De legibus-Blog

7. Februar 2011

Wendung um 360 Grad beim Bundesarbeitsgericht

Thomas Fuchs

Das Befristungsrecht befindet sich seit der Entscheidung Adeneler des Europäischen Gerichtshofs aus dem Jahr 2006 in einem Prozess grundlegender Umwälzung (siehe nur EuGH, Urteil vom 4. Juli 2006 – C-212/04 – Adeneler; EuGH, Urteil vom 13. September 2007 – C-307/05 – Del Cerro Alonso; EuGH, Urteil vom 23. April 2009 – C-378/07 – Angelidaki). Maßstab dieser Rechtsprechung ist die Rahmenvereinbarung im Anhang der Richtlinie 1999/70/EG. Bei der Auslegung des Teilzeit- und Befristungsgesetzes vom 21. Dezember 2000 durch den dafür zuständigen 7. Senat des Bundesarbeitsgerichts spielte diese Rahmenvereinbarung zunächst keine Rolle. Umso größeres Aufsehen erregten deshalb die beiden im Vorabentscheidungsverfahren nach Art. 267 AEUV getroffenen Beschlüsse des Senats aus dem vierten Quartal des Jahres 2010 (BAG, Beschluss vom 27. Oktober 2010 – 7 AZR 485/09 [A]; BAG, Beschluss vom 17. November 2010 – 7 AZR 443/09 [A]).

Der Beschluss vom 17. November 2010 weist dabei eine seltsame Auffälligkeit auf. In Randnummer 36 heißt es ohne Angabe von Fundstellen, das Bundesarbeitsgericht sei in seiner jüngeren Rechtsprechung davon ausgegangen, dass es bei der Missbrauchskontrolle von Befristungsgründen nicht auf die Anzahl und Dauer der mit einem Arbeitnehmer geschlossenen befristeten Arbeitsverhältnisse ankomme (BAG, Beschluss vom 17. November 2010 – 7 AZR 443/09 [A], jurisRdnr. 36).

In seiner älteren, noch aus der Zeit vor dem Inkrafttreten des Teilzeit- und Befristungsgesetzes stammenden Rechtsprechung wurde denn auch tatsächlich das Gegenteil vertreten (0 Grad: BAG, Urteil vom 30. November 1977 – 5 AZR 561/76, jurisRdnr. 37; BAG, Urteil vom 21. Januar 1987 – 7 AZR 265/85, jurisRdnr. 29; BAG, Urteil vom 15. März 1989 – 7 AZR 397/88, jurisRdnr. 30; BAG, Urteil vom 4. Dezember 1991 – 7 AZR 307/90, jurisRdnr. 25; BAG, Urteil vom 21. April 1993 – 7 AZR 376/92, jurisRdnr. 22; BAG, Urteil vom 22. November 1995 – 7 AZR 252/95, jurisRdnr. 20), und zwar ungeachtet des gleichzeitig eingenommenen Standpunkts, dass es für den sachlichen Grund nur auf die letzte Befristung ankomme (siehe nur BAG, Urteil vom 21. Januar 1987 – 7 AZR 265/85, jurisRdnr. 19):

„Mit zunehmender Dauer der Beschäftigung wächst die Abhängigkeit des Arbeitnehmers. Es wird für ihn schwerer, anderweit Arbeit zu finden. Er ist mehr und mehr auf den Fortbestand seines Arbeitsverhältnisses angewiesen. Deshalb wird mit zunehmend längerer Betriebszugehörigkeit auch der Bestandsschutz eines Arbeitsverhältnisses immer ausgeprägter. Ebenso wächst auch die soziale Verantwortung des Arbeitgebers. Er muss nach langjähriger Beschäftigung bei einer ins Auge gefassten weiteren Befristung besonders sorgfältig prüfen, ob nicht schutzwürdige Interessen des Arbeitnehmers jetzt eine Dauerbeschäftigung gebieten.“

Die Kommentarliteratur ging noch im Jahr 2009 davon aus, dass diese Rechtsprechung auch unter dem Teilzeit- und Befristungsgesetz heranzuziehen sei (zum Beispiel Studt in Klaus Hümmerich†/Winfried Boecken/Franz Josef Düwell, AnwaltKommentar Arbeitsrecht, 2. Auflage 2010, TzBfG § 14 Rdnr. 9). Die „jüngere“ Rechtsprechung, auf die sich das Bundesarbeitsgericht in dem Vorlagebeschluss vom 17. November 2010 beruft, besteht in einer einzigen Entscheidung aus dem Jahr 2009 (180 Grad: BAG, Urteil vom 25. März 2009 – 7 AZR 34/08, jurisRdnr. 25). Weshalb es seine ständige Rechtsprechung von heute auf morgen aufgab, ist dort aber mangels einer Auseinandersetzung damit nicht ersichtlich.

In der Zeit vor dem Teilzeit- und Befristungsgesetz waren die genannten Grundsätze sicherlich nur aus § 242 BGB ableitbar. Ein richterlicher Methodenwechsel kann für das nonchalante Außerachtlassen der darauf fußenden ständigen Rechtsprechung aber nicht verantwortlich sein. Denn der bei unionsrechtskonformer Auslegung des § 14 Abs. 1 TzBfG zu beachtende § 5 Nr. 1 Buchst. a der Rahmenvereinbarung schreibt die Missbrauchskontrolle ausdrücklich vor. Es bestand deshalb von Anfang an Anlass, die bisherigen Grundsätze in diesem Zusammenhang zu thematisieren und zumindest Gründe dafür anzuführen, weshalb daran trotz des Gebots unionsrechtskonformer Auslegung nicht festgehalten werden könne.

Der 7. Senat des Bundesarbeitsgerichts scheint den Fehler, der ihm in seiner „jüngeren“ Rechtsprechung unterlief, inzwischen bemerkt zu haben. Besonders offen geht er damit aber nicht um. Der über die Vorabentscheidung (360 Grad: ebenda) eingeschlagene Weg der Berichtigung kann von misstrauischen Beobachtern auch als Versuch der Verschleierung gewertet werden. Unter dem Gesichtspunkt des Vertrauensschutzes stellt sich die gesamte aufgezeigte Vorgehensweise in dieser Rechtsfrage jedenfalls als äußerst problematisch dar.

Nachtrag vom 17. November 2012

Mit der Entscheidung vom 18. Juli 2012, deren Begründung in dieser Woche bekannt wurde, schließt sich tatsächlich der Kreis. Das Bundesarbeitsgericht ist wieder bei § 242 BGB angelangt. Die Missbrauchskontrolle sei dabei nach den Grundsätzen des institutionellen Rechtsmissbrauchs vorzunehmen (BAG, Urteil vom 18. Juli 2012 – 7 AZR 443/09, lexetiusRdnr. 10, 30, 36—48). Was für ein Irrweg (weiterhin nur gewunden nachgezeichnet insbesondere unter lexetiusRdnr. 12, 20—22)!

Zitiervorschlag für diesen Beitrag:
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