De legibus-Blog

9. Oktober 2011

Fahrerflucht als Auffangtatbestand für das gesunde Volksempfinden

Oliver García

§ 142 StGB („Unerlaubtes Entfernen vom Unfallort“) ist ein eigenartiger Straftatbestand. Die „Fahrerflucht“ (die frühere gesetzliche Überschrift war „Verkehrsunfallflucht“) begleitet der Ruch des besonders Verwerflichen, Niederträchtigen und löst oft eine soziale Empörung aus, auf die andere Tatbestände nur neidisch sein können. Tanken ohne zu zahlen oder Ladendiebstahl sehen daneben wie Kavaliersdelikte aus. Die wenigsten Nichtjuristen wissen, was eigentlich der Strafgrund des § 142 StGB ist. Der Straftatbestand ist ein Vermögensgefährdungsdelikt. Mit seinem geringeren Strafrahmen steht er folgerichtig in der Strafwürdigkeitsskala unterhalb von Vermögensschädigungsdelikten wie dem Betrug und dem Diebstahl. Das Schutzgut des § 142 StGB ist das private Feststellungs- und Beweissicherungsinteresse desjenigen, der bei einem Verkehrsunfall einen Vermögensschaden erlitten hat (BVerfG, Beschluß vom 29. Mai 1963 – 2 BvR 161/63). Es geht darum, der Gefahr zu steuern, daß dieser seine eventuellen Schadenersatzansprüche nicht realisieren kann, weil einfach der Haftpflichtige nicht zu identifizieren ist.

Das Bundesverfassungsgericht hatte in der genannten Entscheidung die Verfassungsmäßigkeit der Norm zu prüfen, weil es sich bei ihr gewissermaßen um einen Fremdkörper handelt. Es wird gemeinhin für mit dem Rechtsstaatsprinzip unvereinbar gehalten, wenn jemand, der (möglicherweise) einen Rechtsverstoß begangen hat, nicht nur wegen dieses Verstoßes belangt wird, sondern auch dafür, daß er sich nicht freiwillig gestellt hat (nemo tenetur se ipsum prodere). Das BVerfG sah in § 142 StGB keinen Verstoß gegen diesen Grundsatz. Oder eine zulässige Durchbrechung. Oder es gibt diesen Grundsatz doch nicht. So ganz klar wird das in seinem Beschluß vom 29. Mai 1963 nicht.

In vielen Ländern, vielleicht sogar den meisten, ist die Fahrerflucht nicht strafbar. Natürlich stellt es die Entscheidung des deutschen Gesetzgebers, – vor dem Hintergrund des erwähnten sozialen Empörungspotentials – einen Pönalisierungsbedarf zu bejahen, nicht in Frage, daß dieser Bedarf in weniger sensibilisierten Weltgegenden (z.B. Österreich) nicht gesehen wird. Doch es hilft bei der Erkenntnis, daß die Fahrerflucht jedenfalls nicht zu dem harten Kern schweren strafbaren Unrechts gehört.

Diese Erkenntnis hätte man sich anläßlich eines derzeit laufenden Strafverfahrens sowohl vom LG Frankfurt/Main, das am 6. Juni 2011 als Berufungsgericht eine Freiheitsstrafe von zwei Jahren und drei Monaten wegen Fahrerflucht verhängt hat (5/5 Ns – 3991 Js 261723/09), als auch von der begleitenden Presseberichterstattung gewünscht.

Der Unfall geschah am 12. Dezember 2009. Ein Autofahrer fährt bei Dunkelheit in verkehrsordnungsmäßiger Weise auf einer innerstädtischen Straße. Plötzlich gerät ein junger Skateboardfahrer auf seine Fahrbahn. Es kommt zum Zusammenstoß. Der Skateboardfahrer wird so schwer verletzt, daß er trotz sofort (von Passanten) eingeleiteter Rettungsmaßnahmen in derselben Nacht stirbt. Der Autofahrer hatte nach dem Zusammenstoß angehalten, war ausgestiegen und hatte sich das auf der Straße liegende Unfallopfer angesehen. Er war dann in seinen Wagen zurückgekehrt und mit zertrümmerter Windschutzscheibe und ausgeschalteten Scheinwerfern in die Nacht davongefahren.

Der Strafrichter am AG Frankfurt/Main verurteilte den Autofahrer am 3. September 2010 zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr auf Bewährung wegen Fahrerflucht (933 Ds – 3991 Js 261723/09). Eine fahrlässige Tötung verneinte er aufgrund der Beweisaufnahme. Eine unterlassene Hilfeleistung war nicht angeklagt worden.

Die Verhandlung vor dem Amtsgericht war von großem Interesse der Öffentlichkeit begleitet, sowohl vor Ort als auch in den Medien. Bei Urteilsverkündung kam es zu Buhrufen. Der Kommentar in der FAZ zu dem schier unglaublich milden Urteil: „Das ist krank“.

Da muß man etwas tun, werden sich die Mitglieder der kleinen Strafkammer beim Landgericht gesagt haben, als sie über die Berufung der Staatsanwaltschaft und der Nebenkläger, der Eltern des Opfers, zu entscheiden hatten. Sie verurteilten den Autofahrer zu einer (nicht mehr zur Bewährung aussetzbaren) Freiheitsstrafe von zwei Jahren und drei Monaten. Die Staatsanwaltschaft hatte ein Jahr und acht Monate gefordert. Auch dieses Urteil stützt sich allein auf das unerlaubte Entfernen vom Unfallort. Wie von der Vorinstanz wurde eine fahrlässige Tötung verneint. Das hatte zuletzt sogar die Nebenklage als Ergebnis der sachverständigen Unfallrekonstruktion akzeptiert. Die Gefängnisstrafe war ein Urteil, mit dem sich die öffentliche Meinung (so z.B. die Niddanixe) anfreunden konnte.

Der Vorsitzende Richter Jürgen Stüber legte in der mündlichen Urteilsbegründung Wert darauf, dem Verdacht entgegenzutreten, daß „das Gericht eine nicht nachweisbare fahrlässige Tötung über das Strafmaß durch die Hintertür wieder habe einführen wollen.“

Wirklich nicht? Eine Strafe im oberen Drittel des bis drei Jahre reichenden Strafrahmens kommt in der Praxis so gut wie nicht vor, jedenfalls nicht in Fällen einer Verurteilung allein wegen Fahrerflucht. Selbst in Fällen, in denen eine solche zusammen mit fahrlässiger Tötung oder gar mit Mord abgeurteilt wird, kommen deutlich mildere Strafen vor (LG Freiburg: Liegenlassen eines überfahrenen Fußgängers – zwei Jahre auf Bewährung für fahrlässige Tötung und Mord durch Unterlassen in Tateinheit mit Fahrerflucht).

Und mag man auch das allgemeine Strafniveau als unangemessen milde ansehen – der Frankfurter Fall ist am wenigsten dazu angetan, das Ruder herumzureißen. Die Ironie des Falles liegt darin, daß das Urteil des LG Frankfurt/Main das, was sowohl vom Kommentator der FAZ als auch vom Vater des Opfers in den Mittelpunkt ihrer Kritik am amtsgerichtlichen Urteil gestellt wurde, nicht etwa „repariert“, sondern in grotesker Weise auf die Spitze treibt: Sie üben – zu Recht – Kritik daran, daß im deutschen Recht die Tendenz besteht, Vermögensdelikte härter zu ahnden als Delikte gegen Leib und Leben. Obwohl die Gesetzgebung dem neuerdings gegensteuert, ist diese Tendenz in der Rechtsprechung weiterhin präsent.

Der Vater des Getöteten mag angesichts der Höhe der vom Landgericht verhängten Strafe mit einer gewissen Genugtuung aus der Berufungsverhandlung herausgekommen sein. Wenn er sich aber Rechenschaft davon ablegen sollte, daß die Strafe – im Einklang mit seinem Antrag – ausschließlich ein Vermögensdelikt ahndet, dann müßte er nach seiner eigenen, zutreffenden Argumentation von den verschobenen Maßstäben das harte Urteil als großes Unrecht anprangern.

In den mittlerweile veröffentlichten schriftlichen Urteilsgründen läßt sich nachlesen, wie die Strafzumessung durch die kleine Strafkammer zustande gekommen ist: Es wird erläutert, daß das Delikt „zwar […] von seiner Genese her in seinem Kern ein Vermögensdelikt“ sei und daß folglich der konkrete Unrechtsgehalt sich an der Höhe des entstandenen Schadens bemesse. In einem weiteren Begründungsschritt überrascht das Gericht aber damit, daß es „notwendigerweise“ einen Blick auf das „verletzte Rechtsgut“ werfen müsse, der „nicht dadurch verstellt werden darf, dass die Schöpfer dieser Gesetzesnorm seinerzeit möglicherweise primär die Wahrung von Ersatzansprüchen materiell Geschädigter beabsichtigten.“

Dieses nun notwendig in den Blick genommene Rechtsgut sei der menschliche Leib und das menschliche Leben. Denn diese genießen nach der deutschen Rechtsordnung den höchsten Schutz. Deshalb sei es „aus rechtssystematischen und rechtslogischen Gründen zwingend“, bei Verletzung dieser höchsten Güter von dem denkbar höchsten Schaden auszugehen. Deshalb sei – wiederum zwingend – hier von einer individuellen Schuld im oberen Bereich auszugehen. Steigerungsmöglichkeiten gäbe es immerhin bei der Verletzung mehrerer Menschen.

Selten findet man ein Urteil, das mit einer solchen Abfolge von rechtslogisch-zwingenden Schlüssen arbeitet, und noch seltener bei der Strafzumessung in einem Strafurteil. Wenn man die Begründung von ihren beschwörenden Elementen entschlackt, kann man ihr insoweit zustimmen, als daß Vermögensinteressen, um deren Schutz es bei § 142 StGB geht, in Fällen von schweren Körperverletzungen typischerweise besonders groß sind. Man denke nur an die akkumulierten Heilbehandlungs- und Pflegekosten eines Unfallopfers, das zum Pflegefall wird. Dazu kommen Vermögenseinbußen im Sinne von § 842 BGB. Kommt das Unfallopfer – gleich oder später – zu Tode, stehen Unterhaltsansprüche im Raum (§ 844 BGB). Wenn, wie hier, eine Unterhaltspflicht fehlt, ist allerdings der potentielle Schaden wieder geringer. Ja – so zynisch ist der Tatbestand. Da es allerdings hinsichtlich der Pflichten des § 142 StGB nur auf eine ex-ante-Sicht ankommt, liegt es nahe, daß im Zweifel der jeweils potentiell ungünstigere Verlauf maßgeblich ist.

Damit läßt sich allemal begründen, daß bei schweren Körperverletzungen eine Fahrerflucht einen deutlich größeren Unrechtsgehalt hat als bei Sachschäden. Aber auch nicht mehr. Das besondere Element des vorliegenden Falles, das Aussteigen, Ansehen und Wiedereinsteigen, woran sowohl das Gericht („hohe menschen- und lebensverachtende Einstellung“) als auch die öffentliche Meinung („Kinder totfahren und sie liegen lassen„) den entscheidenden Anstoß nehmen, ist gemessen am geschützten Rechtsgut ohne Belang. Insoweit ist das Urteil konsequent, wenn es – mehr oder weniger offen contra legem – die Strafzumessung an einem tatbestandsfremden Rechtsgut ausrichtet.

Wäre der Autofahrer ausgestiegen, hätte er sich das Opfer angesehen und wäre wieder eingestiegen ohne loszufahren und hätte er so anscheinend/scheinbar ungerührt den Dingen ihren Lauf gelassen – an der berechtigten moralischen Entrüstung würde sich nichts ändern. Doch eine Verurteilung wegen Fahrerflucht würde dann von vornherein nicht in Betracht kommen.

Wahrscheinlich hat Richter Stüber nicht geflunkert, als er behauptete, die Verurteilung sei keine verdeckte Ahndung einer nicht bewiesenen (und sogar unwahrscheinlichen) fahrlässigen Tötung. Was aber die Verurteilung wirklich ist, und zwar nach ihrer eigenen Begründung, findet im Gesetz genausowenig eine Stütze: Sie ahndet den nicht vorhandenen Straftatbestand der mangelnden Betroffenheit und fehlenden Mitmenschlichkeit. Nicht der Tötungsgesichtspunkt, sondern dieser Gesichtspunkt ist es, weswegen das Urteil unter falscher Flagge segelt. Daneben verblassen alle übrigen Begründungsfehler, unter anderem der Verstoß gegen das Erfordernis, daß Strafzumessungserwägungen um so eingehender zu sein haben, je knapper die verhängte Strafe eine an sich noch bewährungsfähige Strafe übersteigt (BGH, Urteil vom 23. Oktober 2002 – 5 StR 392/02). Die mittlerweile eingelegte Revision zum OLG Frankfurt dürfte Erfolg haben.

Die vielleicht eigentliche Schuld an dem falschen Urteil trägt die Staatsanwaltschaft: Aus Gründen, die sich jedenfalls nicht aufdrängen, hat sie explizit davon abgesehen, den Aspekt der Tat anzuklagen, der dem Unrechtsgehalt gerecht wird, der nach Meinung der Eltern des Getöteten und der öffentlichen Wahrnehmung (siehe Ratgeber Recht: Unfallflucht – Wenn Hilfe unterlassen wird) im Mittelpunkt steht: § 323c StGB, Unterlassene Hilfeleistung. Und zwar ausgerechnet aufgrund von § 154a StPO, also mit der Begründung, daß dieser Aspekt „nicht beträchtlich ins Gewicht falle“. Einmal mehr: Vermögensschutz verdrängt Lebensschutz. Das Fatale ist, daß die Eltern des Opfers nach bisheriger Rechtsprechung in Bezug auf den Tatbestand des § 323c StGB, bei dem hier die eigentliche Musik spielte, keine Nebenklageberechtigung hatten.

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