De legibus-Blog

1. Juli 2012

Die Idee mit dem Beschneidungsverbot

Oliver García

„Nichts ist so stark wie eine Idee, deren Zeit gekommen ist.“ Die neueste Idee, auf die dies zuzutreffen scheint, ist, daß die medizinisch nicht indizierte Beschneidung von Jungen eine strafbare Körperverletzung sei. Jahrhundertelang wußte man es nicht, aber das Landgericht Köln hat es nun herausgefunden (LG Köln, Urteil vom 7. Mai 2012 – 151 Ns 169/11). Man war ja so ahnungslos.

Die Beschneidung ist ein fester, identitätsstiftender Bestandteil des Islams und des Judentums. Da das Judentum bis 1933 ein fester Bestandteil Deutschlands war, „gehörte“ die Beschneidung zu Deutschland. Weder für das damals geltende Reichsstrafgesetzbuch (das mit dem heutigen StGB identisch ist) noch für seine Vorgängergesetze in den deutschen Staaten ist jemand auf die Idee gekommen, eine Beschneidung könnte eine strafbare Handlung sein. Die Nationalsozialisten ihrerseits haben eine besondere Genugtuung darin gefunden, mit einer Kaskade von gesetzgeberischen Diskriminierungsmaßnahmen über die Jahre hin den Juden in Deutschland das Leben zur Hölle zu machen. Aber nicht einmal ihnen ist es eingefallen, die Beschneidung als Körperverletzung zu verfolgen (obwohl die Möglichkeit mit Händen greifbar war). Dies war dem LG Köln im Jahre 2012 vorbehalten.

Daß die Idee stark ist, zeigt sich gar nicht einmal so sehr darin, daß sie es geschafft hat, Grundlage eines Gerichtsurteils zu werden. Es gibt so viele Richter und Gerichte, daß es fast eine Frage der statistischen Gleichverteilung ist, bis jede Idee – schwache oder starke – einmal dran ist. Es ist vielmehr die überwältigende öffentliche Resonanz – pro und contra -, die keinen Zweifel daran läßt, daß es hier um mehr geht als um eine x-beliebige Auslegungsfrage.

Es mußten zwei gegenwärtig starke, eigentlich voneinander unabhängige Strömungen des Zeitgeistes zusammenfinden, gewissermaßen ein Zweckbündnis schließen, um der neuen Idee zur Reife zu verhelfen: Auf der einen Seite die immer mehr platzgreifende Tendenz zur Islamphobie in ihren verschiedenen Schattierungen (gemäß der Bandbreite des Wortes „Phobie“ von „Angst“ über „Abneigung“ zu „Feindlichkeit“). Die Abwehr- und Ausgrenzungsreflexe sind längst keine Sache allein der Stammtische und Internetforen (und Leseranmerkungen) mehr, sondern werden bereits als politisch akzeptabel angesehen (siehe nur jüngst die Aufforderung des niedersächsischen Innenministers an Arbeitgeber, ihre muslimischen Arbeitnehmer besonders zu überwachen).

Während es aber wohl noch eine Mehrheit gibt, der die Islamfeinde dann doch zu dumpf und nicht geheuer sind, hat es eine andere Abneigung zur Gesellschaftsfähigkeit gebracht: Religion und Religiosität selbst haben keinen guten Stand mehr in Deutschland. Die Mehrheit hat den Gottesglauben abgelegt und nicht wenige Meinungsstarke in dieser Mehrheit sehen es als Postulat der Aufklärung, zur Religion in Opposition zu gehen und, je nach Naturell, gegen den Glauben Dritter eine spöttische oder gehässige Haltung einzunehmen.

Damit behaupte ich nicht, daß die drei Richter am LG Köln, die das Beschneidungsurteil gefällt haben, – ein Justizbediensteter und zwei Postbedienstete – sich selbst von Islamphobie oder Religionsphobie haben leiten lassen. Weder sie noch die Fackelträger in der Wissenschaft, die ihnen vorgearbeitet haben, müssen selbst diesen Positionen anhängen, um zu einem von ihnen beeinflußten Auslegungsergebnis zu kommen. Eine solche Beeinflussung ist vielmehr ganz natürlich, wenn die Rechtsanwendung es erfordert, soziale Anschauungen mitzuwerten. Juristen kommen oft an Stellen, an denen es gilt abzuwägen. Und beim Tatbestand der Körperverletzung (§ 223 StGB) gibt es mehrere dieser Stellen. Da spielt einmal die „Sozialadäquanz“ eine Rolle, ein andermal die „guten Sitten“ (§ 228 StGB). Wenn bei der Abwägung die Waagschale, die den Respekt vor der Religion aufnimmt, aufgrund geänderter Zeiten ein geringeres Gewicht hat, senkt sich die Waage nun einmal notwendig in die andere Richtung. Der BGH machte es vor, als er vor einigen Jahren entschied, daß „sexuell motivierte Körperverletzungen“ aufgrund „gewandelter Moralauffassungen“ nicht mehr per se als sittenwidrig anzusehen seien (BGH, Urteil vom 26. Mai 2004 – 2 StR 505/03). Wenn demgegenüber die Religion nicht mehr hoch im Kurs ist, die islamische schon gar nicht, so ist es natürlich, daß sich bei der Abwägung der körperlichen Unversehrtheit eines Kindes einerseits und der Religionsausübung und des Erziehungsrechts der Eltern andererseits die Gewichte in die umgekehrte Richtung verschieben.

Allerdings: Gewandelte soziale Anschauungen dürfen nicht „ungebremst“ in die Abwägung übernommen werden. Einen Vorrang vor diesen „weichen“ Kriterien hat die „harte“ normative Lage. Natürlich meine ich die Verfassungsordnung. Aber ich meine nicht lediglich die schon genannten Rechtspositionen in ihren besonderen Eigenschaften als Grundrechte. Diese Höherstufung ändert an sich nichts am Abwägungsvorgang. Worauf es hier ankommt: Das Grundgesetz und die Verfassungen der deutschen Länder gehen darüber hinaus, bloß die Religionsfreiheit unter Schutz zu stellen. Religion wird in der geltenden Verfassungsordnung nicht als eine Art Aberglaube behandelt, der großzügig, vielleicht auch etwas mitleidig, toleriert wird, wie so manches, das unter die Glaubens- und Gewissensfreiheit des Art. 4 GG fällt. Die Verfassungsordnung ist vielmehr objektiv-rechtlich selbst religionsbejahend, wie etwa aus Art. 7 Abs. 3 Satz 1 GG klar wird („Der Religionsunterricht ist in den öffentlichen Schulen mit Ausnahme der bekenntnisfreien Schulen ordentliches Lehrfach.“; noch deutlicher etwa Art. 12 Abs. 1 Verf BW: „Die Jugend ist in Ehrfurcht vor Gott, im Geiste der christlichen Nächstenliebe […] zu erziehen.“). Dies mag von vielen als nicht mehr zeitangemessen angesehen werden, doch haben geänderte gesellschaftliche Anschauungen als solche keine verfassungsändernde Kraft. Ebensowenig können sie, insoweit als sie von den verfassungsrechtlichen Wertungen abweichen, in Abwägungsentscheidungen einfließen.

Die Befürchtung, daß der antireligiöse Zeitgeist in die vom LG Köln angestellte Abwägung eingeflossen ist, ist der Grund, warum – für manche vielleicht überraschend – auch die Kirchen die Entscheidung kritisieren. Es geht ihnen nicht (nur) um altruistische Solidarität mit den Muslimen und Juden, sondern sie ahnen, daß die Ausrufung eines Beschneidungsverbots mit einer offiziell verkündeten Zurückstufung der Religion Hand in Hand geht.

Woran läßt sich aber nun die Mißachtung der objektiv-rechtlichen Religionsfreundlichkeit der Verfassung durch das LG Köln festmachen? Die „Beeinflussung durch den Zeitgeist“ ist ja eine Diagnose auf dem Gebiet des Atmosphärischen, nicht Beweisbaren. Konkret irrt das Gericht, wenn es in seiner Abwägung maßgeblich darauf abhebt, das Interesse des Kindes zu schützen, „später selbst über seine Religionszugehörigkeit [zu] entscheiden“. Daraus spricht die Vorstellung, Religion sei eine bedenkliche Angelegenheit, von der die kindliche Entwicklung zunächst möglichst freigehalten werden müsse. Der Staat müsse sich hier schützend vor das Kind stellen, so wie er es vor vorzeitigem Tabak- und Alkoholkonsum und andere Rauschmittel bewahrt. Ist nicht bekanntlich die Religion Opium des Volkes bzw. für das Volk?

Die Verfassung kennt kein religiöses Abwehrrecht des jungen Kindes gegenüber seinen Eltern. Im Gegenteil, sie geht von dem „natürlichen Recht der Eltern“ (Art. 6 Abs. 2 GG) aus, ihre Religion an die Kinder weiterzugeben (Art. 7 Abs. 2 GG: „Die Erziehungsberechtigten haben das Recht, über die Teilnahme des Kindes am Religionsunterricht zu bestimmen.“; siehe auch Art. 2 MRK-ZP: „[…] das Recht der Eltern zu achten, die Erziehung und den Unterricht entsprechend ihren eigenen religiösen und weltanschaulichen Überzeugungen sicherzustellen.“). Das bedeutet natürlich nicht, daß die Religionsfreiheit den Eltern das Recht zu jeglichem körperlichen Zugriff auf ihre Kindern gäbe. Es bedeutet aber, daß im Rahmen der erforderlichen Abwägung der Gedanke eines „religiösen Freihaltebedürfnisses“ unzulässig ist. Das religiös beeinflußte Kind als Opfer eines Eingriffs in seine negative Religionsfreiheit gibt es von Verfassungs wegen nicht.

Die Entscheidung des LG Köln verstößt aber nicht nur mit diesem Abwägungsfehler gegen die Verfassung, sondern auch aus einem weiteren Grund. Kürzlich erst hat der Große Strafsenat des Bundesgerichtshofs daran erinnert, daß ein neues (tatsächliches oder vermeintliches) Strafbedürfnis nicht aufgrund von Normen erfüllt werden kann, die nie dafür gedacht und darauf ausgerichtet waren (BGH, Beschluß vom 29. März 2012 – GSSt 2/11, Rn. 46). Die Fortentwicklung des Rechts aufgrund geänderter Anschauungen ist, soweit sie strafbegründend sein soll, dem Gesetzgeber, nicht den Gerichten anvertraut. Art. 103 Abs. 2 GG stellt nicht nur ein Rückwirkungsverbot und ein Schriftlichkeitsgebot auf, sondern auch ein materielles Bestimmtheitsgebot („lex certa“). Ein Verhalten, das über Jahrhunderte niemals als von einem, wenn auch weit gefaßten, Straftatbestand erfaßt angesehen wurde (und es sei es auch gewohnheitsrechtlich aufgrund einer nun überholten Gewichtung religiöser Belange), kann diesem nicht von einem Gericht unterstellt werden. Es ist der Gesetzgeber, der die Gesichtspunkte, die über die Strafwürdigkeit entscheiden (soweit sie verfassungsrechtlich zulässig sind, siehe oben), abwägen muß.

Daß allein der Gesetzgeber dazu berufen ist, über die Idee mit dem Beschneidungsverbot zu entscheiden, ergibt sich nicht nur aus dem allgemeinen strafrechtlichen Bestimmtheitsgebot, sondern auch – und vielleicht mehr noch sogar – aus der vom Bundesverfassungsgericht entwickelten „Wesentlichkeitstheorie“. Nach dieser sind Entscheidungen in besonders grundrechtssensiblen Bereichen nicht von der Verwaltung oder den Gerichten aufgrund von „Generalklauseln“ (sei es verwaltungsrechtlicher, zivilrechtlicher oder gar strafrechtlicher Art) zu treffen, sondern der Gesetzgeber ist aufgefordert, die ggf. erforderliche Einschränkung von grundrechtlichen Freiheiten und den Ausgleich zwischen kollidierenden Grundrechten vorzunehmen (siehe zum Erfordernis eines Parlamentsgesetzes für das Verbot des Tragens eines islamischen Kopftuches durch eine Lehrerin: BVerfG, Urteil vom 24. September 2003 – 2 BvR 1436/02). Und was wäre grundrechtssensibler als die Bestrafung wegen des Abschneidens einer Vorhaut?

Nachtrag vom 8. Juli 2012

Im beck-block hat sich Prof. Dr. Henning Ernst Müller zur hier vertretenen Meinung geäußert, mit weiterer Diskussion (insbesondere Beiträge Nr. 6/9, 6/18, 6/21 und 7/6).

Nachtrag vom 24. August 2012

Jade bringt in einem Kommentar auf ideasoneurope.eu eine treffende, bemerkenswerte Zusammenfassung der hiesigen Argumentation, ergänzt um weitere Überlegungen (englisch).

Zitiervorschlag für diesen Beitrag:
https://blog.delegibus.com/2323

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  1. […] genommen ja schon unangenehm genug ist. Methoden und Auslegungsgeschichte wurden in dieser Debatte selten reflektiert, vielleicht weil es an Universitäten und Examensrepetitiorien nicht auf der Tagesordnung […]

    Pingback von Fachliteratur jenseits der Kommentare: Methoden (für erwachsene Juristen und solche, die es werden wollen) — 19. Oktober 2012 @ 10:46