läßt sich mit einer aktuellen Entscheidung des OLG Naumburg belegen. Das OLG Naumburg schreibt in seinem geradezu schulmäßigen Beschluß vom 24. Oktober 2012 – 1 Ws 442/12:

Nach § 67e Abs. 1 Satz 1 StGB überprüft die zuständige Strafvollstreckungskammer, ob die weitere Vollstreckung zur Bewährung auszusetzen oder für erledigt zu erklären ist. Die tatsächlichen Feststellungen haben sich somit nicht allein auf eine Legalprognose zu beschränken, sondern es ist immer auch zu prüfen, ob die Voraussetzungen des § 63 StGB (noch) vorliegen. Ist dies nicht der Fall oder ist die weitere Vollstreckung der Maßregel unverhältnismäßig, ist die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus gemäß § 67d Abs. 6 StGB für erledigt zu erklären. Dabei kommt es grundsätzlich nicht darauf an, ob die Voraussetzungen der Unterbringung von Anfang an nicht vorgelegen haben (Fehleinweisung), oder ob sie später weggefallen sind. Entscheidend ist allein, ob sich später im Vollstreckungsverfahren zweifelsfrei ergibt, dass die Voraussetzungen der Unterbringung entweder von vornherein nicht vorgelegen haben oder aber nachträglich weggefallen sind, da in beiden Fällen der Zweck der Unterbringung erreicht oder nicht (mehr) erreichbar ist (OLG Rostock, Beschluss vom 08. Februar 2007, I Ws 438/06, zitiert nach Juris).

Das Landgericht Stendal hat den Sachverhalt nicht ausreichend aufgeklärt. Eine Entscheidung der Strafvollstreckungskammer über die weitere Unterbringung konnte nicht rechtsfehlerfrei ergehen, da das von der Kammer eingeholte Gutachten des externen Sachverständigen Prof. Dr. M. vom 01. Februar 2012 nicht den Anforderungen an ein unparteiisches Prognosegutachten genügen konnte.

Beauftragt wurde der Sachverständige durch Beschluss der Strafvollstreckungskammer vom 05. September 2011. In dem Beschluss wurde nicht nach einer Störung des Betroffenen im Sinne der §§ 20, 21 StGB gefragt, sondern die Strafvollstreckungskammer ist davon ausgegangen, dass (noch) eine psychiatrische Erkrankung des Betroffenen vorliegt. […]

Damit hat die Strafkammer bereits vorausgesetzt, dass bei dem Verurteilten noch eine psychiatrische Erkrankung vorliegt und dies damit dem Gutachter Prof. Dr. M. quasi vorgegeben. Dies sollte aber gerade erst Gegenstand des Gutachterauftrages sein. Eine ergebnisoffene Begutachtung des Betroffenen war daher schon nicht mehr möglich und auch nicht zu erwarten. Gemäß § 463 Abs. 4 StPO ist aber nach jeweils fünf Jahren vollzogener Unterbringung ein Gutachten eines sog. externen Gutachters einzuholen, um der Gefahr einer Routinebeurteilung vorzubeugen (Meyer-Goßner, StPO, 55. Aufl.; § 463 StPO, Rd. 10). Wenn aber dem Gutachter bereits das Ergebnis vorgegeben wird – der zu Begutachtende habe eine psychiatrische Krankheit – wird dieses Ziel des Gesetzgebers, ein zuvor nicht mit dem Untergebrachten befasster Sachverständiger solle die Begutachtung vornehmen, um so eine unvoreingenommen Begutachtung sicherzustellen, konterkariert. Das Gutachten des Prof. Dr. M. vom 01. Februar 2012 konnte daher schon aus formalen Gründen nicht Grundlage einer Entscheidung der Strafvollstreckungskammer sein.

Ob die Strafvollstreckungskammer Bayreuth bei ihrem Gutachtenauftrag im Jahr 2011 den gleichen Fehler begangen hatte wie die in dem Zitat gerügte Strafvollstreckungskammer, indem sie dem Sachverständigen Pfäfflin einen fehlerhaften rechtlichen Ansatz mit auf den Weg gab, ist nicht bekannt. Es spielt auch keine Rolle, denn aus Pfäfflins Äußerungen selbst geht ausdrücklich hervor, daß er diesen fehlerhaften Ansatz hatte. Und den Mitteilungen der Verfassungsbeschwerde über Ablauf der Anhörung 2011 läßt sich entnehmen, daß die Kammer weder in Vorbereitung der Anhörung noch in ihrem Verlauf den Sachverständigen korrigierte.

In welcher Weise sich ein psychiatrischer Sachverständige den Weg verbauen kann, eine ursprüngliche Fehldiagnose aufzudecken, könnte gar nicht plastischer als im Falle Pfäfflin demonstriert werden. Der „Witz“ seines Gutachtens war nämlich, daß er aufgrund der durchgeführten Exploration zu einer durchweg positiven psychiatrischen Stellungnahme gelangte. Wenn er gleichwohl zu einem nachteiligen Ergebnis für Mollath kam, dann nicht wegen, sondern trotz der Untersuchung. Die „Gefährlichkeit“ Mollaths bestand nämlich in den Augen Pfäfflins darin, daß er die Straftaten begangen hatte, obwohl er nicht der Typ dafür war, solche Straftaten zu begehen. Im Protokoll des Anhörungstermins liest sich dieses „rechtskraftfreundliche“ Um-die-Ecke-Denken so (Zitat aus der Verfassungsbeschwerde, Seite 21, Hervorhebung hier):

Unter Berücksichtigung des Umstandes, dass die Anlasstaten losgelöst von der sonstigen Persönlichkeit des Untergebrachten begangen worden seien und dass andererseits eine therapeutische Bearbeitung der Taten bislang nicht stattgefunden habe, halte er die Wahrscheinlichkeit künftiger – den Anlasstaten vergleichbarer Taten für sehr hoch.

Das Pfäfflin-Gutachten ist, wie das OLG Naumburg richtig herausgearbeitet hat, wegen dieses falschen Ansatzes wertlos. Nicht erst jetzt, sondern es war schon wertlos im Jahr 2011. Da der Strafvollstreckungssenat des OLG Bamberg – wegen der in Bayern verbreiteten Unkenntnis von § 67d Abs. 6 StGB – diesen Fehler Pfäfflins und der Strafvollstreckungskammer Bayreuth nicht korrigierte, ist die Unterbringungssituation Mollaths seit zwei Jahren rechtsfehlerhaft – ganz unabhängig davon, daß die in den letzten Monaten aufgetauchten Informationen eine Situation geschaffen haben, die mit Recht nicht einmal annähernd etwas zu tun hat.

Man kann es auch so ausdrücken: Vor einer rechtsblinden Strafvollstreckungskammer hatte Mollath in all den Jahren nie eine Chance.

Wie geht es weiter? Der Anhörungstermin vom letzten Donnerstag, dem 18. April 2013, endete ohne unmittelbares Ergebnis. Die Verteidiger Mollaths werden noch einmal schriftlich vortragen und die Kammer wird entscheiden. Aus rechtlicher Sicht kann die Entscheidung nur in der Erledigungserklärung bestehen. Zwar setzt eine solche Entscheidung, wie oben gesagt, grundsätzlich ein entsprechendes psychiatrisches Gutachten voraus. Doch der Fall Mollath liegt – auch hier – besonders: Es gilt, wie auch im Erkenntnisverfahren (vgl. das Beispiel aus der BGH-Rechtsprechung im Beitrag über den Psychiater Klaus Leipziger), für die Zuständigkeitsabgrenzung zwischen Gericht und Psychiater, daß das Gericht ohne dessen Hilfe keine „vollwertigen“ psychiatrischen Aussagen treffen kann, wohl aber verpflichtet ist, die rechtlichen Hürden zu überwachen, ab wann ein Gutachten brauchbar ist. Im vorliegenden Fall braucht man keine Sachkunde, um zu sagen, daß das ursprüngliche Gutachten von 2005 wegen falscher Tatsachenannahmen völlig in sich zusammengefallen ist (falls es überhaupt jemals brauchbar war). Das Pfäfflin-Gutachten ist, wie gesagt, ebenfalls wertlos, was sein (mit dem übrigen Inhalt nicht zusammenpassendes) Ergebnis betrifft. Deshalb stellt sich für das Gericht die Frage: Ist es bei der jetzigen Sachlage möglich, daß ein Gutachter – anhaltsintern oder extern – zu dem Ergebnis kommt, daß bei Mollath eine psychische Störung vorliegt und würde ein solches Ergebnis nach Lage der Dinge die juristische Hürde für die Brauchbarkeit überspringen? Die erste Frage ist nach aller Erfahrung nicht zu beantworten (siehe den Beitrag zum Thema „Beliebigkeit in der Psychiatrie“); die zweite – rechtliche – sehr wohl. Für jedes Gericht, das sich nicht durch seine früheren Fehler in Geiselhaft nehmen läßt, muß die Antwort lauten: Nein.

Nachtrag vom 22. April 2013

Etwas ausführlicher zur rechtlichen Argumentation im letzten Absatz siehe Kommentar im beck-blog.

Zitiervorschlag für diesen Beitrag:
https://blog.delegibus.com/3303

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  1. […] das Verfahren/den Fall Mollath, […]

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