De legibus-Blog

12. Mai 2011

Verdinglichte Meinung

Oliver García

Es gibt nichts, was es nicht gibt. Das gilt auch für die Rechtsprechung. Das Amtsgericht Erfurt hat es in einer Entscheidung vom 12. Januar 2011 – 5 C (WEG) 69/09 – wieder bewiesen:

Eine Wohnungseigentümerin liegt im Streit mit dem Bauträger und den übrigen Mitgliedern der Wohnungseigentümergemeinschaft. Mit ersterem, weil er ihr angeblich Pfusch angedreht habe, mit letzterer, weil diese angeblich den Bauträger nicht genügend haftbar mache. Und so brachte die Wohnungseigentümerin in ihren Fenstern Plakate an, in denen sie jedem, den es interessiert, den Mißstand mitteilte:

„[H]ier hinterließ eine […] Bauträger-Mafia als […] Heuschrecke in Betrugsabsicht eine nicht gebrauchsfähige Schrott-Immobilie.“

„Die Eigentümergemeinschaft entließ die Mafia aus der Haftung, steckt aber nun den Kopf in den Sand, will den wirklichen Mängelumfang nicht wissen und nur wenig davon sanieren.“

„Die Bewohner dieses Hauses leben gefährlich!“

Den übrigen Wohnungseigentümern gefiel das nicht. Statt aber gegen die Rechtsverletzung, die sie darin sahen, gerichtlich vorzugehen, verfielen sie auf eine originelle Idee: Sie privatisierten ihren Rechtsschutz und verboten per Mehrheitsbeschluß die Meinungsäußerung. Jede Meinungsäußerung in Fenstern ist davon betroffen, solange die Gemeinschaft nicht etwas anderes beschließt. Nun war die protestierende Eigentümerin am Zug und klagte gegen das Verbot. Und wurde vom Amtsgericht belehrt: Das Verbot ist zulässig.

Das Verbot sei gem. § 15 Abs. 2 WEG gerechtfertigt, da es sich um eine Regelung des ordnungsmäßigen Gebrauchs des Wohnungseigentums handele. Die Meinungsfreiheit der Klägerin (Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG) sei abzuwägen mit dem Eigentumsrecht der übrigen Eigentümer (Art. 14 Abs. 1 GG) und die sorgfältige Abwägung ergebe im vorliegenden Fall, daß letzteres Vorrang habe. Grund:

Auf den Plakaten ist eben nicht eine von der Mehrheit (oder gar Gesamtheit) der Eigentümergemeinschaft getragene Meinungsäußerung dargestellt. Dies ist vielmehr zwischen den Wohnungseigentümern gerichtsbekannt höchst streitig. Infolge dessen liegt ein nicht mehr mit § 14 Nr. 1 WEG in Einklang stehender Gebrauch des Sondereigentums vor, denn den übrigen Miteigentümern erwächst hierdurch ein bei geordnetem Zusammenleben über das unvermeidliche Maß hinausgehender Nachteil: Für außen stehende Dritte entsteht bei unbefangener Betrachtungsweise der Eindruck, die auf den Plakaten zu Tage tretenden Äußerungen seien ohne weiteres objektivierbar und etwaiger Baupfusch etc. hafte dem Objekt unabänderbar an. Dies ist jedoch zwischen den Parteien dieses Prozesses gerade sehr umstritten.

Eine Meinungsäußerung am Gebäude (einschließlich der Innenseite der Fenster der Klägerin) könne deshalb „demokratischen Mehrheitsentscheidungen nach dem Wohnungseigentumsgesetz unterworfen“ werden. Bei einem Interesse an einer Meinungsäußerung müsse der einzelne Eigentümer bei der Gemeinschaft einen Beschluß beantragen und habe, wenn es konkret berechtigt sei, einen Anspruch auf Zustimmung laut einer Öffnungsklausel, die in dem streitgegenständlichen Verbot enthalten sei.

Auf diese Weise schafft es das Amtsgericht, das Grundrecht auf freie Meinungsäußerung einem Verbot mit Befreiungsvorbehalt zu unterstellen und aus einem Individualgrundrecht ein Kollektivgrundrecht zu machen. Der Richter bemerkte nicht, daß er die Rechtmäßigkeit einer generell-abstrakten Regelung (das Verbot einer jeden Meinungsäußerung) mit der konkreten Meinungsäußerung begründete, die Anlaß für den Rechtsstreit war (zu den allgemeinen Regeln für eine Normenkontrolle siehe einen früheren Beitrag).

Das Abwägen zwischen Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG und Art. 14 GG hat in der Rechtsprechung zum Wohnungseigentumsrecht, das Sachenrecht ist, eine lange Tradition. Bislang aber im Wesentlichen nur in Bezug auf das ebenfalls in Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG verankerte Grundrecht auf Informationsfreiheit. Dieses können Wohnungseigentümer (ebenso wie Mieter) für sich in Anspruch nehmen, wenn sie Satellitenfernsehen empfangen wollen (BGH, Beschluß vom 22. Januar 2004 – V ZB 51/03). In diesen Fällen beruft sich die Eigentümergemeinschaft allerdings auf eine tatsächliche oder vermeintliche Verschandelung des baulichen Erscheinungsbildes. Dieser Grundrechtskonflikt ist harmlos im Vergleich zu der Argumentation, die der Erfurter Amtsrichter hier entwickelt hat: Er billigt der Gemeinschaft nicht nur ein Mitspracherecht über das Ob und die Art und Weise der Anbringung von Meinungsäußerungen zu, sondern auch über ihren Inhalt. Das ist ungefähr so, wie wenn sie im Fall Informationsfreiheit/Satellitenfernsehen nicht nur Regeln über die Aufstellung der Parabolantenne erlassen könnten, sondern auch regeln könnte, daß der Eigentümer nur CNN und nicht Al-Dschasira sehen dürfe (oder umgekehrt).

Was die grundlegende Merkwürdigkeit seiner Entscheidung betrifft, so tritt der Amtsrichter allerdings in die großen Fußstapfen des BGH: Auch der I. Zivilsenat des BGH hat in seiner „Schloß Tegel“-Entscheidung vom 20. September 1974 – I ZR 99/73 – die Ausübung immaterieller Rechtspositionen dem Sachenrecht unterstellt. Dort hatte er das Verbreiten von Fotografien eines Gebäudes, die unter Verletzung des Hausrechts zustande gekommen sind, als eine Eigentumsverletzung angesehen (was Unterlassungs- und Schadensersatzansprüche zur Folge hat). Er kam zu diesem Ergebnis offenbar aufgrund einer umfassenden Interessenbewertung, denn aus dem normativen Irrgarten, in den er sich begeben hatte, hat er mit seiner Entscheidungsbegründung ersichtlich argumentativ nicht mehr herausgefunden. Dieser Irrgarten war durch die Eckpunkte § 903 BGB, § 59 UrhG, § 1 UWG und §§ 854 ff. BGB (Hausrecht; dieses steht dem Besitzer, nicht dem Eigentümer zu) abgegrenzt. Mit seiner „Friesenhaus“-Entscheidung vom 9. März 1989 – I ZR 54/87 – hat er später folgerichtig bereits den Rückzug von dieser Rechtsprechung angetreten. Daran, daß seine „Schloß Tegel“-Entscheidung im Ergebnis richtig gewesen sei, hat er allerdings ausdrücklich festgehalten. Wie sie aber normativ begründet werden kann, hat er nicht mehr mitgeteilt.

Daran versuchte sich kürzlich der für das Immobilienrecht zuständige V. Zivilsenat in seinen Entscheidungen vom 17. Dezember 2010 – V ZR 45/10 und V ZR 46/10. Er schloß sich der „Schloß Tegel“-Entscheidung an und bemühte sich um eine grundsätzliche Begründung, warum nicht nur das Fotografieren von Gebäuden gegen den Willen des Eigentümers eine Eigentumsverletzung sei, sondern auch das Verwerten der so entstandenen Werke. Er meint, die „Beeinträchtigung des Eigentums wird durch die ebenfalls ungenehmigte Verwertung der ungenehmigten Abbilder vertieft“ und die Abbilder seien als Früchte nach § 99 Abs. 3 BGB zu bewerten. Warum aber das gerade dann gilt, wenn man die Abbilder innerhalb der Grundstücksgrenze herstellt und nicht einen Meter daneben, vor der Grundstücksgrenze – dafür fehlt nach wie vor eine innere Begründung.

So gesehen haben vielleicht die Wohnungseigentümer im Erfurter Fall ein weiteres Argument: Die Meinungen der schwierigen Mitbewohnerin sind, wenn sie durch die Substanz des Gebäudes nach außen wirken, Früchte des Grundstücks. Und schon deshalb haben sie ein Mitspracherecht, was diese Meinungen betrifft.

Zitiervorschlag für diesen Beitrag:
https://blog.delegibus.com/1091

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