De legibus-Blog

7. April 2013

Der Fall Mollath: Ein Mehrpersonenstück (Teil 5)

Michael Wörthmüller (ein Psychiater)

Oliver García

Diese Beitragsreihe zum Fall Mollath folgt einem Konzept, das im Vorspann des ersten Beitrags beschrieben ist: Es ist der Versuch, diesen Fall in seinen vielen verschiedenen Aspekten zu verstehen, indem er einmal nicht chronologisch dargestellt und diskutiert wird, sondern seine Teilaspekte anhand der einzelnen Akteure beleuchtet werden. Es geht dabei aber nicht so sehr um „Geschichtenerzählen“ als darum, bestimmte juristische Fragestellungen anhand des Handelns (oder Unterlassens) dieser Personen herauszuarbeiten oder zu illustrieren. Denn dies ist ein juristisches Blog. Die Auswahl unter den Personen, die im Fall Mollath eine Rolle gespielt haben (oder noch spielen), richtet sich danach, ob ihre Rolle einen Durchblick auf juristische Fragen erlaubt. So stand Richter Brixner (Teil 1) für die Frage, wie es mit der „professionellen Leidenschaft der Richter, alles Erfahrbare zu erfahren“ (siehe das der Reihe vorangestellte Zitat) bestellt ist und wie es möglich ist, daß die Selbstherrlichkeit eines Richters alle rechtsstaatlichen Sicherungen ausschaltet. Psychiater Leipziger (Teil 2) stand für den Pathologisierungswahn, der über die Strafjustiz hereingebrochen ist und bewirkt hat, daß Verfahren, die früher mit maßvollen Strafen geendet hätten, heute immer mehr zu einer potentiell lebenslänglichen Unterbringung führen. Ministerin Merk (Teil 3) stand für die Frage, ob die Politik für diese Entwicklung eine Verantwortung trägt und außerdem dafür, wie die Politik mit einem Versagen der Justiz im Einzelfall umgeht. Und Generalstaatsanwalt Nerlich (Teil 4) schließlich dafür, wie es um dem Eifer der Justiz bestellt ist, ihre Fehler nachträglich aufzuklären und zu beheben.

In dieser Folge geht es um eine Person, die zwar eine bedeutende Rolle im Fall Mollath spielt, die aber – bislang – unter juristischem Gesichtspunkt nichts Besonderes herzugeben schien. Während die anderen Akteure alle für etwas standen, stand Michael Wörthmüller scheinbar nur für – Michael Wörthmüller.

Daß Wörthmüller, dem Leiter der psychiatrischen Forensik des Bezirkskrankenhauses Erlangen, im Fall Mollath etwas Mysteriöses anhaftet, klang bereits an, als die Süddeutsche Zeitung am 29. November 2012 mit Bezug auf ihn titelte: „Der dritte Mann“. Ja, Wörthmüller war immer irgendwie da, wennn gerade etwas Wichtiges im Fall Mollath passierte: Er war von den geschäftlichen Kreisen um Mollaths Ex-Frau als Ansprechpartner ausersehen, als Mollath in diesen Kreisen als „verunsichernde Person“ wahrgenommen wurde (Quelle: Wiederaufnahmeantrag der Staatsanwaltschaft, Aktenblatt 249). Wörthmüller war da, als Mollath den Nachbarn und Duzfreund Wörthmüllers aufsuchen wollte (dieser Nachbar hatte mit dem engsten Kollegen der Ex-Frau ein Finanzberatungsunternehmen gegründet, nachdem dieser Kollege zusammen mit der Ex-Frau und weiteren Personen aufgrund einer Anzeige Mollaths bei der HypoVereinsbank seine Anstellung verloren hatte). Wörthmüller war da, als Mollath zwangsweise in seine Einrichtung eingeliefert wurde zum Zwecke einer sechswöchigen psychiatrischen Begutachtung. Wörthmüller war es, der Klaus Leipziger als den neuen Gutachter für Mollath herausdeutete. Wörthmüller war da, als Mollath nach § 126a StPO vorläufig untergebracht wurde: „Wieder zum lachenden Dr. Wörthmüller ins BKH Erlangen“ (Brief Mollaths vom 17. April 2008). Wörthmüller war da, als am 8. August 2006 die Hauptverhandlung gegen Mollath stattfand, wenn auch nicht auf der Vorderbühne, sondern im Hinterzimmer: Er wurde gesehen, wie er – als Psychiater, der Mollath gerade nicht untersucht hatte – „in Worten und Gesten“ dessen Geistesgestörtheit unterstrich (Quelle: Nürnberger Nachrichten vom 7. März 2013, dort mit Stellungnahme Wörthmüllers).

Und dann war Wörthmüller eben auch da, als es um die Wiederaufnahme im Fall Mollath ging: Das Gespräch mit der Süddeutschen Zeitung aus dem genannten Bericht vom 29. November 2012 wurde von Beate Merk später als ein Grund für ihre Anordnung eines Wiederaufnahmeverfahrens angegeben: In einer nicht datierten (Dokumenterzeugungsdatum: 31. Januar 2013) schriftlichen Presseerklärung wurde die Äußerung Wörthmüllers, „er könne sogar verstehen, dass Mollath ihm vorwerfe, er könnte gemeinsame Sache mit Schwarzgeldverschiebern machen“ ausdrücklich als „weiterer Anlaß“ für eine Wiederaufnahme genannt. Da Merk allerdings bis dahin ihre Anweisung immer nur mit dem Bericht der Nürnberger Nachrichten vom 30. November 2012 über den Anruf Brixners bei den Finanzbehörden begründet hatte (etwa in der Münchner Runde vom 11. Dezember 2012), liegt der Gedanke nahe, daß man ihr nachträglich den Hinweis gegeben hat, ihre „lex Brixner“ (siehe dazu Teil 3 dieser Reihe) sei kaum in Einklang zu bringen mit dem geltenden Wiederaufnahmerecht. Und im nun vorliegenden Wiederaufnahmeantrag der Staatsanwaltschaft werden tatsächlich die erratischen Äußerungen – und Nichtäußerungen – Wörthmüllers als besonders gewichtiger Wiederaufnahmegrund angeführt.

Der Wiederaufnahmeantrag der Staatsanwaltschaft hat nun Wörthmüllers Rolle an der vielleicht entscheidendsten Stelle des Falles Mollath mit Suchscheinwerfern ausgeleuchtet (dazu bereits der Beitrag „Die Rehabilitierung kam früher als erwartet“). Ein Licht geworfen wurde damit auch auf die Denk- und Arbeitsweise von Psychiatern, wenn sie zur Erfüllung gerichtlicher Aufträge tätig werden. Und genau in diesem Punkt kann nun auch Wörthmüller beanspruchen, Stichwortgeber für eine juristische Betrachtung zu werden.

Es geht um den Abschnitt des Falles Mollath, der im Sommer 2004 im Bezirkskrankenhauses Erlangen spielte. Mollath war in Wörthmüllers Abteilung eingeliefert worden gemäß Unterbringungsbeschluß von RiAG Eberl, damit er gemäß § 81 StPO für die Dauer von bis zu sechs Wochen auf eine psychische Störung untersucht werde. Als am Mittwoch, dem 30. Juni 2004, Wörthmüller auf seiner Station Mollath zu Gesicht bekam, war er „erschrocken“ (Wiederaufnahmeantrag der Staatsanwaltschaft, Aktenblatt 250), denn sein Proband war eben die Person, mit der er kurz vorher vor seinem Haus gesprochen und über den er sich später auch mit seinem Nachbarn unterhalten hatte. Dies war ihm „sofort bewußt“. Von da an beschäftigte ihn die Frage, ob er unbefangen seinen Gutachtenauftrag erfüllen könne und er schrieb tags darauf, am 1. Juli 2004, seine Befangenheitserklärung gegenüber dem Gericht. Doch er schickte sie nicht ab. Stattdessen fanden in den nächsten Tagen zwischen Wörthmüller und Mollath Besprechungen statt, ob man die Problematik Befangenheit nicht auch anders lösen könne. Die Initiative zu diesen Besprechungen ging von Wörthmüller aus und sein Vorschlag war: Er würde auf das Abschicken der Befangenheitsanzeige verzichten und das vom Gericht angeforderte Gutachten erstellen, wenn sich Mollath einverstanden erklärt, alles was mit den Schwarzgeldvorwürfen zu tun hat, auszuklammern. Eine Begutachtung durch ihn könnte dann auch sehr schnell erfolgen. Dies sei bei der Vielzahl seiner Termine ein Entgegenkommen (Wiederaufnahmeantrag der Staatsanwaltschaft, aaO.). Wörthmüller erklärte gegenüber der Staatsanwaltschaft: „Wenn Herr Mollath das als ‚Gefälligkeitsgutachten‘ ansieht, so mag das aus seiner Sicht nicht ganz abwegig sein.“ Mollath beschrieb die Situation in seinem schon zitierten Brief vom 17. April 2008 so: „Er bot mir ein mir ‚passendes‘ Gutachten an, wenn ich Stillschweigen wahre. Ich hörte mir an, wie er texten würde. Könnte man so oder so verstehen.“ Mollath nahm die ihm eingeräumte Möglichkeit wahr, am Wochenende einen Anwalt auf die Station kommen zu lassen und besprach das Angebot mit ihm. Als keine Einigung zustande kam, schickte Wörthmüller sein Schreiben an das Amtsgericht vom 1. Juli 2004 schließlich ab – am Montag, dem 5. Juli 2004, dem sechsten Tag der zwangsweisen Festhaltung Mollaths in seiner Abteilung. Am 7. Juli 2004, dem achten Tag, verfügte RiAG Eberl die Freilassung.

Bei allen noch bestehenden Unklarheiten über den Ablauf läßt sich eine Aussage ohne weiteres der Erklärung Wörthmüllers gegenüber der Staatsanwaltschaft entnehmen: Daß er es mit dem Berufsethos eines psychiatrischen Gutachters für vereinbar hält, die für das Gutachten bedeutsamen Tatsachen in einer Weise zu selektieren und die Blindstellen in einer Weise zu verteilen, daß das Gutachtenergebnis so oder so ausfallen kann. Das kann man ihm glauben (daß er von der Vereinbarkeit überzeugt ist, nicht daß es vereinbar ist).

Ist jemals anschaulicher geworden, aus welchem Geist der Beliebigkeit heraus psychiatrische Gutachten entstehen können? Eben jene Gutachten, die über ein Berufsende (Hessische Steuerfahnderaffäre: Berufsgericht für Heilberufe in Gießen, Urteil vom 16. November 2009 – 21 K 1220/09.GI.B) und über viele Jahre Freiheitsentziehung entscheiden können (Fall Mollath).

Im Fall Mollath wird in der öffentlichen Diskussion öfters von einem Strafbefehl gesprochen und davon, daß Mollath die langen Jahre in der Psychiatrie erspart geblieben wären, hätte er diesen nicht angefochten. Bei dieser Annahme dürfte es sich allerdings um eine Verwechslung handeln. Doch eines dürfte aufgrund der Vernehmung Wörthmüllers durch die Staatsanwaltschaft klar sein – und dies steht der Sache mit dem Strafbefehl als tragische Weichenstellung in keiner Weise nach: Wäre Mollath auf das „Entgegenkommen“ (Zitat Wörthmüller, Wiederaufnahmeantrag der Staatsanwaltschaft, Aktenblatt 250) eingegangen, hätte er einen fachlich-psychiatrischen Nachweis erhalten, daß bei ihm keine psychische Störung vorlag. Im weiteren Verlauf wäre niemals § 126a StPO oder gar § 63 StGB auf ihn angewandt worden. Den „Fall Mollath“ im heutigen Sinne gäbe es nicht.

Die Beliebigkeit psychiatrischer Gutachten, die in dieser Wissenschaft ohnehin angelegt zu sein scheint und die von unseriösen Psychiatern als Problem noch vertieft wird, wäre vielleicht ein beherrschbares Risiko, wenn es auf Seiten der Justiz, insbesondere bei den Staatsanwälten und Richtern, ein entsprechendes Problembewußtsein gäbe. Doch ein solches scheint es fast nie zu geben. Das Gegenteil von einer skeptisch-kritischen Haltung herrscht offensichtlich vor: Richter sind meist wie Wachs in den Händen von Psychiatern. Weil es verlockend für Richter ist, Verantwortung auf eine Fachwissenschaft abzuwälzen, wird der Begründungsweg des Psychiaters für seine Gutachtenergebnis oft nicht im Ansatz hinterfragt. Das hat den Effekt, daß an den entscheidenden Stellen eines Urteils der Richter dem Psychiater den Richterstuhl gänzlich abtritt.

Dies zeigt sich nicht nur an dem in Teil 2 dieser Beitragsreihe ausführlich geschilderten Strafverfahren, in dem der BGH die Tatgerichte gleich zweimal ermahnen mußte, Sachverständigengutachten selbst zu durchdenken und das Gutachtenergebnis nicht ohne weiteres für bare Münze zu nehmen – zumal wenn es, wie in jenem Fall, gänzlich unseriös, um nicht zu sagen albern ist. Es zeigt sich in vielen weiteren Fällen, von denen beispielhaft noch ein Beschluß des OLG Nürnberg vom 22. Juli 2008 – 2 Ws 299/08 – genannt werden kann (also des Gerichts, das auch über die einstweilige Unterbringung Mollaths entschieden hätte, wenn VRiLG Brixner dessen Beschwerde nicht in wahrscheinlich rechtsbeugerischer Weise unterdrückt hätte – hierzu Wiederaufnahmeantrag Strate, Seite 49, und Stellungnahme der Staatsanwaltschaft, Aktenblatt 256). In diesem Fall – es ging um eine Fortdauerentscheidung nach § 67d StGB – wurde bereits sprachlich klar, wieweit sich Psychiater schon daran gewöhnt haben, daß sie es sind (und nicht das Gericht), die über die rechtlichen Voraussetzungen einer Entlassung zu entscheiden haben. Die ärztliche Stellungnahme endete nämlich so:

Aus unserer Sicht sind die Voraussetzungen für die Aussetzung einer weiteren Vollstreckung der Unterbringung gem. § 67d Abs. 2 StGB nicht gegeben. Eine Erledigterklärung gem. § 67d Abs. 2 n.F. StGB wurde von uns nicht veranlasst. Eine Entlassung von Herrn R. kann aus unserer Sicht derzeit nicht zugestimmt werden.

Eine solche „Zustimmung“ sieht das Gesetz natürlich nicht vor, aber der Fall ist nicht allein wegen dieser Formulierungen aufschlußreich, sondern wegen des Inhalts der fachärztlichen Stellungnahme an sich: Es fiel erst dem Oberlandesgericht auf, daß der zitierte ablehnende „Entscheidungsvorschlag“ des Gutachtens durch dessen Inhalt gar nicht gedeckt war, sondern umgekehrt die konkrete Beschreibung der Entwicklung des Untergebrachten positiv im Hinblick auf eine Entlassung war. Ob hier wohl ein Textbaustein über das Schicksal des Betroffenen entschieden hatte?

Es zeigt sich hier wie dort, daß der Hang psychiatrischer Gutachter zur Beliebigkeit eine Einbruchstelle in die Qualität rechtlicher Entscheidungen ist. Und da diese Beobachtung eine symptomatische ist, lohnt es sich, ihr einen Namen zu geben. Ein Vorschlag wäre: „Wörthmüller-Effekt“.

Nachtrag vom 17. April 2013

Herr Wörthmüller hat mir nach Veröffentlichung dieses Beitrags eine ausführliche Stellungnahme geschickt. Aufgrund seiner Hinweise habe ich einen Fehler im Text korrigiert und eine verkürzte Darstellung erweitert, nämlich: Die ursprüngliche Darstellung, daß der hinzugerufene Anwalt Mollaths selbst an den Besprechungen zwischen Wörthmüller und Mollath teilgenommen habe, traf nicht zu. Die zitierte Stelle aus dem Wiederaufnahmeantrag, an dem von „Gefälligkeitsgutachten“ die Rede ist, erlaubt mehrere Deutungen. Um die Darstellung in diesem Punkt nicht auf eine Deutung zu verengen, habe ich zwei Sätze eingefügt.

Herr Wörthmüller legt darüber hinaus Wert auf folgende Feststellungen:

Allein auf den zeitlichen Ablauf (Beschleunigung der Abwicklung), nicht auf den Inhalt der Begutachtung, bezog sich mein „Angebot“ an Herrn Mollath. So ist auch meine zitierte Aussage bei der Staatsanwaltschaft zu verstehen („Wenn Herr Mollath das als ‘Gefälligkeitsgutachten’ ansieht, so mag das aus seiner Sicht nicht ganz abwegig sein.“).
 
Wie man darauf kommen kann, dass Herr Mollath von mir einen Nachweis erhalten hätte, dass „bei ihm keine psychische Störung vorliege“, ist für mich nicht nachvollziehbar. Schließlich war es ja gerade der Umstand, dass ich mir nach dem Aufeinandertreffen mit ihm im privaten Umfeld und unter dem Eindruck von Berichten meines Nachbarn bereits eine andere Meinung gebildet (und geäußert) hatte, ein wesentlicher Grund dafür, dass ich Bedenken bezüglich meiner Unbefangenheit entwickelte, die ich letztlich nicht unberücksichtigt lassen konnte.

Ich möchte bei dieser Gelegenheit klarstellen, daß die Kritik an Herrn Wörthmüller in meinem Beitrag sich nur auf das geschilderte Geschehen bezieht (Angebot an Herrn Mollath). Davon ausgehend leite ich in meiner Argumentation („Beliebigkeit“) über auf die Psychiatrie als ganze. Eine Aussage über die Gutachtenpraxis von Herrn Wörthmüller ist damit nicht verbunden; sie wäre mir auch nicht möglich (Herr Wörthmüller hat im Fall Mollath gerade kein Gutachten erstellt).

Zitiervorschlag für diesen Beitrag:
https://blog.delegibus.com/3261

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